Sterben

wie ein Hund?

Tierärztin Tanja Warter

Ethische und moralische Fragen sind in der tierärztlichen Praxis alltäglich. Einige lassen sich mit gutem Gewissen klären, für andere gibt es keine Lösung, die zufrieden stimmt. Auch darauf sollten junge Tierärzt*innen vorbereitet sein.

Betrachtet man das Jahr 2021 im Rückspiegel unter dem Aspekt, welche Themen im Zusammenhang mit Tieren im Rampenlicht standen, landet man schnell bei großen ­Fragen und Problemen. Nur ein kleiner Ausschnitt zur Erinnerung: Wir hatten Corona und die Nerzfarmen, Corona und die Schlachthöfe, Klimagase und die Rinderhaltung, Tiertransporte in den Nahen Osten, eine jederzeit drohende Schweine­pest und vieles mehr. Themen wie diese fordern Tierärzte ebenso wie Fragen aus dem Praxisalltag, beispielsweise: Eine Katze könnte für 150 Euro kuriert werden, doch der Besitzer will das nicht zahlen. Was tun?

Die Tierärztliche Hochschule in Hannover hat mit Prof. Dr. Peter Kunzmann seit sechs Jahren einen ­Professor für Angewandte Ethik in der Tiermedizin. Ein Gespräch über eine junge Disziplin und ihre großen Fragen.

Herr Professor Kunzmann, was macht man als ­­ Profes­sor für Angewandte Ethik in der Tiermedizin?
(lacht) Na ja, vordergründig das, was man auch erwarten würde, nämlich Vorlesungen, Seminare, Vorträge und Ähnliches. Hintergründig geht es darum, die Studierenden vom ersten bis zum letzten Semester kritisch zu begleiten. Überall, wo es relevante Themen gibt, mit denen man neben dem Medizinischen konfrontiert ist, sind wir Ansprechpartner. Und zwar nicht nur in einem einzelnen Kurs oder Wahlpflichtfach, sondern als ständige Begleiter.

Und da stehen wirklich schon im ersten Semester ethisch schwierige Fragen an?
Selbstverständlich. Junge Leute, die mit dem Studium beginnen, haben oft eine Idee des Berufsbilds, das am Ende steht. Dann kommt der erste Anatomiekurs und es liegen 40 tote Ziegen auf den Tischen. Plötzlich tauchen  Fragen auf: Mussten die jetzt für die Ausbildung sterben? Wie gehe ich damit um? Und wie hoch ist der sogenannte Tier­verbrauch in meinem Studium, bis ich abgeschlossen habe? Es ist definitiv eine Klippe, dass Tiere für die Ausbildung getötet werden. In den höheren Semestern veranstalten wir Tandems: Ethiker und Anästhesistin diskutieren mit den Studierenden beispielsweise über Euthanasie. Da tauchen sehr interessante Fragen auf.

Zum Beispiel?
Zum Beispiel der Fall einer muslimischen Familie mit einer todkranken Katze. Die Besitzer wollten das Tier auf gar keinen Fall einschläfern lassen, weil sie das aus religiösen Gründen ablehnten. Da kommt der Tierarzt nicht um eine Diskussion herum. In diesem Fall hätte er die Euthanasie dringend angeraten, aber die Familie nahm die Katze wieder mit.
 
Mich hat auch schon eine Katzenbesitzerin gefragt, ob ihr Tier selbst sterben darf oder ob sie es einschläfern lassen muss …
Ja, das sind heute keine Ausnahmen mehr. Was war in Ihrem Fall die Begründung der Besitzerin?

Dass wir es Menschen ja auch zumuten – oder zugestehen –, selbst zu sterben.  
Da sieht man, wie vielfältig die Gründe für das Ablehnen des Einschläferns sein können. Und schon sind wir bei der Frage, ob es für Tiere einen Lebensschutz gibt. Ist Tötung wirklich die Ultima Ratio? Wir vergleichen im Forschungsprojekt „Sterben wie ein Hund“ die Situationen für Menschen und Tiere. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich heutzutage eine Tierhospizbewegung entwickelt. Vor allem kann das Tier nicht selbst mitreden, was es möchte. An der Diskussion rund um die Sterbehilfe kann der autonome Mensch zu seinen eigenen Wünschen Stellung beziehen. Das Tier kann das nicht. Darum lehren wir auch Tierethik.

Wie unterscheiden sich Tierethik und tierärztliche Ethik?
Bei der Tierethik geht es um allgemeine Fragen rund ums Tier und die Einschätzung mündiger, urteilsfähiger Menschen. Typische Fragen sind: Dürfen Menschen Tiere ­halten, die andere Tiere fressen? Ist die Gesellschaft ­bereit, auf Tierversuche zu verzichten und den Preis dafür zu ­bezahlen? Darf ich Tiere in einem Zoo halten?

Und in der tierärztlichen Ethik?
Da ist zum Beispiel ein zentrales Problem, dass der Tierarzt nicht von seinem Patienten bezahlt wird, sondern von jemand anderem. Auf der einen Seite stehen also die Gesundheit und das Wohlbefinden des Tiers, auf der anderen Seite gibt es den Auftraggeber in der Rolle des Gatekeepers. Als Praktiker kann man nur handeln, wenn man den Tierhalter mitnimmt. Der Tierarzt kann also nur über die Bande spielen. Stellen Sie sich vor, man könnte den Hund direkt fragen, ob er 500 Euro für die Therapie seines Knochenbruchs ausgeben würde! Da wäre die Entscheidung sicher schnell und eindeutig.

Hat nicht die Gesellschaft insgesamt auch einen Einfluss auf die Entscheidung des Tierhalters?
Auf jeden Fall. Darüber hinaus gibt die Gesellschaft den Rahmen für tierärztliches Handeln vor. Und wir erleben ein sich stark wandelndes Urteil dazu, was wir den Tieren schulden. Deshalb sollten Tierärzte Ethik kennen. Das macht sie sprachfähiger und gibt dem gesamten Beruf einen besseren Stand. Je genauer Tierärzte wissen, was andere über Tiere denken, desto besser können sie Entscheidungen treffen und argumentieren.

Und was denkt die Gesellschaft Ihrer Ansicht nach über Tiere?
Da gibt es zwei auseinanderliegende Positionen. Für einen sehr großen Teil der Menschen ist heute klar, dass Tiere fühlende Wesen mit einem subjektiven Empfinden sind; dass sie Bedürfnisse haben und uns kognitiv näher stehen, als wir früher dachten. Diese allgemeine Auffassung ist noch recht frisch. Sie zieht sich aber nicht durch alle Gruppen. Es gibt auch noch diejenigen, für die Tiere Produktionseinheiten sind, deren Leben nicht viel zählt.

Nach dem Motto „Ist doch bloß ein Hund!“?
Ja – aber speziell bei jungen Leuten, die von einer höheren Schule kommen, ist dieses Motto inzwischen von gestern.

Noch zum besseren Verständnis: Wenn wir von Ethik und Moral reden, wo ist denn da der Unterschied?
Ich würde es so formulieren: Die Ethik ist die Reflexion an sich, das Nachdenken über Moral. Die Moral enthält eine Überzeugung vom guten Handeln. Dazu tragen unter anderem Erziehung und Gesellschaft bei. Wir wissen im Normalfall, „was man tut und was man nicht tut“. Die Ethik lässt dieses Urteil offen, was „man“ tut, ist meist nicht entscheidend.      

Es gibt doch sicher viele Fälle, bei denen die moralische Linie nicht so eindeutig ist …
Ja. Zum Beispiel in vielen Tierschutzfällen. Bis zu welchem Punkt ist es die Privatsache des Halters, wie er mit seinen Tieren umgeht?

Bis der Fall dem Tierschutzgesetz widerspricht?
Aber es kann ja sein, dass das, was der Besitzer tut, nicht verboten ist. Deswegen ist es aber nicht frei von Moral. Gesetze geben uns einen gesicherten Rahmen, aber ethische Fragen tauchen da auf, wo die Vorgaben fehlen. Hätten wir für alles simple Richtlinien, könnten ja auch Zollbeamte prüfen, wie es um das Wohlbefinden einer Kuh bestellt ist. Dafür braucht es aber Expertise.

Können Sie das noch verdeutlichen?
Ich kenne einen Fall, bei dem eine Amtstierärztin ­entdeckte, dass ein Teichwirt in 1.000 Liter Wasser 1,2 Tonnen ­Fische hielt. Da waren also mehr Fische als Wasser drinnen. Obwohl es keinen offenkundigen Gesetzesbruch gab, ­brachte die Tierärztin die Sache vor Gericht. Das war ihr ethischer und moralischer Anspruch auf Grundlage ihrer Fachkenntnis.

Wie ging die Sache aus?
Die Tierärztin hat verloren. Das Wissen über das Wohl der Fische war dem Richter zu dünn. Vor allem fehlte eine einschlägige Vorschrift. Hat man einen gesetzlichen Rahmen, ist das wie eine Ritterrüstung: Sie gibt Kraft und Schutz, engt aber auch ein, weil sie uns keine eigene Beurteilung mehr erlaubt.


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