Vom Suchen, Finden und Heilen

des Schmerzes

Tierärztin Tanja Warter

In der Schmerzambulanz der Veterinärmedizinischen Universität Wien behandelt Stephanie von Ritgen überwiegend ältere Tiere. Im Visier hat sie neben der Lebensqualität ihrer Patienten unter anderem auch das Schmerzgedächtnis.

Akute Schmerzen haben eine Funktion, einen Sinn – sie sollen uns schützen. Werden sie aber nicht ausreichend behandelt, können sie Spuren im Nervensystem hinterlassen und im schlimmsten Fall zu einem chronischen Schmerzgedächtnis führen. Bei chronischen Schmerzen ist es möglich, dass Nervenbahnen entgleisen und Schmerzen stärker wahrgenommen werden, obwohl man äußerlich mitunter kein Problem an diesem Ort erkennen kann. Ist das Schmerzgedächtnis erst einmal da, kann es unter anderem zu einer Schmerzüberempfindlichkeit (Hyperalgesie) oder sogar Allodynie (schmerzhafte Wahrnehmung von Reizen, die nicht schmerzhaft sind) führen.

Pharmakologisch lässt sich das Schmerzgedächtnis nur teilweise löschen. Darum ist es zentraler Teil der Schmerztherapie, dieses Gedächtnis und seine Auswirkungen für den Patienten so klein wie möglich zu halten.

Unter Menschen hört man oft den Satz: „Ich habe Schmerzen, aber der Arzt kann keine Ursache finden.“ Kennen Sie das aus Ihrer Arbeit auch – die Ursache nicht finden zu können?
Es ist tatsächlich nicht immer ganz einfach, einen Hund zu lesen. Bei akuten Schmerzen geht es in der Regel gut oder zumindest einfacher – hat der Hund beispielsweise eine Fraktur, zeigt er mit Lautäußerung, Bewegungsunwillen und Lahmheit eindeutig Schmerzen an. Zusätzlich gibt es gezielte Untersuchungswege, Skalen für die Einteilung, wie beispielsweise bei der Lahmheit, und unterstützende Grundlagen wie das Erkennen des Schmerzgesichts bei der Katze. Bei chronischen Schmerzpatienten, die oft auch schon älter sind, ist das nicht immer so leicht. In der Regel sind es neben Verhaltensänderungen oder verminderter Aktivität auch veränderte Stimmungslagen wie Reizbarkeit und Schlafstörungen, die die Besitzer als Symptome beschreiben. Hier in der Schmerzambulanz der Vetmed­uni sind wir in der glücklichen Lage, dass die meisten Patienten gründlich abgeklärt zu uns kommen. Ich weiß also meistens, wo die Probleme liegen.

Aber nicht jeder Besitzer kann und will sich die ganze Diagnostik leisten …
Stimmt. Wenn ein MRT oder CT nicht möglich ist, dann muss halt der Röntgenbefund ausreichen. Hinzu kommt, dass die Tiere älter werden und sich Besitzer*innen denken: Ach, im hohen Alter springt man halt nicht mehr in den Kofferraum. Wenn aber Schmerzen dahinterstecken, lässt sich auch bei alten Patienten noch viel punkto Mo­bilität und Verbesserung der Lebensqualität machen.

Man hat den Eindruck, dass Hunde mit ganz ähnlichen Befunden unterschiedlich starke Schmerzen empfinden.
Absolut. Wir finden eine ausgeprägte Individualität bei der Schmerzwahrnehmung und der Schmerztoleranz. Teilweise ist dies bei chronischen Patienten sogar noch drastischer als bei akut erkrankten Tieren. Wenn fünf Hunde objektiv dasselbe Problem haben, können diese mit Schmerzanzeichen von fast null bis hochgradig ausfallen. Und nicht nur das: Auch in der Therapie wirkt sich die Individualität aus – vier von fünf Tieren sprechen gut auf ein bestimmtes Medikament an, aber bei einem funktioniert es plötzlich gar nicht. Da muss man sich jedes Mal aufs Neue herantasten und die für den Patienten am besten geeignete Medikation finden.

Weil Sie die Medikamente anschneiden: Sind die nicht­steroidalen Antiphlogistika nach wie vor das Um und Auf in der Schmerztherapie – auch für Sie?
Ja. Vor allem bei Patienten mit Osteoarthrosen sind die nichtsteroidalen Antiphlogistika, sofern keine Kontraindikation in der Anwendung besteht, äußerst wirksame Medikamente.

Welche Möglichkeiten der Schmerzbekämpfung gibt es noch?
Wir in der Schmerzambulanz setzen auf ein multimodales Konzept, weil man vor allem bei chronischen Schmerzpatienten mit Monosubstanzen oft nicht weit kommt. Neben der medikamentösen Therapie nutzen wir unter anderem auch interventionelle Methoden wie ultraschall- oder CT-gestützte lokale Schmerzblockaden, mit denen wir Patienten durchaus zwei bis sechs, im besten Fall acht Monate schmerzfrei bekommen. Medikamente sind das eine – aber Tiere, die unter Schmerzen leiden, gewöhnen sich, wie wir Menschen auch, bestimmte Bewegungs­abläufe und Schonhaltungen an. Aus diesen Mustern kann man sie langsam herausholen. Bestenfalls gehen Medikation, Physiotherapie, Chiropraktik, Akupunktur oder Verhaltenstherapie Hand in Hand. Das ist bei uns in der Schmerzambulanz zum Glück möglich.

Nehmen wir beispielsweise Osteoarthrosepatienten: Für sie war die Zulassung eines monoklonalen Anti­körpers (Anm.: Bedinvetmab) zur Linderung osteoarthrose­bedingter Schmerzen so etwas wie der Heilige Gral. Aber auch die Anwendung dieses monoklonalen Antikörpers hat Grenzen. Unser Ansatz ist: So viel Medikamente wie nötig, aber so wenig wie möglich.

Längst nicht alle Schmerzen lassen sich vollständig ausschalten. Wie erkennen Sie auch kleine Fortschritte?
Das ist für uns ein ganz wichtiger Aspekt. Zuerst machen wir eine sehr detaillierte Befragung der Besitzer*innen, die gut und gern eine Stunde dauert. Dann besprechen wir mit den Besitzer*innen die Ziele, denn wenn die Erwartungen zu hoch sind, führt das unter Umständen zu Enttäuschung und in der Folge zu weniger Kooperation. Compliance ist aber absolut notwendig. Um dann festzustellen, ob sich die Schmerzen verbessert haben, arbeiten wir neben verschiedenen Fragebögen unter anderem mit Halsbändern, die die Anzahl der Schritte des Hundes zählen und erkennen, ob sich der Hund zwischendurch weniger hinsetzt, und vielen anderen Faktoren.

Die moderne Technik liefert uns sehr gute Unterstützung und gleichzeitig einen großen Datenpool, mit dem wir Resultate abgleichen können. Je besser man Ergebnisse objektivieren kann, was bestenfalls durch Messungen passiert, desto einfacher ist es, Entscheidungen über den weiteren Verlauf zu treffen.

Praktisches Beispiel: Labrador, fünf Jahre alt, hat schwere ED und Ellbogenarthrose. Der Besitzer will wissen: Wie findet man den Grat zwischen Schmerzausschaltung und den damit verbundenen Nachteilen im Hinblick auf das Fortschreiten der Erkrankung? Nach dem Motto: Darf man dem Hund schmerzfreie Zeit schenken und durch seinen Bewegungsdrang in Kauf nehmen, dass sich die Erkrankung verschlimmert?
Natürlich möchte ein Hund mit schwerer ED und Ellbogengelenksarthrose im besten Alter alles machen, was andere Hunde in seinem Alter tun. Keine oder weniger Schmerzmedikamente zu verabreichen, um diese Bewegung zu vermeiden, ist im Hinblick auf die Entstehung eines Schmerzgedächtnisses absolut kontraproduktiv. Da eine Osteoarthrose nicht heilbar und somit ein lebenslanger Begleiter des Patienten ist, sollte es das Ziel der Schmerztherapie sein, ein Fortschreiten der Erkrankung zu vermindern, die klinischen Symptome zu mildern und die Lebensqualität des Patienten zu verbessern. Der Patientenbesitzer muss aufgeklärt werden, dass der Hund einer lebenslangen unterstützenden Therapie bedarf.

Das bedeutet, dass es in den meisten Fällen auch dem Besitzer obliegt, die Bewegung seines Hundes zu kon­trollieren; das bedeutet aber nicht, dass der Hund mit schwerer ED und Ellbogengelenksarthrose immer nur an der kurzen Leine laufen muss. Es sollten jedoch bestimmte Bewegungen wie schnelles und abruptes Abstoppen, etwa bei Ballspielen, vermieden werden.

Welcher Patient der vergangenen Monate ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Ein Hund, chronischer Schmerzpatient mit Foramenstenose, den ich zwei oder drei Jahre betreut habe. Er war zuerst nicht ganz einfach im Umgang, hat aber auch dank seiner Besitzer nach einer Weile super kooperiert. Wir konnten ihm noch einige Jahre bei guter Lebensqualität schenken, und er ist wirklich alt geworden. Erst vor wenigen Wochen ging sein Leben zu Ende. Ich muss ehrlich gestehen, dass mir Patienten, mit denen ich über längere Zeit arbeite, wirklich ans Herz wachsen.


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