Ziemlich beste

Vorbilder

Tierärztin Tanja Warter

Teamwork bei Wanderameisen oder basisdemokratische Entscheidungen bei Honigbienen: Kollektive Intelligenz fasziniert und verblüfft. Können wir Menschen vom Verhalten scheinbar einfacher Tiere etwas lernen?

In der vorigen Ausgabe des Vetjournals berichteten wir darüber, wie Tiere in Gruppen kluge und für die Gemeinschaft gute Entscheidungen treffen. Selbst Mitgeschöpfe, denen wir individuell keine großartigen kognitiven ­Fähigkeiten attestieren würden, agieren in einem ­System, in dem sich viele kleine und einfache Einzelentscheidungen zu einem großen Ganzen zusammenfügen, auffallend gescheit; Weberameisen und Honigbienen waren ­Beispiele dafür. Stellt sich die Frage: Kann dieses ­Wissen für uns Menschen nützlich sein? Ein Gespräch mit Iain Couzin, einem der Pioniere in der Erforschung von ­Kollektivverhalten.

Herr Professor Couzin, bevor wir uns an das komplexe soziale Miteinander wagen: Welche praktischen Anwendungen gibt es bereits, bei der wir Menschen die rasche und zielgerichtete Kommunikation einfacher Tiere nachahmen?
Nehmen wir dieses Beispiel: Ameisen nutzen möglichst kurze Wege, um zum Ziel zu gelangen; Umwege vermeiden sie nach Möglichkeit. Sie erzählen sich untereinander aber nichts von ihren Abkürzungen, sondern hinterlassen chemische Botschaften für andere Ameisen, die später kommen. Die Entdeckung dieser Optimierung inspirierte ein System, das man Ameisenalgorithmus nennt. Es wird in Netzwerken von Telefonanbietern oder im Internet­traffic genutzt. Kleine Programme, die Spuren hinter­lassen und mit anderen kommunizieren, erlauben es uns, die effizientesten Übertragungswege zu finden.

Aber wir nutzen keine chemischen Botenstoffe, unsere Spuren bestehen aus Daten …
… und die benötigen jede Menge Energie. Das ist unsere Herausforderung. In der Robotik gehört Kommunikation zu den teuersten Faktoren, denn man braucht wirklich viel Energie, um eine Information über eine große Distanz zu schicken. Wir Menschen haben großartige Apparate entwickelt, aber Energieeffizienz gehört nicht zu unseren Stärken. Denken Sie nur an Computer: Sie wurden exponentiell schneller und besser. Bei Batterien und Akkus sind die Fortschritte geringer und die Verbesserung höchstens linear, aber keinesfalls exponentiell. Im Alltag müssen wir also immer Energie einsparen. Auch dafür gilt: Wenn man jene Algorithmen anwendet, die Tiere nutzen, kann das zu bedeutenden Energieeinsparungen beitragen.

Zum Beispiel?
Wenn man eine Gruppe von Robotern aufeinander abstimmen möchte, muss man dafür ein kompliziertes Softwareprogramm schreiben. Das funktioniert, ist aber wie gesagt eine wirklich komplizierte Sache. Man kann aber auch – wir arbeiten gerade an einer Publikation dazu – die Regeln nehmen, nach denen Fische im Schwarm leben, und Roboter damit füttern. Es stellt sich heraus, dass die Regeln, die die Natur hervorgebracht hat, im Vergleich zu den menschengemachten ­Regeln, um Roboter zu koordinieren, unglaublich simpel sind. Wir können die Einfachheit und den deswegen sehr geringen Energieaufwand nutzbar machen.

Apropos Fische: Wenn ein Fisch ganz hinten im Schwarm eine Information über Futter hat, wird dieses Wissen unter allen verbreitet. Lehrt uns das kollektive Gehirn, dass wir dezentrale Organisationsstrukturen brauchen?
Dezentralisation ist wichtig, denn sie gibt Robustheit. Möglich, dass es mitunter etwas länger dauert, bis ein Problem gelöst ist – darum ist es vielleicht gut, sich an einen einzelnen Spezialisten zu wenden, wenn man nur ein einziges Problem rasch zu lösen hat. Aber wenn man viele Schwierigkeiten überwinden muss, ist Dezentralisierung vorteilhaft.    

Wie holt man zum Beispiel in einer Organisation oder Firma das Beste aus allen Einzelnen heraus?
Wir fangen gerade mit der Forschung dazu an und wissen bisher: Große Gruppen wie Mitarbeitern in Firmen oder auch Tiere können sehr gut in ihren Entscheidungen werden, wenn sie in kleineren Untergruppen starke Verbindungen zueinander pflegen. Die kleineren Untergruppen sind es, die optimale Ergebnisse hervorbringen.

Aber warum?
Kleinere Gruppen sind experimentierfreudiger. Zu den Gründen, warum sie bessere Entscheidungen treffen, gehören Fehler und Störungen. Sie gehen nicht sofort in die augenscheinlich beste Richtung, sondern erkunden und entdecken verschiedene Optionen. Entscheidungen, die von den kleinen Gruppen ausgehen, können sich viel schneller an veränderte Umweltbedingungen anpassen und sind enorm flexibel. Zu große Firmen oder Gruppen sind nicht manövrierfähig, wenn sich die Welt verändert. Viele stecken deswegen in der Vergangenheit fest. Wenn man sich einen Vogelschwarm denkt, muss der robust genug sein, um mit Winden zurechtzukommen, bei Fischschwärmen sind es Strömungen und Wirbel. Aber sie müssen trotzdem so flexibel sein, dass sie einem Fressfeind schnell ausweichen können. Widerstands- und anpassungsfähig zugleich: Das ist das Großartige, was die Natur erreicht hat und worin wir noch ziemlich schlecht sind.

Dann fragt man sich natürlich: Welche Gruppengröße ist am besten, um gute Entscheidungen zu treffen?
Ist es nicht verrückt, dass wir das heute noch immer nicht mit absoluter Sicherheit wissen? Wir gehen derzeit davon aus, dass Gruppen mit höchstens 15, 20 Personen die optimalen Entscheidungen treffen. Mehr sollten es nicht sein. Zusätzlich ist interessant, dass für hervorragende Ergebnisse einer Gruppe nicht relevant ist, ob alle einen besonders hohen IQ haben – überwiegend durchschnittliche IQs sind aber auch nicht für tolle Gruppenresultate entscheidend. Was tatsächlich mit einem guten Ergebnis korreliert, ist eine egalitäre und gleichberechtigte Kommunikation. Und die hängt wiederum stark zusammen mit der Anzahl von Frauen in einer Gruppe. Typischerweise sind die Entscheidungen immer besser, je mehr Frauen in einer Gruppe sind. Männer dominieren einfach zu gern.

Von einfachen Tieren wissen wir, dass nicht sehr intelligente Wesen in der Gruppe sehr intelligent agieren können und es auch tun. Warum sind sehr intelligente Wesen wie wir Menschen in der Gruppe tendenziell schlecht?
Diesbezüglich sind wir wirklich eine Ausnahmeerscheinung. Wir wissen, was wir gegen den Klimawandel tun sollten, aber wir machen es nicht. Wir sind evolutionär nicht für große Gruppen gebaut, weil wir uns in kleinen Gruppen entwickelt haben. Wir sind gut darin, verbal zu kommunizieren, über Gesang, Kunst und Schrift – lauter sich langsam verbreitende Formen der Kommunikation. Wenn man nur Infos aus seinem lokalen Umfeld hat, mag das für den Einzelnen wie eine Einschränkung wirken, in der Gruppe aber ist es gut, denn jedes Individuum hat anderes Wissen. Bündelt man die diversen Informationen, kann ein sehr smartes Ergebnis herauskommen. Entscheidend ist die Diversität des Wissens.

Haben wir die etwa nicht?   
Was wir haben, sind Medien; TV, Radio, Internet. Dadurch verfügt eine große Anzahl von Menschen über dieselbe Information. Das reduziert die Diversität und verschlechtert die Fähigkeit der Gruppe, im Kollektiv intelligent zu agieren. Dazu untersuchen wir auch Social Media. Unsere bisherigen Arbeiten stehen dem sehr kritisch gegenüber. Ich bin da sogar ernsthaft besorgt um die Menschen. Schauen Sie sich an, was in Russland passiert. Wer absichtlich die Vielfalt der Informationen reduziert, verstärkt die Konformität und reduziert Meinungsvielfalt. Das kann buchstäblich zum Dritten Weltkrieg führen. Putin ist sich völlig bewusst, wie man eine große Gruppe manipuliert. Das ist ein Beispiel, wie kollektives Verhalten durch Konformität katastrophal falsch laufen kann.

Aber Tiere in Gruppen machen auch Fehler – Wale stranden, Vogelschwärme kollidieren …
Stimmt, auch in der Natur kann Schwarmverhalten in seltenen Fällen schiefgehen. Aber deswegen ist nicht gleich die gesamte Population in Gefahr. Beim Menschen, egal, ob durch Krieg oder Klimawandel, sind alle bedroht.

Zur Person:
Iain Couzin, geboren 1974 in Edinburgh, ist Professor für Biodiversität und Kollektivverhalten an der Universität Konstanz in Deutschland, Sprecher des Exzellenzclusters Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour
und Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie. Für seine Forschungen wurde er im Mai 2022 mit dem mit 2,5 Millionen Euro dotierten Leibniz-Preis ausgezeichnet.

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Tierärztin Tanja Warter
ISBN 978-3-200-08145-1
https://docwarter.com/produkt/how-to-hund


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