Das Kaninchen,

das Handstand macht

Tierärztin Tanja Warter

Nein, die Rede ist nicht von einem Zirkustrick, sondern – Sie lesen richtig – von Qualzucht. Leider ist dies nicht die einzige Baustelle von Tieren, die oft schon unter den Haltungsbedingungen leiden.

Man braucht als Halter keine Qualifikation, die Tiere sind preiswert, an jeder Ecke zu haben und Kinder lieben sie – das sind nur einige Faktoren für die Beliebtheit von Kaninchen, Meerschweinchen und Co. Ein Gespräch über versteckte Symptome, züchterische Eskapaden und das liebe Geld.

Frau Doktorin Müller, bei den Leipziger Tierärztetagen haben Sie einmal gesagt, Heimtiere seien auf der Welt, um Tierärzte in die Irre zu führen. Wie kommen Sie zu dieser Auffassung?
Können wir kurz noch etwas klären, bevor wir loslegen?

Ja, natürlich, worum geht es?
Es geht um die Begrifflichkeiten. Ich höre immer wieder Begriffe wie Kleintiere, kleine Heimtiere, Heimtiere, kleine Haustiere und Ähnliches. Dann mache ich die Erfahrung, dass am Ende gar nicht klar ist, worüber man eigentlich spricht, weil vieles vermischt wird. Können wir uns auf Kleinsäuger einigen? Das wäre hilfreich.

Sicher. Also frage ich so: Bei den Leipziger Tierärztetagen haben Sie einmal gesagt, Kleinsäuger seien auf der Welt, um Tierärzte in die Irre zu führen. Wie kommen Sie zu dieser Auffassung?
Weil Kleinsäuger in vielen Bereichen anders leben, als wir das von Hund und Katze kennen. Denken Sie nur an das Miteinander mit dem Menschen: Der Hund etwa ist viel näher am Menschen dran. Kleinste, auch emotionale Veränderungen fallen dem Besitzer deshalb schnell auf. Zur Katze gibt es da schon einen spürbaren Unterschied, aber zum Kleinsäuger ist der Abstand noch einmal deutlich ausgeprägter. Halter sagen oft, das Meerschweinchen zeige ein Verhalten erst seit ein paar Tagen – in Wahrheit geht es dem Tier aber schon länger schlecht.

Also ist die nicht so enge Bindung ein Hauptgrund, warum Kleinsäuger oft so spät vorgestellt werden?
Auch, aber nicht nur. Kleinsäuger sind typischerweise Beutetiere und wollen ihre Symptome verbergen – eine Eigenschaft, die tatsächlich leicht dazu führen kann, eine Untersucherin oder einen Untersucher in die Irre zu führen. Ein Beutegreifer hat es halt eher auf ein Tier abgesehen, das regungslos und zusammengekauert irgendwo sitzt, als auf ein Tier, das sich normal verhält. Zudem sind einige Kleinsäugerarten, wie Kaninchen und Meerschweinchen, sozial lebende Tiere. Geht es ihnen nicht gut und zeigen sie das, werden sie unter Umständen aus der Gruppe ausgeschlossen. Darum: Das Tier will so lang wie möglich gesund wirken. Gerade Meerschweinchen zeigen erst sehr spät, wenn es ihnen nicht gut geht. Und Symptome, die scheinbar nicht so schwerwiegend sind, können auf wirklich schwere Krankheiten hindeuten – Stichwort: das inappetente Kaninchen. Viele Besitzer sehen das ­locker, weil es bei Hunden kein Weltuntergang ist, wenn sie ein, zwei Tage nicht so gut fressen. Bei Kaninchen ist das aber nicht so.

Wie nützlich wären prophylaktische Routineuntersuchungen?
Das würde auf jeden Fall etwas bringen. Dabei gebe ich aber zu bedenken, dass wir auch dann nicht alles erkennen können. Typisches Beispiel: E. cuniculi. Das Kaninchen hat sich infiziert, als es jung war. Es hat jahrelang keine Symptome, und dann kommt Tag X. Auch ich als Tierärztin kann das nicht vorhersehen. Bei Meerschweinchen und Nagern gibt es Routineuntersuchungen im Grunde gar nicht. Viele Kolleginnen und Kollegen sagen, es wäre am besten, wenn man das Tier jedes halbe Jahr zu Gesicht bekäme, oder zumindest einmal im Jahr. Das sollten wir den Besitzern vermitteln.

Aber die Gruppe der Kleinsäuger ist eben sehr vielfältig. Was bringt es dem Hamster, der nur zwei Jahre alt wird, wenn er dazwischen einmal zur Prophylaxeuntersuchung geht?
Ja, klar. Besitzer von Hamstern oder Mäusen sind prophylaktischen Maßnahmen gegenüber nicht besonders aufgeschlossen. Dabei spielen die geringe Lebenserwartung und die niedrigen Anschaffungskosten eine entscheidende Rolle. Wenn das Tier im Handel 20 Euro kostet, wird es für den einen oder anderen Halter schwierig mit den Tierarztkosten. Bei Kaninchen gibt es ein starkes Stadt-Land-Gefälle: Wenn wir in ländlichen Gegenden Fortbildungen geben, hören wir Sätze wie „Das bezahlt kein Mensch!“ oder „Der Züchter kloppt das Tier vor’n Kopp!“. (Anm.: Berlinerisch flapsig für: Der Züchter bringt das Tier um, haut ihm eins auf den Schädel). Trotzdem: Mein Eindruck ist generell, dass das Ansehen des Kaninchens als Familienmitglied deutlich gestiegen ist.

Wie ist denn die Sachlage zum Thema Qualzucht bei Kaninchen?
Dazu haben wir bisher keine gute Datengrundlage. Viel wird verbreitet und geredet, aber oft ohne Fakten dahinter. Die Datenlage ist einfach mau. Das runde, kleine Kaninchen zum Beispiel hat mit Kurzköpfigkeit wahrscheinlich gar nicht so ein massives Problem wie ein Hund. Es gibt eine Doktorarbeit aus unserem Haus, die auf das Gebiss bezogen im Vergleich zu normalköpfigen Kaninchen keine Veränderung der anatomischen Verhältnisse festgestellt hat.

Und Schlappohrkaninchen oder Widder: Haben die nun öfter Otitis oder nicht?
Da ist die Diagnostik inzwischen besser. Früher konnten wir nur im Ohr sehen: Hoppla, da ist es aber eng! Jetzt mit CT wissen wir, dass oft Sekret dahinter und die Bulla gefüllt ist. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass Widderkaninchen da ein Problem haben. Aber was ist die Konsequenz für uns – Widderkaninchen verbieten? Das werden wir nicht hinbekommen, denn nicht 100 Prozent der Widderkaninchen haben das Problem. Ist die Konsequenz, dass wir diese Tiere jetzt operieren, um ­Schäden zu verhindern, wie wir das bei Möpsen machen? Mir fällt dazu momentan keine gute Lösung ein. Man kann im End­effekt wohl nur sagen: Leute, kauft keine Widder­kaninchen! Kennen Sie schon den neuesten Qualzuchttrend?

Kommt darauf an. Welchen meinen Sie?
Haarlosigkeit bei Kleinsäugern. Das kommt sicher auf uns zu. Haarlose Meerschweinchen sind schon recht weit verbreitet. Da werden oft Allergiker vorgeschoben, für die diese Tiere angeblich geeignet wären. Dass das fehlende Fell und die fehlenden Tasthaare mit viel Leid für diese Tiere verbunden sind, wird nicht thematisiert. Wir als Tierärzte müssen alles tun, um die Verbreitung solcher Dinge zu verhindern. Wir sind hier in der Verantwortung. Aber es geht noch verrückter. Kürzlich hatten wir eine besondere Missbildung: Kaninchen, die Handstand machen. Ich hatte das vorher noch nie gesehen. Im Internet fand ich schließlich in verschiedenen Foren Videos solcher Tiere. Viele machen nur einen Hoppel, gehen dann gleich in den Handstand und laufen auf den Vorderpfoten weiter. In Frankreich wurde diese Veränderung bei Kaninchen schon länger in bestimmten Zuchten beobachtet und seit letztem Jahr weiß man, dass diese überhaupt nicht artgerechte Fortbewegungsart vererbbar ist, und man kennt die Loci. Ich bin mir sicher, dass es Züchter geben wird, die solche Tiere gezielt züchten, weil sie für den Betrachter putzig sind. Für die Tiere ist es eine Katastrophe.


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