Vetmental:

Über die Grenze

Dr. med. vet. Astrid Nagl
Tierärztin und Buchautorin

Grenzen setzen und uns abgrenzen – das funktioniert im ohnehin stressigen Alltag oft mehr schlecht als recht, ist aber für unsere eigene Gesundheit und Zufriedenheit unerlässlich. Gerade wenn es um Zeitmanagement geht, sind die Herangehensweisen unterschiedlich: Was die einen als zu viel empfinden, ist für andere selbstverständlich und in Ordnung. Dr. med. vet. Astrid Nagl sprach mit Kolleg*innen über die Bereiche ihrer Arbeit, in denen das Abgrenzen besonders schwerfällt und gerade deshalb vielleicht besonders notwendig ist – und über die Lösungen, die viele von ihnen für sich entwickelt haben.

„Es geht ihm so schlecht – ich brauche unbedingt heute noch einen Termin!“

Eine Geburt kann nicht warten, ein unaufhörlicher Vomitus auch nicht – für einen Notfall lassen wir alles andere liegen und stehen. Doch nicht jeder dringende Fall ist auch tatsächlich ein Notfall, und die vermeintliche Dackellähme soll sich schon einmal überraschend als festgebissene Zecke im Zehenbereich entpuppt haben. „Sobald ich persönlich mit den Kund*innen spreche, habe ich das Gefühl, nicht ablehnen zu können“, erzählt eine Kollegin, die im Kleintierbereich tätig ist*, „nicht nur, wenn es sich um Stammkund*innen handelt. Wie kann ich rechtfertigen, dass ich nach Hause möchte, obwohl es einem Tier schlecht geht?“ In so einer Situation ist es wichtig, dass einem das Ordinationsteam Rückendeckung gibt – ergo: Die Terminvergabe erfolgt nicht mehr persönlich durch die/den Tierärzt*in. „Mein Team hat klar definierte Anweisungen, wann Patienten noch eingeschoben werden können und wann sie Nein sagen müssen. Jede Grenze, die jemand anderer für mich setzt, ist hilfreich!“

„Ich spreche nur mit Frau Doktor persönlich!“

Die private Handynummer wird von vielen Tierärzt*innen nur ungern an Kund*innen weitergegeben – denn sie wird von diesen benutzt, ohne Rücksicht auf den Feierabend. Doch auch, wenn es eine/n Assistent*in gibt, wollen manche Kund*innen dieser/m nicht sagen, worum es geht. Es muss ein persönlicher Rückruf von einer Tierärztin, einem Tierarzt sein. Diese Anrufe am Ende eines langen Tages möchten wir gerne kurz halten – und dann berichten die Patientenbesitzer*innen ausführlich und halten dem Hund das Handy ans Maul, damit wir ihn atmen hören können … das kostet Kraft. „Wenn die Kund*innen darauf hingewiesen werden, dass ich keine persönlichen Rückrufe mache, lassen sich die meisten von ihnen überreden, doch mit meiner Assistentin zu sprechen“, erklärt eine Kollegin*. Und wenn es keine Ordinationshilfe gibt? „Ich habe kein Diensthandy. Anrufe in der Ordination werden nur während der Rufbereitschaft auf mein privates Handy umgeleitet“, berichtet eine Rinderpraktikerin*. „So bin ich zwar erreichbar, aber nur innerhalb meiner Dienstzeiten.“

„Ich habe Ihnen doch vor einer Stunde ein E-Mail geschrieben!“

Die Besitzer*innen nutzen inzwischen auch gerne die digitalen Medien, um zu kommunizieren – selbst in dringenden Fällen. Bei Facebook ist es hilfreich, darauf hinzuweisen, dass die Nachrichten nicht regelmäßig abgerufen werden und man in dringenden Fällen lieber in der Ordination anrufen sollte. Die Möglichkeit, per E-Mail zu kommunizieren, empfindet eine Kollegin* als hilfreich: „Die E-Mails kann ich zwischendurch vergleichsweise schnell erledigen – telefonische Beratungsgespräche brauchen mehr Zeit!“ Andere wiederum* sehen die E-Mails eher als zusätzliche Belastung: „Jetzt bekomme ich pro Tag mehrere E-Mails mit Fotos, die ich mir doch schnell mal ansehen und etwas dazu sagen sollte. Doch für Ferndiagnosen möchte ich mich nicht zur Verfügung stellen.“ Für den Umgang mit digitalen Medien gilt wie auch für die Terminvergabe: Wir selbst müssen uns überlegen, wie wir das gestalten möchten.

Die Grantigen, die Unzufriedenen, die Lästigen – Abgrenzen im Kundendienst

„Wenn jemand meine Therapievorschläge nicht umgesetzt hat oder gar die Tierärztin gewechselt hat, war das für mich früher sehr belastend“, berichtet eine Kollegin*. „Ich habe mich tagelang gequält und alles hinterfragt: Liegt es an meiner Art, zu kommunizieren? War ich nicht freundlich genug? Heute sehe ich das gelassen – wenn es für eine/n Besitzer*in nicht passt, ist er/sie woanders besser aufgehoben. Ich kann es nicht allen recht machen, ich kann nur mein Können und Wissen anbieten, und sie müssen dann entscheiden, was sie machen wollen.“ Oft gehe es in solchen Fällen gar nicht um die Person der Tierärztin / des Tierarztes oder die medizinische Expertise, sondern z. B. um den finanziellen Hintergrund. Es dreht sich dann etwa um die Frage: Ist die weitere Diagnostik und/oder Therapie für die Besitzer*innen leistbar?

Fälle mit nach Hause nehmen

Nachts wieder einmal nicht geschlafen, sondern über diesen einen aktuellen schwierigen Fall nachgedacht? Es geht nicht nur Ihnen so! „Habe ich korrekt gehandelt, die richtige Therapie und/oder Diagnostik ausgewählt, die Besitzer*innen gut beraten? Diese Entscheidungen beschäftigen mich oft tagelang“, erzählt ein Kollege*. Gerade bei komplexen Fällen gibt es oft nicht nur die eine, einzige korrekte Vorgehensweise. „Wenn ich merke, dass mich ein Fall nicht loslässt, nehme ich mir bewusst Zeit dafür. Ich setze mich hin und entwerfe eine Behandlungsstrategie.“ Auch Intervision kann weiterhelfen – ein anderer Blickwinkel auf den Fall kann nützlich sein, oder ein Erfahrungsbericht eröffnet einen anderen therapeutischen Weg. So kann das Gespräch mit Kolleg*innen uns neu inspirieren – und außerdem tut es einfach gut, sich ab und zu auszutauschen.

* Name der Redaktion bekannt


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