Dr. med. vet. Astrid Nagl
Tierärztin und Buchautorin
Ausgabe 05/2023
„Die klinische Untersuchung ist nach wie vor ein wesentlicher Bestandteil in der Diagnostik bei Wiederkäuern“, betont Univ.-Prof. Dr. med. vet. Dr. h. c. Walter Baumgartner im Interview.
Wir alle kennen sie beinahe auswendig: die „Klinische Propädeutik bei Haus- und Heimtieren“, das Standardwerk zur klinischen Untersuchung. Ihr Herausgeber, Univ.-Prof. Dr. med. vet. Dr. h. c. Walter Baumgartner, besser bekannt als „Baumi“, hat die meisten von uns ausgebildet und beschäftigt sich seit über 50 Jahren mit diesem Thema. Ein besonderes Anliegen ist es ihm, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie man durch eine gründliche klinische Untersuchung den Antibiotikaeinsatz reduzieren kann. Dazu hält Baumgartner auch auf Einladung national und international öfters Vorträge, zum Beispiel am Welt-Buiatrikkongress in Madrid 2022.
Bei welchen Erkrankungen wird besonders häufig ein Antibiotikum verschrieben, das vielleicht gar nicht indiziert ist?
Beim Rind betrifft das vor allem Kälberdurchfall und generell Enteritis, aber auch Atemwegserkrankungen und Mastitis. Nehmen wir das Beispiel einer subklinischen Pansenazidose: Durch eine gründliche klinische Untersuchung kann ich diese sofort feststellen und entsprechend therapieren. Gibt ein Tierarzt oder eine Tierärztin jedoch stattdessen wegen des Durchfallkots erst einmal fünf Tage lang Antibiotika, wird sich der Zustand des Rindes durch diese Behandlung sogar verschlechtern.
Gibt es auch Studien zu diesem Thema?
Bei Kälberdurchfall gehen wir sogar davon aus, dass die meisten Antibiotikaverschreibungen nicht notwendig wären. Eine kürzlich durchgeführte Studie in vier europäischen Ländern ergab, dass 52 % der Betriebe fast bei jedem Kalb, das Durchfall hat, Antibiotika einsetzen (López-Novo et al., 2022; Anm.). Aus meiner Erfahrung an der Klinik für Wiederkäuer der Vetmeduni kann ich jedoch bestätigen, dass über 90 % der wegen Durchfall eingewiesenen Kälber kein Antibiotikum brauchten.
Wie ist die Situation in der Bestandsbetreuung in anderen Ländern?
In den USA, aber auch in osteuropäischen Staaten reden wir von Betrieben mit 2000 bis 5000 Rindern; oft ist nicht einmal ein/e Tierärzt*in im Betrieb. Die Angestellten übernehmen dann den Großteil der medizinischen Betreuung. Zwischen primärer und sekundärer Enteritis können sie aber zum Beispiel nicht unterscheiden – dann wird ein Antibiotikum verabreicht, obwohl eine andere Therapie zielführender wäre. Auch in der Diagnostik gibt es Unterschiede: Bei Mastitiden wird in vielen Ländern keine genaue klinische Untersuchung durchgeführt und erst ab einer Zellzahl von über 700.000 ist eine bakteriologische Untersuchung verpflichtend.
Wie läuft die tierärztliche Betreuung in solchen Betrieben ab?
Die Tierärzt*innen selbst arbeiten vermehrt im Homeoffice. Diese Entwicklung gibt es nicht erst seit Beginn der Pandemie. Sie bekommen dann einen Anruf, doch am Telefon kann man vielfach keine korrekte Diagnose stellen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, da mir viele Kolleg*innen, besonders aus dem Ausland, Fallbeschreibungen mit Fotos schicken und eine Ferndiagnose von mir erhoffen. Doch es hilft nichts: Um zu einer Diagnose zu kommen, brauchen wir die klinische Untersuchung.
Ist die Tendenz zu größeren Betrieben auch in Österreich erkennbar?
Ja, denn die Zahl der Betriebe in Österreich sinkt, doch die Zahl der Rinder ist annähernd gleich geblieben. Das bedeutet, die Betriebe werden größer. Wenn man zu einem Bergbauernhof auf 1.500 Meter auf Visite fährt, sollte man trotzdem beim Erstbesuch eine Diagnose stellen können! Dazu braucht man primär kein Röntgen und keinen Ultraschall. Tierärzt*innen, die gut und routiniert klinisch untersuchen, haben solche Situationen im Griff; eine klinische Untersuchung dauert fünf bis zehn Minuten. So ersparen Sie den Besitzer*innen auch die Kosten, die durch eine nicht zielgerichtete Therapie entstehen.
Welche Rückmeldungen bekommen Sie zu Ihren Argumenten?
Wenn ich diesen Vortrag in Österreich halte, kommen die Kolleg*innen danach zu mir und sagen: „Das wissen wir doch alles, Herr Professor!“ Das stimmt auch, denn wir haben das Glück, in Österreich und im gesamten deutschsprachigen Raum eine Ausbildung von sehr hoher Qualität anbieten zu können. Dennoch ist es wichtig, sich immer wieder bewusst zu machen, dass wir durch eine gute klinische Untersuchung den Einsatz von Antibiotika drastisch reduzieren können – nicht nur in der Nutztierpraxis!
Wie reagieren die Tierärzt*innen bei internationalen Kongressen?
Es besteht ein großes Interesse an dieser Thematik, weil wir alle nach Möglichkeiten suchen, der zunehmenden Resistenzbildung entgegenzuwirken. Die Kolleg*innen stellen meist nur wenige gezielte Fragen, weil sie zuvor nur wenig von einem strukturierten Untersuchungsgang gehört haben. Sie erzählen mir nach den Vorträgen, dass diese Vorgehensweise in der Ausbildung nicht ausreichend gelehrt wurde. Als ich in den 90er-Jahren in Kanada unterrichtete, habe ich Plessimeter und Perkussionshammer aus Österreich einfliegen lassen. So etwas hatten sie dort noch nie zuvor gesehen.
Was möchten Sie den Kolleg*innen hierzulande für ihren Praxisalltag mitgeben?
Für Tierärzt*innen in Österreich und dem gesamten deutschsprachigen Raum soll es „nur“ eine Erinnerung sein, dass die klinische Untersuchung nach wie vor ein wesentlicher Bestandteil in der Diagnostik bei Wiederkäuern ist. Nehmen Sie sich diese Zeit – fahren Sie selbst hin, untersuchen Sie das Tier, stellen Sie eine Diagnose und wählen Sie erst dann die passende Therapie aus.
Zur Person:
Univ.-Prof. Dr. med. vet. Dr. h. c. Walter Baumgartner, Diplomate ECBHM, Fachtierarzt für Rinder und für Labormedizin, leitete die Klinik für Wiederkäuer der Vetmeduni bis Ende 2010 und hat derzeit an mehreren europäischen Universitäten Gastprofessuren und Beratertätigkeiten inne. Er ist Präsident und Chefredakteur der Zeitschrift „Klauentierpraxis“ der Österreichischen Buiatrischen Gesellschaft und wurde neben vielen anderen Ehrungen 2022 mit der Ehrennadel der Österreichischen Tierärztekammer ausgezeichnet.
Quellenangaben:
Prieto, A.; López-Novo, C.; Díaz, P.; Díaz-Cao, J. M.; López-Lorenzo, G.; Antón, C.; Remesar, S.; García-Dios, D.; López, C.; Panadero, R.; Díez-Baños, P.; Morrondo, P.; Fernández, G. (2022): Antimicrobial Susceptibility of Enterotoxigenic Escherichia coli from Diarrhoeic Neonatal Calves in Spain. „Animals“ 12, 264. https://doi.org/10.3390/ani12030264