KI in der Veterinärmedizin –

Chance oder Risiko für Tierarztpraxen?

Lisa Reichenauer

Die Begriffe künstliche Intelligenz (KI) und Digitalisierung sind heutzutage allgegenwärtig und in etlichen Branchen zum täglichen Begleiter geworden. Das Wachstum der neuen Technologien scheint ungebrochen – diese finden in der jüngsten Vergangenheit auch vermehrt in der Veterinärmedizin Anwendung.

In der Veterinärmedizin wird vor allem bei den diagnos­tischen Hilfsmitteln immer häufiger auf intelligente Computertechnologie zurückgegriffen, um Diagnoseprozesse zu beschleunigen und die Handlungsfähigkeit der Tierärzt*innen zu steigern.

Doch was bedeutet der Einsatz von künstlicher Intelligenz tatsächlich für die Tierarztpraxen und welche Heraus­forderungen bringt die neue Technologie für die Veterinärmedizin? Fragen, die sowohl die Wissenschaft als auch die Praxis gleichermaßen beschäftigen.

Einer, der KI-basierte Technologien bereits in seinen Arbeitsalltag integriert hat, ist Dr. Raphael Höller. Der Nutztierarzt aus Niederösterreich arbeitet seit sechs Jahren im diagnostischen Bereich mit digitalen Hilfsmitteln und ist vom positiven Einfluss der KI-gestützten Technologie überzeugt. Die Leistungen eines Grazer Startup-Unternehmens, das sich auf die Früherkennung mittels Pansenboli spezialisiert hat, haben Dr. Höller überzeugt.  „Ich arbeite im diagnostischen Bereich etwa mit einem digitalen mobilen Blutanalysegerät, das mir eine Sofortanalyse beim Tier vor Ort ermöglicht und mir das Ergebnis binnen weniger Minuten zeigt. Früher musste ich dafür extra hin- und herfahren. Das ist eine wesentliche Erleichterung nicht nur für mich, sondern auch für den Tierbesitzer“, kommentiert Dr. Höller. Vor allem in der Nutztierbranche ist man laut dem niederösterreichischen Tierarzt als Veterinär dazu auf­gefordert, sich mit digitalen Technologien auseinanderzusetzen, denn immer mehr Landwirte würden auf smarte Computergeräte im Stall setzen.

„Die Arbeit mit digitalen Systemen ist in unserer Praxis mittlerweile ein Muss. Viele Landwirt*innen nutzen etwa sogenannte Pansenboli zur Überwachung des Gesundheitszustands ihrer Kühe. Das heißt, die Landwirt*innen – und auch ich als Veterinär – sehen über eine App die pH-Werte, Fieberwerte und Stoffwechselwerte des Tiers. Hat eine Kuh Fieber, schlägt das System Alarm und wir können circa eineinhalb bis zwei Tage früher als mit herkömmlichen Methoden intervenieren“, so der Nutztierarzt.

Ein großer Vorteil, der durch die von Melkrobotern, Ohrmarken-Brunstsystemen und Pansenboli gewonnenen Daten entsteht, ist laut Dr. Höller vor allem der geringere Einsatz von Antibiotika und das damit verbundene erhöhte Tierwohl sowohl auf Herden- als auch auf Einzeltierebene. Ein kleiner Nachteil der sich allerdings durch die digitalen Messsysteme ergeben kann, sei etwa die geringere Kontrolle der Landwirte am Tier selbst: „Oft verlässt sich der Landwirt nur noch auf die Alarmsignale der digitalen Geräte und kontrolliert nicht mehr am Tier selbst. Dadurch geht etwas Wesentliches verloren, und es liegt dann bei mir als Tierarzt, darauf hinzuweisen, dass trotz der Systeme auch noch einmal selbst am Tier nachgefühlt werden muss, um die Messwerte zu kontrollieren – denn auch die digitalen Daten können fehlerhaft sein“, erläutert Dr. Höller.

Die größten Herausforderungen für die Veterinärbranche sind für den Nutztierarzt allerdings künftig der Kampf gegen den Tierärztemangel sowie die Frage der Bereitschaft von Kolleg*innen, sich den neuen Technologien zu öffnen – letztere ist eine Frage, der auch der Unternehmensberater Raphael Witte ins Auge sehen muss. Der Deutsche hat sich auf die Veterinärbranche spezialisiert und berät nahezu täglich Tierärzt*innen im Umgang mit Praxismanagement und Effizienzsteigerung.

Digitalisierung bietet Chancen

„Ich erlebe es immer wieder, dass Tierarztpraxen an ihre Auslastungsgrenzen stoßen, weil auch in der Veterinärbranche ein massiver Personalmangel herrscht. Digitale Technologien wie etwa KI können hier eine wertvolle Unterstützung sein und viel Arbeitserleichterung schaffen. Leider sind das Bewusstsein und die Bereitschaft für die neue Technologie aber in vielen Tierarztpraxen noch nicht da. Hier braucht es noch viel Kommunikationsarbeit, denn künstliche Intelligenz wird in Zukunft immer mehr zum Thema werden – und das nicht nur aus Gründen der Personalressourcen“, so Witte.

Vor allem die Tierbesitzer*innen würden laut dem deutschen Businessberater eine wesentliche Rolle in der „Zwangsmodernisierung“ von Tierarztpraxen spielen. „Durch die Digitalisierung anderer Lebensbereiche ändert sich die Erwartungshaltung von Tierbesitzern an die tiermedizinische Versorgung. Tierärzte müssen sich somit langfristig für neue Technologien öffnen, um nicht den Anschluss zu verlieren“, argumentiert der deutsche Veterinär-Berater.

Auch Veterinärproduktehersteller sehen das ähnlich. „Die Zukunft ist digital und im Gesundheitswesen wird künstliche Intelligenz die Medizin in vielen Bereichen unterstützen; so auch in der Veterinärmedizin. Künstliche Intelligenz ist schnell und effizient, sie wird nie müde, schläft nie und ist immer gleich stark motiviert, ihre Arbeit zu erledigen. Außerdem liegen die Ergebnisse der KI-Analysen innerhalb weniger Minuten vor, wodurch sofort eine gezielte Therapie eingeleitet werden kann“, erklärt die ausgebildete Tierärztin Michaela Klager, die bei einem weltweit agierenden Tiergesundheitsunternehmen beschäftigt ist.

Vielfältiges Einsatzgebiet für KI

Dass KI in der Veterinärmedizin deutlich an Relevanz gewinnt, zeigt sich auch in der Wissenschaft. So kommen etwa in der Mikroskopie-Lehre intelligente Computergeräte zum Einsatz; aber auch im Bereich der Pathologie gibt es aktuelle Forschungsprojekte, etwa an der Veterinärmedizinischen Universität Wien: Hier wird aktuell an einer Entwicklung von KI-unterstützten Bildanalyse-Algorithmen geforscht. „Die Digitalisierung verändert auch die Arbeitsweisen der Pathologie stark. Viele Labore digitalisieren ihre histologischen Präparate und untersuchen nun Bilder am Monitor und nicht mehr Glasobjektträger unter dem Lichtmikroskop. Das führt zu einer Steigerung der Effizienz in Laboren, insbesondere bei zeitaufwendigen Quantifizierungsaufgaben wie der Auszählung von Mitosefiguren. Aber auch die Reproduzierbarkeit sowie die Genauigkeit der Diagnosen werden durch eine digitale Bildanalyse verbessert. Insbesondere für große Labore ist das ein sehr interessanter Entwicklungsschritt“, konstatiert Veterinärpathologe Dr. Christof Bertram von der Vetmeduni Wien. Der großflächige Einsatz KI-gestützter Bildanalyse-Algorithmen ist laut dem Forscher nur noch eine Frage der Zeit.

Künstliche Intelligenz beziehungsweise maschinelles Lernen sind also zweifelsohne auch in der Veterinärmedizin auf dem Vormarsch – und wie jede Veränderung bringt dies sowohl Chancen als auch Herausforderungen mit sich, die es künftig zu erkunden und zu bewältigen gilt.


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