We can –

but should we?

Dr.med.vet. Elisabeth Reinbacher

 

Welche Faktoren beeinflussen Tierärzt*innen bei ihrer konsultatorischen Tätigkeit hinsichtlich möglicher diagnostischer und therapeutischer Optionen in der Kleintiermedizin? Dr. med. vet. Svenja Springer, PhD, Wissenschaftlerin im Bereich der veterinärmedizinischen Ethik, gab dem Vetjournal Einblick in ihre aktuellen Forschungsinteressen.

Das Messerli Forschungsinstitut in Wien wurde 2006 von der Unternehmerin Herta Messerli zur wissenschaftlichen Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung gegründet. „Möge das Messerli Forschungsinstitut helfen, Tiere besser zu verstehen und es somit ermöglichen, den Tieren ein besseres Dasein zu verschaffen!“, so ihre Worte.

Dr. med. vet. Svenja Springer, PhD, arbeitet als Wissenschaftlerin an diesem Institut. Schon am Ende ihres Studiums bemerkte sie, dass sie insbesondere die ethischen Fragestellungen in der Veterinärmedizin interessierten: „Bereits als Studentin beschäftigten mich ethische Fragen, auf die mir die medizinischen Fachbücher keine Antworten geben konnten. In meiner Diplomarbeit habe ich mich intensiv mit der Thematik der Euthanasie in der Kleintiermedizin auseinandergesetzt. Danach verfolgte ich bis 2021 im Zuge meines PhD-Programms ein Projekt über die professionseigene Moral in der Veterinärmedizin“, gibt die Forscherin einen Überblick über ihren beruflichen Werdegang.

Detaillierter geht sie auf die Ziele ihres PhD-Projekts ein: „Ich wollte mit sozialwissenschaftlichen Methoden, also Interview- und Fragebogenstudien, untersuchen, wie Tierärzte in der Kleintierpraxis mit ethischen Konflikten umgehen. Das Ziel war, einen Ist-Zustand zu beschreiben: Was sind die Herausforderungen, Chancen und Veränderungen bei ethischen Problemsituationen im kleintiermedizinischen Alltag?“ Dr. Springer betont, dass sie mit diesen Ergebnissen keine normativen, bewertenden Aussagen treffen möchte: „Mein Ziel ist es, den Ist-Zustand zu beschreiben. Mit diesem Satz beginne ich auch häufig meine Vorlesungen für Studenten. Viele wünschen oder erwarten sich, dass ihnen jemand sagt, was sie konkret tun sollen; im Gegensatz dazu lehnen andere aber auch ab, dass sie ständig Vorschläge bekommen, wie sie handeln sollen. Ich werde wahrscheinlich beiden Gruppen nicht ganz gerecht, denn auch, wenn ich nicht bewerte, fließen empirische Ergebnisse doch in die Überarbeitung von ethischen Konzepten ein. Somit bin ich der Meinung, dass die Identifizierung und fundierte Beschreibung von moralischen Problemen wie auch der Umgang mit diesen eine essenzielle Grundlage für das Forschungsfeld der veterinärmedizinischen Ethik darstellen.“

Moralische Probleme von KleintierMediziner*innen verstehen

Warum ist es wichtig, Studien zu ethischen Konflikt­situationen in der Kleintiermedizin durchzuführen? Dazu erklärt die Wissenschaftlerin: „Wir wollen verstehen, mit welchen moralischen Problemen Tierärzte in der modernen Kleintierpraxis konfrontiert werden und welche Faktoren sie bei ihrer Empfehlungs- und Entscheidungsfindung im Umgang mit diesen Situationen beeinflussen. Welche Rückschlüsse können daraus vielleicht auch gezogen werden? Die Studien haben uns ganz deutlich gezeigt, dass Kleintierärzte ganz unterschiedlich mit solchen Situationen umgehen und sich auch von unterschiedlichen Faktoren beeinflussen lassen.“ Die wichtigsten Einflussfaktoren, so Dr. Springer, sind neben dem Patienteninteresse auch das Besitzerinteresse und die eigenen Interessen des Tierarztes.

Dazu führt sie weiter aus: „Durchwegs ist erkennbar, dass das Wohl des Tiers, das Patienteninteresse, an erster Stelle steht; vor allem aber die emotionale und auch die finanzielle Situation der Besitzer haben einen starken Einfluss auf Entscheidungsprozesse – darunter auch Diskussionen über mögliche Diagnostik und Therapie, die bei dem Tier zum Einsatz kommen soll und kann. Empathie gegenüber den Tierbesitzern wurde von den befragten Tierärzten als besonders wichtig eingestuft: Interessen, Möglichkeiten und Emotionen des Tierbesitzers werden wahrgenommen und berücksichtigt. Dieser Faktor hatte für manche Tierärzte in den Studien sogar einen höheren Stellenwert als das Patienteninteresse selbst. Empathie ist eine unbedingte Voraussetzung und auch ein großes Potenzial, denn wenn der Besitzer nicht mit ins Boot geholt werden kann, ist es oftmals schwieriger für Tierärzte, im Patienten­interesse zu handeln. Dies ist ethisch sehr interessant: Der Tierarzt, der advokatorisch für das Wohl des Patienten eintreten möchte, erkennt auch die Wichtigkeit und Notwendigkeit, die Situation der Besitzer in seine Entscheidungsfindung miteinzubeziehen.“

Beginnend mit der Fokusgruppenstudie mit österreichischen Tierärzt*innen wurde das Projekt dann auf eine transnationale Ebene ausgeweitet – Veterinärmediziner*innen in Österreich, Dänemark und im Vereinigten Königreich wurden im Rahmen einer Fragebogenstudie befragt. „Es war sehr spannend, komparativ zu arbeiten und die Unterschiede zwischen den Tierärzten aus diesen drei Ländern herauszuarbeiten. Entscheidungsstrategien und ihre Einflussfaktoren wurden verglichen: Welche Rolle spielen beispielsweise Tiergesundheitsversicherungen oder soziale Medien im Umgang mit den Besitzern und bei der Entscheidungsfindung? Auch die strukturellen Unterschiede in diesen Ländern fallen ins Gewicht: In Österreich gibt es eine enorm hohe Anzahl an selbstständigen Tierärzten, in Großbritannien wird die Kleintiermedizin zunehmend von vergesellschafteten Praxen und Kliniken dominiert. Für die Tierärzte bedeuten große Gemeinschaftspraxen eine bessere Einteilbarkeit der Arbeitszeiten und weniger finanzielles Risiko, andererseits kann es vorkommen, dass vorgegebene Protokolle eingehalten werden müssen und das individuelle Arbeiten somit eingeschränkt wird. Auch diese Faktoren können einen Einfluss auf Entscheidungsprozesse nehmen“, erläutert die Forscherin.

Österreichische Tierärzte hinterfragen mehr

Tiergesundheitsversicherungen, die in Dänemark und Großbritannien stark verbreitet sind, tragen deutlich zur Stressreduktion bei der tierärztlichen Arbeit bei: Sie reduzieren die finanziellen Limitationen der Tierbesitzer. Die Mehrheit der Tierärzte spricht sich dafür aus, so Dr. Springer, Tiere versichern zu lassen, wobei österreichische Tierärzte im transnationalen Vergleich die Notwendigkeit einer Versicherung signifikant häufiger infrage stellten.

„Dennoch sind Tiergesundheitsversicherungen auch ein zweischneidiges Schwert, denn die finanzielle Unabhängigkeit kann wiederum zum ethischen Problem der Überdiagnostik und Übertherapie führen. Das zeigen Studien im humanmedizinischen Bereich, wo deutlich mehr oder kostenintensivere therapeutische und diagnostische Möglichkeiten eingesetzt werden, wenn Patienten private Versicherungen haben“, so Dr. Springer. Dazu kennt die Ethikerin ein interessantes Detail: „Im Zuge unserer Studien haben wir uns auch mit dieser Thematik beschäftigt und wollten herausfinden, wie sehr Tierärzte bei ihren Empfehlungen von einer gesicherten Finanzierung beeinflusst werden. Lediglich in Großbritannien machte es einen Unterschied, zu welchen diagnostischen Optionen geraten wurde, wenn das Tier versichert – oder eben nicht versichert – war. Dies scheint also ein nicht so großer Einflussfaktor zu sein wie gedacht.“

Zu den sozialen Medien meint Dr. Springer: „Die Nutzung der sozialen Medien ist Teil der modernen Kleintierpraxis, wobei sie im Vergleich zu Dänemark und Großbritannien bei den österreichischen Tierärzten eine viel geringere Rolle spielt. Soziale Medien können als wichtiges Kommunikationsmedium und zur Bewerbung der Praxis dienen, andererseits sind sie zeitintensiv und negative Kommentare führen zu Reputationsschädigung und starkem Druck für die Praxis. Auch zum Umgang mit negativen Bewertungen in den sozialen Medien gibt es Studien. Die konstruktive und transparente Reaktion und Beantwortung wird hierbei empfohlen.“ Das Wissen um Erkrankungen und auch die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten nehmen täglich zu und Tierärzte seien hoch motiviert, sich kontinuierlich weiterzubilden, betont die Forscherin. Hierbei hebt sie einen weiteren Einflussfaktor ethischer Konfliktsituationen hervor: „Die Möglichkeit, stetig Neues zu lernen und auszuprobieren, ist einer der wichtigsten Motivatoren für Veterinärmediziner. Das gilt sowohl für Allgemeinpraktiker als auch für auf ein Gebiet spezialisierte Kollegen. Vor allem die jüngeren Tierärzte haben den hohen Anspruch an sich selbst, die Kleintiermedizin voranzutreiben. Die ständige Weiterentwicklung ist ein Anspruch der gesamten Tierärzteschaft. Das, gepaart mit der starken emotionalen Bindung von Tierhaltern zu ihren Haustieren und dementsprechender Erwartungshaltung dem Tierarzt gegenüber, sind ebenso entscheidende Faktoren bei der Frage, welche diagnostischen und therapeutischen Optionen angeboten und eingesetzt werden. Es wird immer komplexer für den Tierarzt, Empfehlungen abzugeben und Entscheidungen zu treffen.“

Schwierig, eine ethisch klare Linie zu ziehen

Spezialisierte Überweisungszentren mit Hightech-Ausstattung und Fachtierärzten gehören in der Kleintiermedizin mittlerweile zum Standard. „Diese vielen Möglichkeiten, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, machen es in Kombination mit der Erwartungshaltung der Tierbesitzer wiederum ethisch oft schwierig, eine klare Linie zu ziehen, wann im Interesse des Tiers Schluss gemacht werden soll. Auch die Palliativbetreuung ist in der Kleintiermedizin ein wachsender Sektor. Das ist die tägliche Challenge: Empfehlungen gegen weitere Therapien abzugeben, auch wenn sie vom Tierbesitzer gewünscht werden. Diese ethische Konfliktsituation begegnet Tierärzt*innen immer häufiger. Besonders Veterinärmediziner*innen, welche sowohl kurativ als auch in der Forschung tätig sind, befinden sich dabei im Spannungsfeld: Sie arbeiten einerseits in der Klinik, andererseits dienen ihre Erkenntnisse aber auch der Wissenschaft. Werden gewisse Fälle nicht ausgereizt, kommt es zu keinem wissenschaftlichen Fortschritt. Hier muss ganz genau abgeschätzt werden, inwieweit eine Therapieoption für die Wissenschaft interessant ist und inwiefern sie dem individuellen Patienten hilft“, gibt die Wissenschaftlerin zu bedenken und empfiehlt: „Eine gute Zusammenarbeit zwischen überweisenden Allgemeinpraktikern und den spezialisierten Kliniken mit einem guten Vertrauensverhältnis innerhalb der Tierärzteschaft ist für die Zukunft essenziell. Die wachsende Anzahl an Überweisungs- und Spezialistenkliniken fördert einerseits die Entwicklung in der Kleintiermedizin, führt aber natürlich auch zu starkem Konkurrenzdruck.“

Wie Tierärzt*innen schlussendlich mit Entscheidungs-findungen für die individuellen Fragestellungen umgehen, ist aufgrund der vielen Einflussfaktoren sehr unterschiedlich, stellt Dr. Springer klar. „Wir hatten zum Beispiel eine Fragestellung im Fragebogen, ob die befragten Tierärzt*innen sich für oder gegen eine mögliche Strahlentherapie bei einem Tumorpatienten aussprechen würden. Sehr eindrücklich dabei war, dass etwa ein Viertel der Befragten angab, hierzu gar keine Empfehlung abgeben zu wollen. Das ist spannend, denn für den Patienten ist der Tierarzt oder die Tierärztin der Türöffner für jegliche weitere Therapieoptionen. Gibt der Veterinärmediziner gar keine Empfehlung ab, kann das den weiteren Verlauf der Krankengeschichte stark beeinflussen. Warum so viele befragte Kleintiermediziner*innen keine Empfehlung abgeben wollten, mag mit dem fehlenden Wissen um oder der Erfahrung mit dieser Therapieform in Zusammenhang stehen. Die Fallvignette endete damit, dass der Tierbesitzer den Tierarzt fragt, was er empfehlen würde, wenn es das eigene Tier wäre. Dies lässt wiederum eine zweite Interpretationsoption für das Ergebnis zu: Vielleicht wollten viele der Tierärzt*innen auch den Respekt vor der Autonomie der Tierhalter*innen bewahren und deswegen keine Empfehlung abgeben. Ein weiteres interessantes Detail bei dieser Frage war, dass es keinen Unterschied gab, ob es sich bei dem Patienten um eine Katze oder um einen Hund handelte. Tatsächlich werden mehr Hunde als Katzen onkologisch behandelt. Anhand unserer Daten kann aber gezeigt werden, dass dieser Unterschied nicht von den Tierärzt*innen beeinflusst wird.“

Die ethische Ausbildung der Student*innen wird auch im aktuellen Studienplan des Diplomstudiums der Veterinärmedizin an der Vetmeduni in Wien berücksichtigt. Dr. Springer und ihre Kolleg*innen halten Vorlesungen über angewandte Ethik und besprechen ausgewählte Fälle, um die angehenden Veterinärmediziner*innen für ethische Fragestellungen zu sensibilisieren. Besonders spannend, so erzählt die Forscherin, seien die Unterschiede, wenn sie Student*innen die Fragebögen für ihre Studien ausfüllen lässt und sie dann mit den Ergebnissen aus der Tierärzteschaft vergleicht. „Das schafft eine wunderbare Diskussionsgrundlage“, meint die Ethikerin schmunzelnd.

Abschließend hebt Dr. Springer hervor: „Mein Forschungsfokus ist es, herauszufinden, wie Tierärzt*innen in ihrem komplexen Arbeitsumfeld arbeiten, sich weiterentwickeln, Entscheidungen treffen und zu unterschiedlichen Lösungen kommen. Ich finde es besonders schön, dass die österreichischen Tierärzt*innen durch diese Projekte auch international im ethischen Themenfeld präsent sind.“

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