Die Weisheit

der Vielen

Tierärztin Tanja Warter

Egal, ob man sich Stare, Heringe oder Ameisen vorstellt: Wie Tiere im Team leben und arbeiten, scheint vorbildlich für uns Menschen. An der Universität Konstanz gibt es ein weltweit führendes Forschungszentrum, das sich mit kollek­ti­vem Verhalten be­fasst. Ein Besuch.

Die Universität Konstanz liegt weit draußen im Grünen, zur berühmten Bodenseeinsel Mainau ist es ein Katzensprung. Es ist nicht ganz einfach, sich zu orientieren; ein System aus Buchstaben-und-Zahlen-Kombinationen leitet den unkundigen Gast an das Ende verschiedener Bauzäune zwischen Waschbetonfassaden. Vieles scheint im Um- und Aufbruch, wenn man aber das Gebäude „Z“ vor Augen hat, weiß man gleich: Das muss es sein, das Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour; 3.000 Quadratmeter Forschungsfläche verteilt über acht Etagen, eröffnet 2021. Im Keller gibt es einen riesigen „Imaging Hangar“, in dem schon bald von Heuschrecken bis hin zu Fischen verschiedenste Tierarten, die in Gruppen leben, mit Kameras verfolgt und ihre Verhaltensmuster aufgezeichnet werden. Gleich nebenan gibt es den Hangar nochmals im Kleinformat – hier werden Bewegungs­muster junger Zebrafischlarven oder Spinnen für Forschungs­zwecke aufgezeichnet. In den oberen Etagen gibt es Büros für knapp 100 Mitarbeiter und Forschende, außerdem ­Hörsäle, Computerrechenanlagen, Softwaretechnik und was man sonst noch alles benötigt, um in Schwärmen lebende Tiere untersuchen zu können.

Dies ist der Arbeitsplatz des aus Schottland stammenden Verhaltensbiologen Iain Couzin, der zu den einflussreichsten und meistzitierten Wissenschaftlern unserer Zeit gehört. Er ist Professor für Biodiversität und Kollektiv­verhalten an der Universität Konstanz, Sprecher des Exzellenzclusters, Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie, Leibniz-Preisträger des Jahres 2022 und ein Pionier in der Erforschung von Gruppen, egal ob Insekten, Fische, Vögel, Affen oder auch Menschen. Sein Büro liegt im zweiten Stock und hat bodentiefe Fenster, durch die man nur Bäume sieht. „Noch nie im Leben hatte ich so einen schönen Arbeitsplatz“, gerät Couzin seinem Fach gemäß auch darüber ins Schwärmen.

Der Schotte – Jahrgang 1974, schwarze Brille, schwarzes T-Shirt mit Fischen, kurze Hose – ist von Gruppen­verhalten begeistert, seit er denken kann. „Kollektives Verhalten gibt es ständig überall um uns herum. Wir sehen Vogelschwärme, Fischschwärme, Ameisen, und auch wir selbst leben ja in einer Gesellschaft. Starkes Sozialverhalten ist absolut vorherrschend in der Welt. Dennoch lag der Fokus bislang beinahe exklusiv auf den Einzeltieren. Ein Hering, der länger von seinem Schwarm getrennt ist, stirbt – und zwar an Stress. Ratten oder Tauben sind supersozial, das gilt auch für Fruchtfliegen, Zebrafische oder uns Menschen. Sogar die unsozialste Katze kommu­niziert mit anderen über Duftmarken. Der Kontext, in dem ­Tiere – einschließlich des Menschen – leben, wurde nie genau untersucht. Eigentlich seltsam, denn kollektives Miteinander ist überlebenswichtig“, sagt der Forscher.

Wir unterhalten uns über Insekten – mit ihnen begann Couzin seine Forschungen und man wird das Gefühl nicht los, dass sie ihm besonders am Herzen liegen. Sind Ameisen­haufen nun diese friedlichen, harmonischen Gesellschaften, die wir uns vorstellen? „Natürlich gibt es bei einigen Arten auch Konflikte“, räumt er ein. So gebe es eine Art, bei der jede Arbeiterin über das Potenzial verfüge, sich bei Ausfall der Königin zu reproduzieren und damit selbst Königin zu werden. Couzin: „Voraussetzung dafür sind bestimmte Drüsen am Hinterleib. Die Weibchen versuchen in heftigen Kämpfen, die Drüsen der Gegner­innen zu zerstören, um selbst zum Zug zu kommen.“ Es gehe mitunter recht kriegerisch zu bei Ameisen, doch die ­Idylle des Gemeinsamen trügt nicht gänzlich. „Es gibt auch Arten, die nicht aggressiv sind und hochsozial leben. Das führt uns zu den sonderbaren Verwandtschaftsverhält­nissen unter Ameisen: Sie sind haplodiploid und darum enger mit ihren Schwestern verwandt als mit ihrem ei­genen Nachwuchs. Dadurch fehlt ihnen der evolutionäre Anreiz zur Reproduktion. Ein wichtiger Punkt, warum diese Gruppen eher zu mehr Harmonie neigen.“

Vor allem staunen wir Menschen bei Ameisen über die Gabe, gemeinsame Kraftanstrengungen und Teamwork zu leisten. Exemplarisch greifen wir im Gespräch die Wander­ameisen heraus. „Wanderameisen“ – und wieder gerät Couzin ins Schwärmen – „sind ein wunderbares Beispiel dafür, wie durchdacht und klug sehr einfache Tiere agieren können, wenn sie dies im Kollektiv tun. Als bemerkenswerte Baumeisterinnen haken sie sich mit speziellen Tarsalklauen zusammen. Sie bauen Nester aus ihren eigenen Körpern. Wir haben eineinhalb Meter hohe Mauern gefunden, die nur aus Wanderameisen bestehen, die sich zusammenhaken. Und noch mehr: Sie können aus ihren Körpern auch Brücken bilden, um Lücken auf ihrem Weg zu schließen. Wanderameisen, die obendrein noch blind sind, zählen für mich zu den Wundern dieser Welt.“

Erkenntnisse wie diese sind fraglos faszinierend. Sie finden auch in anderen Disziplinen großen Anklang und regen die Fantasie an. Eine Brücke, die nur da ist, wenn man sie braucht, und die danach wieder verschwindet – das wäre doch was! Es gibt zahllose Beispiele für schlaue Lösungen kleiner Lebewesen, von denen Techniker, Robotik-­Spezialisten oder Architekten (noch) träumen. Couzin aber hat das Miteinander im Visier.

Honigbienen beispielsweise treffen nach dem Ausschwärmen die Wahl für ein neues geeignetes Nest im Team. Gibt es 20 oder 30 Möglichkeiten, führt jede einzelne ­Biene dort ihren Schwänzeltanz am intensivsten durch, wo sie es als angenehm empfindet. Neue ­Studienergebnisse zeigen: Das Kollektiv entscheidet sich auf Basis dieser Einzelinformationen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit für ein Nest von exzellenter Qualität. Bei Fischen gibt es ein ähnlich gleichberechtigtes System, in das jedes Individuum wichtige Informationen einbringen kann. Couzin: „Wo es den Tieren gut geht, weil sie beispielsweise Futter finden, bewegen sie sich langsamer; wo die Umgebung schlecht ist, bewegen sie sich schneller. Das ist das Grundprinzip.“ Man könne sich vorstellen, die Tiere innerhalb einer kleinen Nachbarschaft (er nennt sie Clique) seien mit elas­tischen Bändern verbunden. „Dann bringt ein Fisch, der langsamer wird, auch einen Nachbarfisch dazu, sich ein­zubremsen und sich in seine Richtung zu begeben.“

Diese elastischen Verbindungen können Couzin und sein Team inzwischen mithilfe digitaler Bildgebung sichtbar machen: „Das war ein großer Durchbruch. Ich glaube, dass früher Gruppen deswegen nie genauer betrachtet wurden, weil wir Menschen einfach nicht in der Lage sind, viele Individuen gleichzeitig zu beobachten; das kriegen wir nicht hin. Aber Computer Vision erlaubt es uns, Hunderte oder auch Tausende von Einzeltieren zu beobachten und zu verfolgen. Und nicht nur das: Wir können zusätzlich das Blickfeld jedes einzelnen Tiers sichtbar machen. Wir wissen damit, wer wann was sieht, wer durch wen verdeckt wird und so weiter. Dadurch können wir in die Gruppe eintauchen, als wären wir selbst ein Bestandteil. Auf dieser Grundlage lässt sich das Netzwerk entschlüsseln.“

Neuerdings funktioniert das sogar mit Virtual Reality. Junge Zebrafische schwimmen im Labor gar nicht in einem Schwarm, sondern im Zentrum einer runden Projektionsfläche, die ihnen den Schwarm vorgaukelt. „Das Fischauge, und das ist unser Glück, ist dem menschlichen Auge sehr ähnlich. Wenn man also Menschen hinters Licht führen kann, dann doch sicher auch Fische. Das war unsere Grundidee“, erzählt Couzin. Gewiss, Sinne wie das Seitenlinienorgan können bei diesen Untersuchungen nicht berücksichtigt werden, aber für den Sehsinn klappt es perfekt. Und: Die Zahl der Fische, die man sich durch VR für die Experimente spart, ist nicht bezifferbar. Virtuelle Welten leisten so auch einen Beitrag zum Tierschutz.      

Erkenntnisse über Netzwerke sind die Basis, kollek­tives Miteinander zu verstehen. Nach Stand der Dinge ist klar: Um als Gruppe widerstandsfähig und gleichzeitig so flexibel zu sein, sich an neue Umweltbedingungen an­­zu­passen, kommt es essenziell auf die vielen kleinen Einzelentscheidungen an. „Wir alle haben leicht den Eindruck, ein Fisch- oder Vogelschwarm hätte einen Koordinator, eine Art Dirigenten wie bei einem Orchester. Genau das ist aber nicht der Fall“, erklärt Couzin.

Jedes Mitglied einer Gruppe – ob bei Ameisen, ­Fischen, ­Vögeln oder Affen – hat Möglichkeiten zur Mit­bestimmung, denn jeder kann beispielsweise über eine Information zu einer Ressource oder über einen Feind verfügen. Dieses System schaffe Stabilität: „Gibt es einen einzelnen Chef, ist die gesamte Gruppe bedroht, wenn er ausfällt“, sagt der Forscher. Auf physiologischer Ebene sei das Herz so ein Fall. Couzin: „In diesem Fall opfert die Natur die Robustheit für die bestmögliche Speziallösung, aber wenn das Herz nicht mehr schlägt, ist der Organismus nicht länger lebens­fähig.“


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