Mag. Silvia Stefan-Gromen
Ausgabe 07-08/2022
Simulationsforscher Dr. Niki Popper prognostiziert einen drastischen Tierärzt*innenmangel bereits in den kommenden fünf Jahren. Die von ihm durchgeführte Studie zeigt künftige Herausforderungen und einen Strukturwandel des Berufs – die ÖTK stellt Forderungen an die Politik.
„Die aktuellen Studienergebnisse belegen einmal mehr, dass sich der Tierärzt*innenmangel im Nutztierbereich in den kommenden fünf bis zehn Jahren immer drastischer zuspitzen wird. Aufgrund dieser besorgniserregenden Zahlen sehen wir eine adäquate tierärztliche Versorgung österreichweit gefährdet“, erklärte Mag. Kurt Frühwirth, Präsident der Österreichischen Tierärztekammer, im Rahmen des „ÖTK-Zukunftstalks“. Um die viel diskutierte Unterversorgung im tierärztlichen Bereich zeitnah und auf Basis von Zahlen vorherzusehen, wurde von der Tierärztekammer erstmals eine Zukunftsprognose beauftragt – der bekannte Simulationsforscher Dr. Niki Popper und sein Team analysierten unterschiedliche historische Daten, um eine Einschätzung des künftigen Bedarfs und Angebots abgeben zu können.
Dr. Popper dazu: „Um entsprechende Gegenmaßnahmen setzen zu können, wurden in diesem Projekt sowohl der zukünftige Bedarf als auch das zukünftige Angebot an Tierärzt*innen abgeschätzt. Dabei wurden generell drei wichtige Bereiche der Tiermedizin unterschieden und untersucht: Kleintiere, Nutztiere und Pferde.“
Tierärzt*innen: Nicht die absolute Zahl, sondern das Tätigkeitsausmaß ist relevant
Insgesamt könne man zwar sagen, dass in den nächsten zehn Jahren die Zahl der versorgungsrelevant tätigen Tierärzt*innen um rund elf Prozent – von aktuell 3.069 auf rund 3.400 Personen – steigen werde, doch sind im Detail einige Herausforderungen aufzuzeigen. Da es in Zukunft nicht nur um die absolute Zahl der versorgungsrelevanten Tierärzt*innen gehen werde, wurde vielmehr bei der Ausarbeitung der Nachwuchs- und Versorgungsproblematik neben dem Alter, dem Geschlecht oder der regionalen Zugehörigkeit auch das zukünftige Tätigkeitsausmaß berechnet. Letzteres sei eine wesentliche Größe, die das zukünftige tierärztliche Versorgungs- und Leistungsangebot bestimmen werde und bisher keinen Eingang in bereits erstellte Studien gefunden habe.
Im Rahmen der erstellten Prognose sei daher festzuhalten: „Obwohl die Anzahl der Tierärzt*innen steigt, bleibt bei erhöhter Nachfrage das Tätigkeitsausmaß gleich“, sagt Popper und erklärt weiter: „Im Nutztierbereich sinken sowohl die Personenzahlen als auch die Summe des Tätigkeitsausmaßes. Selbst wenn man von einem fallenden Bedarf ausgeht, droht ein Tierärzt*innenmangel.“
Im Grundszenario werden bis zum Jahr 2027 zwischen 32 und 55 Nutztierärzt*innen fehlen, bis 2032 werden es schon 85 bis 120 Personen sein und im Jahr 2037 werde sich die Anzahl der fehlenden Nutztierärzt*innen auf 90 bis 140 Personen erhöhen.
„Wenn man allerdings das pessimistische und demnach realistischere Szenario betrachtet, werden bereits in fünf Jahren, also im Jahr 2027, etwa 95 bis 120 Personen zusätzlich benötigt. Dies ist in Relation zu derzeit 700 österreichweit tätigen Nutztierpraktiker*innen eine enorm hohe Zahl“, stellt Präsident Frühwirth fest. Bei weiterer Betrachtung und Hochrechnung würden bis zum Jahr 2032 bereits 185 bis 225 Nutztierärzt*innen fehlen und bis 2037 würde eine Lücke von 255 bis 300 Nutztierärzt*innen entstehen. „Wenn sich die Parameter nicht in absehbarer Zeit ändern, wird sich der Tierärzt*innenmangel innerhalb von zehn Jahren – 2027 bis 2037 – verdreifachen“, erläutert Frühwirth.
Im Kleintierbereich sei, so Popper, rechnerisch ein Anstieg an Vollzeitäquivalenten zu erwarten, sodass hier der steigende Bedarf auch weiterhin gedeckt scheint; dennoch könnten auch hier viele zusätzliche Einflussfaktoren (Not- und Bereitschaftsdienste, Wochenenddienste), die derzeit mit Zahlen nicht genau zu beziffern sind, einen Versorgungsmangel bewirken.
Generell gelte, dass sich auch weiterhin die demografische Zusammensetzung der Tierärzt*innen in der nächsten Dekade verändern wird. Der Frauenanteil wird in den nächsten 15 Jahren von 60 Prozent auf 78 Prozent steigen, das Durchschnittsalter wird von 46,8 auf 44,7 Jahre leicht fallen – auch der Anteil an selbstständigen Personen wird sich von 70,5 Prozent auf 61,5 Prozent reduzieren.
Aus Sicht der Berufsstandsvertretung sind diese Ergebnisse besorgniserregend. Die Gründe dafür erklärt Tierärztekammer-Präsident Frühwirth so: „Etwa ein Drittel der Veterinärmediziner*innen arbeitet in Nutztier- und Gemischtpraxen. Österreichweit ist der Großteil der Nutztierärzt*innen vor allem in Rinderbetrieben tätig, das sind großteils selbstständige Tierärzt*innen, die oft bis zu 60 und mehr Stunden pro Woche arbeiten. Und nicht nur in der Nutztierpraxis herrscht ein hoher Grad an selbstständig Tätigen, auch in der Kleintierpraxis findet sich nach wie vor ein hoher Grad an Selbstständigen.“
Im internationalen Vergleich liege Österreich mit 70 Prozent Selbstständigen im Spitzenfeld, so Frühwirth, der EU-Durchschnitt liege lediglich bei 35 Prozent. „Diese Babyboomer-Generation, die von selbstständigem Arbeiten geprägt war, geht allerdings bald in Pension. Um so einen selbstständigen Einzelkämpfer oder eine selbstständige Einzelkämpferin zu ersetzen, braucht es heute aufgrund von Arbeitszeitregelungen, Karenzzeiten und Teilzeitarbeit wesentlich mehr junge Tierärzt*innen, die oftmals angestellt ihre Berufslaufbahn beginnen. Und: Die Work-Life-Balance ist heute wichtiger als noch vor 30 Jahren. Aufgrund der derzeit hierzu fehlenden attraktiven Rahmenbedingungen im Nutztierbereich wird es in den kommenden Jahren einen großen Umbruch geben. Bereits jetzt gibt es regional Probleme bei der flächendeckenden tierärztlichen Versorgung“, so Frühwirth.
Die Politik sei nun gefordert, „mit uns gemeinsam Lösungen zu finden. Es muss Geld in die Hand genommen werden, um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken“, so Frühwirth. Es gehe schließlich auch um den gesetzlich verankerten Tierschutz und ganz besonders um die Lebensmittelsicherheit, die die Gesamtbevölkerung betreffe.
• Damit in Zukunft auch an Sonn- und Feiertagen und in der Nacht die Patientenversorgung sichergestellt werden kann, braucht es finanzielle Unterstützung seitens der öffentlichen Hand. Wenn tierische Patienten nicht mehr versorgt werden (können) bzw. für Tierbesitzer*innen und deren Patienten unzumutbar lange Wegstrecken zurückzulegen sind, so hat das auch tierschutzrelevante Konsequenzen. Dies darf nicht als alleinige Verpflichtung und Verantwortung der Tierärzt*innen gesehen werden, sondern ist als gemeinschaftliche sowie gesellschaftliche Herausforderung zu betrachten.
• Der Tierschutz befindet sich im Verfassungsrang und ist deshalb auch nicht alleinige Aufgabe und Verpflichtung einer einzelnen Berufsgruppe. Die Rahmenbedingungen müssen deutlich verbessert werden – dazu zählt neben den rechtlichen Voraussetzungen auch die finanzielle Unterstützung durch die Gebietskörperschaften. Nur so kann eine flächendeckende Versorgung auch in Zukunft sichergestellt werden, wobei dies auch für den Kleintierbereich gilt.
• Auch für die Berufsgruppe der Tierärzt*innen ist es nunmehr unumgänglich, für Planungssicherheit zu sorgen und eine Basisfinanzierung sicherzustellen – vor allem in jenen Bereichen, die unter extremem ökonomischem Druck stehen.
• Auch die tierärztliche Ausbildung muss dringend einen Paradigmenwechsel erfahren. Es muss ein Konsensus darüber gefunden werden, was von kompetenten Veterinärmediziner*innen erwartet wird und wie die veterinärmedizinische Ausbildung die Erwartungen aller Stakeholder erfüllen kann. Die Berufsstandsvertretung muss, wie auch in der Humanmedizin, dringend in die Ausbildung eingebunden werden. Eine deutliche Erhöhung der Studienplätze und die richtige Auswahl der zum Studium zugelassenen Studierenden muss dringend überlegt werden. Es müssen die richtigen Berufsanwärter*innen ausgebildet werden, die sich danach auch dem Beruf zuwenden – denn selbst jene Studierenden, die sich zu Beginn ihres Studiums für den Nutztierbereich interessieren, wechseln oft wegen hoher Arbeitsbelastung, zu geringer Entlohnung und fehlender Work-Life-Balance in andere Bereiche oder verlassen gar die Branche.
• Die dargelegten Herausforderungen können nur in gemeinsamer Anstrengung mit der Politik gelöst werden – man muss die ländlichen Regionen auch wieder so attraktiv für junge Tierärzt*innen machen, dass diese willens sind, das Landleben anzunehmen und die Nutztiere auf dem Land zu versorgen.