Erkenne den Schmerz

des Pferdes

Dr. Ulrike Auer
Abteilung Anästhesiologie und perioperative Intensivmedizin, Vetmeduni Vienna

Für das Tierwohl von Pferden und das Einschätzen der Lebensqualität speziell bei alten und kranken Pferden ist eine objektive Schmerzbeurteilung extrem wichtig. Ein Update aus der Forschung.

Schmerz ist eine unangenehme (aversive) Empfindung und ein emotionales Erlebnis, das mit oder ohne Gewebeschaden einhergeht (Definition IASP). Die Wahrnehmungen eines noxischen/schmerzhaften Stimulus in Form von Wärme, Kälte, mechanischer Einwirkung oder chemischen Substanzen, die durch Gewebeverletzungen aus ­zerstörten Zellen freigesetzt werden, führen immer zu einer Re­aktion des betroffenen Tiers. Es werden schützende und ­vegetative Reaktionen ausgelöst, sie führen zu erlerntem Verhalten und zur Modifikation von artspezifischem Verhalten (Zimmermann 1986).  

Für das Tierwohl von Pferden und das Einschätzen der Lebensqualität speziell bei alten und kranken Pferden ist eine objektive Schmerzbeurteilung extrem wichtig. Schmerz­skalen, unidimensionale oder zusammengesetzte Skalen (Composite Pain Scales, CPS), sind gut geeignet, in der Klinik mittel- bis hochgradige Schmerzen gut zu identifizieren und zu graduieren. Sie sind nicht besonders gut geeignet, geringgradige Schmerzen und unangenehme Empfindungen/Diskomfort aufgrund z. B. einer Entzündung verlässlich und sicher zu identifizieren. Zu bedenken ist, dass es punktuelle Beobachtungen sind, die mehrmals wiederholt werden müssten, um ein gutes Bild über die Schmerzhaftigkeit abzugeben. Die Erkenntnis, dass herkömmliche Scores häufig durch die Anwesenheit einer fremden Person vor der Box eines Pferdes verfälscht sein können (Torcivia & McDonell 2020), führt zur Suche nach neuen Methoden, um diesen Problemen entgegenzuwirken.  

In den Fokus der Forschung sind detaillierte Beschreibungen der Körperhaltung, des mentalen Status und der Beurteilung der Aufmerksamkeit gerückt (Ask et al. 2021). Interessant sind auch die Zeitkontingente für Fressen, Schlafen und Bewegung. Beide Beurteilungsansätze evaluieren unspezifische Reaktionen auf bewusste Wahrnehmung von Schmerz/Diskomfort bzw. auf unangenehme Empfindungen. Die Beurteilung der Körperhaltung sowie das Verständnis der Bedeutung der Körperhaltung können somit frühzeitig zu einer genaueren Diagnose und Behandlung von Lahmheit und anderen Problemen bei Pferdepatienten führen (Gellman 2017). Torcivia & McDonell (2021) ver­öffentlichten zu diesem Thema kürzlich ein „Ethogramm des Diskomforts“ mit grafischer Darstellung schmerz­bedingt veränderter Körperhaltungen.

Um diese Veränderungen zu erkennen, muss man den Normal­zustand eines Pferdes kennen. Die ­Körperhaltung wird am besten während einer Ruhephase beurteilt. Bei ­einer normalen Haltung ist ein Pferd im guten mechanischen Gleichgewicht und verbraucht dabei minimale Energie bei maximaler Stabilität (Gellman 2017). Wenn Pferde auf ebenem Boden stehen, sollten alle vier Rohrbeine wie bei einem Tisch senkrecht zum Boden stehen und die Hufe jeweils parallel zueinander im Rechteck. Die bequemste und funktionell effizienteste Haltung in Ruhe für ein Pferd ist ein gesenkter Nacken mit dem Kopf auf Höhe des Widerristes bzw. knapp darunter oder darüber, ein angehobener Rücken und eingerastete Hinterhand. Wird die ausbalancierte Normalhaltung (aus welchem Grund auch immer) unangenehm, gleicht das Pferd dies aus, indem es sich auf abnormale Weise bewegt bzw. aus der balancierten Körperhaltung herausgeht, um eine angenehmere Position zu finden.  Wenn ein Pferd z. B. während einer ­Ruhephase mit mehr als einem Bein nicht in der Vertikalen steht, kann dies ein Zeichen für eine schmerzbedingte abnormale Ausgleichshaltung sein. Zusätzlich neigen viele Pferde mit chronischer Ausgleichshaltung dazu, ihre Position häufig zu ändern, insbesondere auf harten Bodenoberflächen.

Ein neuer Zugang für eine möglichst objektive Schmerzbeurteilung fußt auf sensorbasierten, automatisierten Methoden, die über längere Zeiträume Pferde beobachten und damit Rückschlüsse auf ihr Wohlbefinden zulassen. Von großem Interesse sind Methoden auf Basis automatisierter Videoanalysen. Deep Learning ermöglicht das Training eines Computers, ein Pferd bzw. Teile eines Pferdes wie Nase, Ohren usw. auf einem Video zu erkennen (Nurey et al. 2020). Aus diesen Daten kann auf das Verhalten des Pferdes geschlossen werden. Eine kommerziell erhältliche Kamera (Acaris, Horse Protector) ist in der Lage, das Verhalten eines Pferdes in der Box über einen längeren Zeitraum darzustellen. Zurzeit untersuchen wir, ob ein Zusammenhang zwischen den Daten, die die Kamera zur Verfügung stellt, und der Schmerzhaftigkeit des Pferdes hergestellt werden kann. Von Interesse ist dabei zum Beispiel das Fressverhalten: Frisst das Pferd, wenn Futter zur Verfügung steht? Hat es einen eigenen Zyklus beim Fressen? Und wie verändert sich das Fressverhalten im Zuge eines Heilungsverlaufes? Kann ein Zusammenhang zwischen Schmerzgrad und Nichtfressen hergestellt werden? Vorteil dieser Methode ist die Möglichkeit, Pferde über lange Zeiträume Tag und Nacht zu beobachten, ohne die Tiere dabei zu stören.

Pferde, die nicht ständig in einer Box stehen, können mit tragbaren Sensoren ausgestattet werden, die ebenfalls mittels Deep-Learning-trainierter Algorithmen das Verhalten eines Pferdes analysieren. Diese Methode eignet sich gut, um das Verhalten eines einzelnen Pferdes zu analysieren und Rückschlüsse auf sein Wohlbefinden zu ziehen. Werden mehrere Pferde gleichzeitig getrackt, kann der Effekt des Haltungsmanagements auf Pferde beobachtet werden (Keleman et al. 2021). So kann man feststellen, wie alte und chronisch kranke Pferde mit den jeweiligen Lebensbedingungen zurechtkommen. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Messung, wie oft und wie lange sich ein Pferd hinlegt, um in einen erholsamen REM-Schlaf zu kommen. Ohne Trackingsysteme ist diese Information kaum zu bekommen, diese identifizieren aber sehr zuverlässig Pferde mit REM-Schlaf-Defizit.

Abschließend kann gesagt werden, dass der Trend zur objektiven Schmerzbeurteilung bei Pferden in Richtung kontinuierlicher Überwachung mit automatisierter Analyse des Verhaltens und im besten Fall auch der Körperhaltung geht. Der Schlüssel für ein sicheres Erkennen auch von gering­gradigen Schmerzen bzw. des Beginns von Diskomfort liegt in einer kombinierten Bewertung von Zeitkontingenten und einer Körperhaltung, die von der Norm abweicht.


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