ÖTK-Zukunftstalk:

Wie sieht die tierärztliche Versorgung in den kommenden Jahren aus?

Mag. Silvia Stefan-Gromen

Über 100 Gäste aus dem In- und Ausland sowie Vertreter*innen aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, NGOs sowie des Berufsstandes folgten nach pandemiebedingter Pause am Mittwoch, dem 22. Juni 2022, der Einladung zum ÖTK-Zukunftstalk, der Stakeholder-Veranstaltung der Österreichischen Tierärztekammer (ÖTK). Durch das Programm führte in gewohnt kurzweiliger und pro­fessioneller Weise der ehemalige ORF-Journalist und ­Moderator Gerald Groß.

ÖTK-Präsident Mag. Kurt Frühwirth eröffnete feierlich und begrüßte die zahlreichen Teilnehmer*innen im repräsentativen Festsaal des Technischen Museums Wien. Den Auftakt der Veranstaltung bildeten die beiden ehrenvollen Videogrußbotschaften von Bundespräsident Alexander Van der Bellen sowie Bundesminister Norbert Totschnig (Anm. d. Red.: sind im internen Bereich der ÖTK-Website abrufbar). Die beiden hochkarätigen Vertreter der Republik Österreich stellten den Tierärzt*innen ein gutes Zeugnis aus und betonten die wichtige Rolle des Berufsstandes in unserer Gesellschaft.

Ein besonderes Highlight der Veranstaltung ­bildete die Verleihung der Ehrennadel der Österreichischen Tierärzte­kammer an Univ.-Prof. Dr. med. vet. Dr. h. c. Walter Baumgartner, Dipl. ECBHM. Die Auszeichnung wurde dem Preisträger in Dank und Anerkennung sowie als Würdigung besonderer Leistungen verliehen (siehe Online-Artikel dazu).

Um entsprechende Lösungen für die Zukunft der tierärztlichen Versorgung entwickeln zu können, präsentierten der bekannte Simulationsforscher Dr. Niki Popper und seine Mitarbeiterin DI Claire Rippinger die erstmals erstellten Prognose-Ergebnisse zur Zukunft der tierärzt­lichen Versorgung. Im Mittelpunkt standen dabei der künftig drohende Tierärzt*innenmangel und die daraus abzuleitenden berufspolitischen Maßnahmen (siehe Online-Artikel dazu). Trotz schweißtreibender Temperaturen ließ sich das Publikum von einer regen Diskussion nicht abhalten – das branchenübergreifende Interesse an der tierärztlichen Standespolitik war überaus groß.

Gastredner Dr. Christian Dürnberger, Philosoph und Ethiker des Messerli Forschungsinstituts der Veterinärmedizinischen Universität Wien, zeigte in seinem Vortrag die moralischen Herausforderungen der Veterinärmedizin in der Nutztierhaltung auf. Er gab Einblick in die Sichtweise von Veterinär*innen und fasste zusammen, welche dringenden Änderungsvorschläge Nutztierpraktiker*innen für die Landwirtschaft hätten, um auch künftig mit tierärztlichem Nachwuchs rechnen zu können. Sein Fazit lautete: „Die Nutztierärztin wird zu einer Gesundheitsmanagerin in einer Gemeinschaftspraxis – und sie will am gesellschaftspolitischen Diskurs über Landwirtschaft aktiv teilnehmen.“

Mit seinem Statement „In den Fehlern der Vergangenheit liegt die Zukunft“ brachte sich Mag. Andreas Jerzö, ÖTK-Landesstellenpräsident Oberösterreich, in die Diskussion ein und mahnte die Tierärzteschaft zu mehr Selbstbewusstsein (auch gegenüber der Landwirtschaft). Man müsse die tierärztlichen Leistungen gut kalkulieren und entsprechend verrechnen – „es liegt an uns, unser Wissen und unsere Expertise zu verkaufen“, so Jerzö. In der Schweiz sei der Nutztierärzt*innenmangel noch nicht so evident; dennoch betonte Dr. Olivier Glardon, Präsident der Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte GST, dass es in den kommenden Jahren ebenso zu einer Versorgungslücke kommen werde. Es gebe bereits jetzt Schwierigkeiten bei der adäquaten Besetzung von offenen Tierärzt*innenstellen. Auch die Frage, welche Tätigkeiten Tierärzt*innen in Zukunft exklusiv ausüben werden bzw. ihnen vorbehalten bleiben, sei in der Schweiz heiß diskutiert. Angesichts von gesellschaftlichen Trends (wie Veganismus und Initiativen zur Nachhaltigkeit) sowie den Bestrebungen neu startender Berufsgruppen (Herdenmana­ger*innen, Vet-Techniker*innen) sei die Branche im Wandel. Erfahrungen aus ihrem Alltag und ihrer Nutztierpraxis brachten die beiden Jungtierärzt*innen Mag. Julia Enichlmayr und Mag. Benjamin Feldbacher in die anschließende Podiumsdiskussion ein. Der Tenor der beiden lautete: „Die Nutztierpraxis bietet trotz allem die Möglichkeit, selbstbestimmt zu arbeiten.“ Auch für Frauen würde der Beruf gute Möglichkeiten und adäquate Zukunftsszenarien bieten. Dennoch sei die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die gelöst werden müsse. Einen besonderen Aspekt im Hinblick auf die finanzielle Situation in der Nutztierpraxis brachte Mag. Enichlmayr ein: „Der Wert des Tierarztes ist in Bezug auf Lebensmittelpreise, Produktionskostendruck und Zusammenarbeit mit der Landwirtschaft eng an den Wert des Tiers geknüpft.“

Um die künftigen Perspektiven der tierärztlichen Tätigkeitsbereiche ging es in der Diskussion am Nachmittag. Mag. Florian Fellinger, Vertreter des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, ging auf die zunehmende Bürokratisierung der tierärztlichen Praxis ein und betonte: „Aus behördlicher Sicht ist die Tierärztin respektive der Tierarzt immer gefragt, vor allem für amtliche Tätigkeiten sowie für Tätigkeiten, welche Tierärzt*innen vorbehalten sind, wie etwa die Abnahme von Blutproben.“ Die große Frage, die sich künftig stellen werde, sei, wie Tierärzt*innen in Zukunft arbeitsteiliger arbeiten können, um den tierärztlichen Berufsstand attraktiver zu machen.

Wirtschaftliche Aspekte brachte der für den Veterinärbereich zuständige Industrievertreter Mag. Andreas Asamer von der Richter Pharma AG ein. Global gesehen würden die „Out of Stock“-Situationen in Zukunft mehr werden, da „die gesetzlichen Rahmenbedingungen strikter und globalisierte Lieferketten inklusive Transportressourcen fragiler werden. Aufgrund des im Vergleich zu anderen Branchen relativ geringen Vetmarkt-Bedarfs fehlen dem Veterinärbereich oft die kritischen Größen beziehungsweise die entsprechende Verhandlungsmacht auf dem Markt“, so Asamer.

Dr. Gloria Gerstl-Hejduk, Sprecherin der Abteilung der selbstständigen Tierärzt*innen in der ÖTK, ging auf die künftige Organisationsstruktur der Tierarztpraxen ein – anstatt des „Einzelkämpfertums“ würden „in Zukunft tierärztliche Kooperationen immer wichtiger werden: Sie bieten die beste Möglichkeit, Familie und Beruf zu vereinen.“ Die Sicht der Angestellten brachte Mag. ­Karoline Paschos, Sprecherin der Abteilung der angestellten Tierärzt*innen in der ÖTK, ein: „Die angestellten Tierärztinnen und Tierärzte wünschen sich faire Arbeitsbedingungen und Wertschätzung. Nur so kann aus unserer Sicht die tierärztliche Versorgung österreichweit gesichert werden.“

Wie besagte Versorgung aus berufspolitischer Sicht gelingen könnte, machte Präsident Frühwirth an Ende der Veranstaltung deutlich (siehe dazu „Die zentralen Forderungen der Österreichischen Tierärztekammer“ im Online-Artikel „Studienpräsentation zur Zukunft des tierärztlichen Berufs“) und sagte abschließend: „Wir freuen uns, dass uns heute dieser intensive Austausch mit unseren Stakeholdern gelungen ist – ich kann Ihnen versichern, auch in den kommenden Jahren haben wir noch einiges vor. Wir werden uns mit aller Kraft dafür einsetzen, um für bereits jetzt erkannte Schwierigkeiten funktionierende Lösungen anzubieten.“


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