Fallbericht:

Diagnostik und Therapie eines Short-Ulna-Syndroms bei einem fünf Monate alten Mischlingsrüden

Mag. Karin Egger, GPCert (SAS)
Tierärztin im ACC Kleintierzentrum Rosental

Ein einseitig gestörtes Ulnawachstum führte bei einem fünf Monate alten Mischlingsrüden zur Ausbildung einer Deformation der rechten Vorderextremität. Die daraus resultierende Ellbogeninkongruenz wurde durch eine distale dynamische Ulnaostektomie (DDUO) ausgeglichen.

Anamnese und Klinik

„Milo“, ein fünf Monate alter Yorkshire-Terrier-­Mischling, wurde aufgrund von Lahmheit vorne rechts vor­gestellt. Die Lahmheit bestand seit zwei Wochen und ver­schlechterte sich langsam, vor allem abends war sie für die Patientenhalter deutlich. Milo (Abb. 1) war regelmäßig geimpft, entwurmt, nie im Ausland und wurde mit handels­üblichem Welpenfutter gefüttert.

Die klinische Untersuchung ergab keine Auffälligkeiten. Im orthopädischen Untersuchungsgang zeigte sich im rechten Carpus eine Valgusstellung (Abb. 2) sowie eine Stützbeinlahmheit ersten Grades an der rechten Vorderextremität. Die oberflächliche und tiefe Palpation der Vorder­extremitäten ergab keine weiteren Auffällig­keiten. Ein neurologischer Untersuchungsgang wurde an­geschlossen und war ohne Befund.

Differenzialdiagnosen

Die Differenzialdiagnosen für eine Lahmheit der Vordergliedmaße sind vielfältig und reichen von Verletzungen über Wachstumsstörungen und metabolische Erkrankungen bis hin zu gelenksspezifischen Erkrankungen (z. B. OCD, FPC, FPA). Frakturen, Bandveränderungen, Luxationen oder Infektionen kommen ebenfalls infrage. Der ein­seitige Carpus valgus ist deutlich spezifischer und engt die Differenzial­diagnosen auf folgende Pathologien ein:

•    Deformationen von Radius und/oder Ulna durch vorzeitigen Epiphysenfugenschluss
•    retinierter Ulna-Knorpelzapfen
•    Kongenitale Ellenbogenluxation (Typ 1)
•    Hypertrophe Osteodystrophie
•    Frakturen (vor allem bei Metacarpus-2-Frakturen)
•    Verletzung der Kollateralbänder des Carpus

Weiterführende Untersuchungen und Diagnose

Es wurden vergleichende Röntgenbilder der beiden Vorder­extremitäten angefertigt (Abb. 3 bis 5). Dabei war in beiden Ebenen eine Achsenabweichung der rechten Gliedmaße mit Torsion, Procurvatum und Ausbildung eines Carpus valgus zu erkennen. Eine negative radio­ulnare Inkongruenz (Radius länger als Ulna) war ebenfalls ersichtlich. Die Diagnose lautet somit Short-Ulna-Syndrom. Zur detaillierten Beurteilung einer Gliedmaßenfehlstellung empfiehlt es sich, auf korrekte Lagerung zu achten. Im Bereich des Unterarms bedeutet dies, in der Frontalebene auf „elbow straight“ zu achten.1 Dabei soll der Processus anconaeus weder medial noch lateral sichtbar werden, die Distanz zwischen dem medialen Epicondylus des Hu­merus und des medialen Kortex des Olecranons soll 45 % der gesamten transkondylären Distanz betragen.1 In der Sagittalebene sollen die Humeruskondylen so zu liegen kommen, dass Kreise über die beiden Kondylen gezogen werden können, deren Linien sich nicht kreuzen.1

Short-Ulna-Syndrom

Durch ihre konische Form ist die distale Ulnaepiphyse anfälliger für Verletzungen als andere Epiphysenfugen.1 Kommt es bei flachen Wachstumsfugen zu einem Ein­wirken von Scherkräften, kann ein Längenwachstum weiterhin stattfinden, solange die Keimzellen unverletzt bleiben. Speziell die an dieser Stelle häufige Salter-Harris-Typ-5-Fraktur führt aber zu einem Schluss der Epiphysen­fuge.2 Auch durch Veranlagung kann es zu einem vor­zeitigen Schluss kommen.

Die Ulna bleibt im Wachstum zurück, der Radius verbiegt sich durch die enge Beziehung zur Ulna nach kranial (Procurvatum) und rotiert.1 Es entsteht ein Carpus valgus sowie eine humeroulnare Inkongruenz. Eine relative Verkürzung der Ulna kann auch ohne vorzeitigen Epiphysen­fugen­­schluss entstehen, wenn es zu einer radioulnaren Synos­tose kommt, bevor sich die proximale Wachstums­fuge des Radius verschließt 3, denn die distale Ulna­epiphyse bewirkt 100 % des Längenwachstums der Ulna, während 30–50 % des Radiuswachstums aus der proximalen Epiphyse kommen.1 Die Folge der Inkongruenz ist die Osteoarthrose des Ellbogengelenks bis hin zur Sub­luxation des radioulnaren und humeroulnaren Gelenks.4

Therapieempfehlungen

Die Therapie zielt darauf ab, die Ellbogenkongruenz zu verbessern, um das Fortschreiten der Osteoarthrose zu vermindern. Dabei unterscheidet man zwischen dynamischen (keine Fixation nach Ostektomie oder keine Beschränkung der Längsachse bei Osteotomie) und sta­tischen Verfahren (Fixation aller Ebenen durch z. B. Osteo­syntheseplatten).1 Bei Jungtieren zwischen dem vierten und sechsten Lebens­monat ist die DDUO die Therapie der Wahl.5 Der Vorteil ist, dass die dynamische Anpassung über einen längeren Zeitraum (während des Wachstums) bestehen bleiben kann.1 Der proximale Bereich der Ulna kann sich frei bewegen und verbessert so die Ellenbogenkongruenz.5 Die DDUO wird außerdem gut toleriert.5 Ein frühzeitiger Verschluss der Ostektomiestelle ist nicht erwünscht.1

Nach dem sechsten Lebensmonat ist das Ligamentum interosseum nicht mehr flexibel genug, um ausreichende Bewegung zu ermöglichen. Zwischen dem sechsten und zwölften Lebensmonat wird eine bi-oblique proximal­zentrierte dynamische Ulnaosteotomie empfohlen5, ein frühzeitiger Schluss der Osteotomiestelle ist dann erwünscht.1 Statische Verfahren sind beim adulten Hund möglich.1 Die Bestimmung über die Konfiguration des neu ausgerichteten Knochens liegt aber alleine beim Chirurgen.1 Die DDUO erlaubt dem Ligamentum interosseum die Stabilisierung gegen die Biegekraft des Trizeps, während sein axialer Zug möglich ist und ein Nachoben­gleiten der Ulna erlaubt.1 Ein uneingeschränktes Längenwachstum des Radius ist wieder möglich. Eine Verletzung des Kortex des Radius während der Operation kann zu einer frühzeitigen Synostose zwischen Radius und Ulna führen und ist zu vermeiden.5

Verlauf Milo

Nach der Erstuntersuchung lehnten die Patientenhalter eine sofortige DDUO ab. Milo erhielt 0,1 mg/kg Meloxi­cam per os für sieben Tage. In dieser Zeit zeigte sich keine Lahmheit. Nach dem Absetzen kehrte die Lahmheit zurück, weshalb zehn Tage nach der Diagnosestellung eine DDUO durchgeführt wurde.

Distale dynamische Ulnaostektomie, DDUO

Die Hautinzision erfolgte lateral am Unterarm am Übergang zwischen mittlerem und distalem Drittel der Ulna. Der Musculus extensor digitalis lateralis wurde vom Musculus extensor carpi ulnaris separiert und damit die Ulna freigelegt. Die Ulnametaphyse wurde zweimal durchtrennt, während mit steriler Kochsalzlösung gespült (gekühlt) wurde (Abb. 6). Die Schnittwinkel wurden parallel zueinander und senkrecht zur Ulnametaphyse gewählt, in einem Abstand von ca. 1,5 cm zueinander. Es wurde auf das vollständige Abtragen des Periosts geachtet, um einen vorzeitigen Schluss der Ostektomiestelle zu verhindern; das Ligamentum interosseum wurde nicht mobilisiert, um das Periost des Radius nicht zu verletzen (Abb. 7). Subkutis und Haut wurden fortlaufend verschlossen. In der postoperativen Röntgenkontrolle wurde die Ostektomie­stelle evaluiert und als korrekt beurteilt (Abb. 8 und 9). Milo erhielt 0,1 mg/kg Meloxicam für vier Tage.

Follow-up

An Tag 2 post opera­tionem zeigte Milo eine ­Lahmheit zweiten Grades vorne rechts (Abb. 10). Die Naht war in situ, die Wunde trocken. Bereits zehn Tage post OP war keine Lahmheit mehr nachweisbar. Die Patientenhalter berichteten, dass auch abends keine Lahmheit mehr auftrat. Die Gliedmaßenfehlstellung (Procurvatum, Carpus valgus, Torsion) wurde wie erwartet nicht unmittelbar durch die Ostektomie beeinträchtigt (Abb. 2). Sechs Wochen nach der DDUO zeigte sich in Kontrollröntgenbildern, dass die Ostektomiestelle wie gewünscht noch nicht durch einen Kallus verbunden war (Abb. 11, 12).

Conclusio

Die DDUO brachte in Milos Fall eine direkte Entlastung des Gelenks, was sich in einem Abklingen der Lahmheit zeigte. Das Ziel der DDUO ist nicht die Korrektur des Radius Curvus, sondern die Wiederherstellung der Ellenbogenkongruenz. Das frühzeitige Eingreifen kann einer Verschlechterung der Deformation vorbeugen, weil ein korrektes Wachstum des Radius wieder möglich wird. Die Notwendigkeit einer statischen Korrektur-Osteotomie nach Epiphysenfugenschluss kann allerdings nicht ausgeschlossen werden. In Milos Fall wird eine neuer­liche Evaluierung mit korrekt gelagerten Röntgenbildern oder eine CT-Untersuchung nach Epiphysenfugenschluss angestrebt.

 

Literaturliste

1 Fox D. B., Tomlinson J. L., (2018) principles of angular limb deformity correction, Kapitel 46, und Fox D. B., (2018) Radius and Ulna, Kapitel 54, in Veterinary Surgery: Small Animal, Auflage 2 (Peck J. N., Kent M.: Section Editors; Johnston S. A., Tobias K. M.: Editors) Missouri, Elsevier GmbH. 896-919; 762–774
2 Fossum T. W., (2021) Kapitel 33.8, Management spezifischer Frakturen, in Chirurgie der Kleintiere, Auflage 5 (Fossum T. W.: Editor) München, Elsevier GmbH. 1214–1218
3 Noser G. A., Carrig C. B., Merkley D. F., Brinker W. O., (1977) Asynchronous growth of the canine radius and ulna: effects of cross pinning the radius to the ulna. Am J Vet Res 38(5) 601–610
4 Olson N. C., Carrig C. B., Brinker W. O., (1979) Asynchronous growth of the canine radius and ulna: effects of retardation of longitudinal growth of the radius. Am J Vet Res 40(3) 351–355
5 Vezzoni A., (Rackwitz R., Pees M., Aschenbach J. R., Gäbel G.: Editors) (2017) Early treatment of elbow dysplasia with dynamic ulna osteotomies. LBH: 9. Leipziger Tierärztekongress, Band 1 303–305


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