„Das Arche Noah Prinzip“:

Heilung aus dem Tierreich

Dr. med. vet. Elisabeth Reinbacher

Wie wichtig die Artenvielfalt für uns Menschen ist, wie die Tierwelt und die Menschheit in Wechselwirkung stehen und was wir tun können, um all das zu erhalten, beschreibt Dr. med. vet. René Anour in seinem neuen Buch. Das Vetjournal führte ein Interview mit dem Veterinärmediziner.

Alle reden über aussterbende Tierarten, aber den wenigsten ist bewusst, was das wirklich bedeutet: Wir verlieren damit einen Genpool von unschätzbarem Wert, der uns helfen könnte, Krankheiten zu heilen, die wir zum Teil noch gar nicht kennen. Der ­Veterinärmediziner Dr. med. vet. René Anour hat ein Buch geschrieben, das zeigt, wie die Tierwelt und die Menschheit in Wechsel­wirkung stehen, wie wichtig die Artenvielfalt für uns ­Menschen ist und was wir tun können, um all das zu erhalten.

Dr. med. vet. René Anour ist ein promovierter Veterinär­mediziner und arbeitet als medizinischer Experte in der humanen Medikamentenzulassung auf europäischer ­Ebene. Seine Passion, die Schriftstellerei, ist in den ­letzten Jahren immer mehr in den Vordergrund gerückt: Er ist als Autor medizinisch-historischer Kriminalromane schon seit geraumer Zeit kein unbeschriebenes Blatt mehr, ­seine Bücher sind auf der österreichischen Bestsellerliste zu ­finden. Nun hat er sich an ein völlig neues Projekt gewagt: Er hat ein Fachbuch geschrieben, das unlängst veröffentlicht wurde.

„In meinem Buch ‚Das Arche Noah Prinzip‘ geht es um aktuelle Forschungsergebnisse, die zeigen, welch unglaublich großes Potenzial in der Tierwelt zu finden ist, um die menschliche Gesundheit verbessern zu können. Die Lösung für viele Erkrankungen des Menschen kann in Anpassungsstrategien des Tierreichs liegen“, fasst der Schriftsteller inhaltlich zusammen. Weiters erklärt er, wie er auf die Idee kam, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen: „Seit jeher fasziniert mich dieses Thema sehr, in meinem Studium habe ich den Schwerpunkt Conservation Medicine gewählt. Dieses Modul beschäftigt sich mit der Interaktion zwischen Ökosystemen, Tieren und Menschen. Ich habe aus Eigeninteresse fortlaufend recherchiert, welche ­neuen Forschungsergebnisse publiziert wurden, und das Buch dann innerhalb der letzten sechs Monate geschrieben.“

Das „Arche Noah Prinzip“ ist in mehrere thematische Abschnitte mit zahlreichen Kapiteln und Beispielen gegliedert, zu finden sind etwa physiologische Anpassungen in der Tierwelt, Tiergifte und der Einfluss von Tieren auf die mentale Gesundheit des Menschen.

Der Leser/die Leserin lernt eine Vielzahl von ­Lebewesen mit ihren besonderen Fähigkeiten kennen und erfährt, wie ­diese für die Gesundheit des Menschen nutzbar sein könnten. Autor Dr. Anour führt an: „Ein extrem spannendes Beispiel aus der Rubrik der Anpassungen ist der Nacktmull. Dieses Nagetier lebt in streng organisierten Kolonien in Ostafrika, hat eine für seine Größe sehr hohe Lebenserwartung von etwa 30 Jahren und entwickelt keine Tumore. Forscher gehen derzeit unter anderem davon aus, dass eine spezielle Version der Hyaluronsäure, welche um ein Vielfaches größer und wasserbindungsfähiger ist als bei anderen Säugetieren, für eine bessere Kommunikation der Immunzellen sorgt, wodurch Krebszellen frühzeitig erkannt und inhibiert werden können. Das und die Tatsache, dass der Nacktmull kaum altert, machen ihn wissenschaftlich sehr interessant für das Verständnis der Entstehung von Tumoren und die Suche nach Möglichkeiten, selbige zu verhindern.“ Dr. Anour weiter: „Die Haltung dieses Nagetiers als Versuchsorganismus ist wiederum sehr schwierig, was seiner sehr komplexen sozialen Lebensweise geschuldet ist. Nacktmulle leben in großen hierarchischen Kolonien, die von einer Königin dominiert werden. Sie ist bis zu ihrem Lebensende das einzige fortpflanzungsfähige Weibchen; sie stresst durch aggressives Verhalten die übrigen Weibchen so sehr, dass deren Ovarien nicht ausreifen und nicht funktionstüchtig sind.“

Auch tierische Toxine sind ein potenzieller Pool für Medikamente der Zukunft und neuerdings wieder stärker in den Fokus der Forschung gerückt. Schon in der Vergangen­heit spielten Tiergifte im Zusammenhang mit Medikamenten eine Rolle – ACE-Hemmer beispiels­weise wurden in den 1960er-Jahren aus einem Schlangengift entwickelt. Dr. Anour betont, dass es die moderne Technik nun ermöglicht, die Giftcocktails von sehr kleinen Tieren wie Spinnen oder Skorpionen, die nur minimale Giftmengen bilden, zu analysieren. „Tiergifte enthalten meist eine ­große Anzahl unterschiedlicher biologisch aktiver ­Stoffe. Vor allem im Bereich der Therapie chronischer Schmerzen gibt es mehrere vielversprechende Kandidaten, aus ­denen zukünftig potente Schmerzmittel entwickelt ­werden könnten, und zwar ohne eine gefürchtete Nebenwirkung, das Suchtpotenzial. Besonders in den USA gibt es unzählige opioidabhängige Menschen, in manchen Regionen ist fast jede Familie in irgendeiner Art davon betroffen, was zeigt, wie wichtig es wäre, andere Möglichkeiten der Schmerzbekämpfung zu finden“, erklärt der Mediziner und fährt fort: „Auch hinsichtlich einer weiteren Sucht wird im Bereich der tierischen Toxine geforscht: Das Gift des Kugelfischs könnte Heroinabhängigen helfen, Entzugserscheinungen zu mildern.“

Ein anderer Themenblock ist die Tierwelt im Zusammenhang mit der mentalen Gesundheit des Menschen. Der Autor hebt hervor: „Hier haben unsere Haustiere einen besonderen Stellenwert. Diese haben sich über Jahrtausende an den Menschen angepasst, die Bindung zwischen Mensch und Haustier ist über die Oxytocinausschüttung stark hormonell geprägt. Zudem werden Haustiere auch für Therapiezwecke eingesetzt und leisten dadurch einen großen Beitrag zur mentalen Gesundheit.“ Doch auch die Artenvielfalt von heimischen Wildtieren ist für das menschliche Wohlbefinden ganz essenziell.

„Alleine wenn man bedenkt“, so Dr. Anour, „dass in den letzten 30 Jahren jede zweite Feldlerche verschwunden ist, kann man die Reduktion der Artenvielfalt bei den heimischen Wildtieren greifbar machen. Ein Spaziergang in der Natur beeindruckt und berührt, führt zu großartigen Erlebnissen und beeinflusst den Menschen im positiven Sinne.“

Außerdem geht der Tierarzt in dem Buch auch darauf ein, dass Pandemien sehr stark mit dem Raubbau an der Natur in Zusammenhang stehen. „HIV entstand in den 1920er-Jahren in Kamerun, als die lokale Bevölkerung von den Kolonialherren immer weiter in den Urwald zurückgedrängt wurde, wo sie sich aus Mangel an anderer Nahrung teilweise von Schimpansenfleisch ernährte. Die Affen waren Träger des Simianen Immundefizienz-Virus, das dann schließlich auf den Menschen übersprang und zu HIV mutierte“, erörtert der Mediziner und führt weiter aus: „Auch intensive Nutztierhaltung ist eine Brutstätte für Pandemien. Die Schweinegrippe-Pandemie hatte ihren Ursprung in riesigen Schweineställen in Mexiko, wo verschiedene virale Stämme zusammenkamen und sich daraus ein sehr infektiöses Grippevirus entwickeln konnte. Das Sars-Coronavirus ist wahrscheinlich in Pelztier­farmen entstanden. Während der Covid-Pandemie wurden in Dänemark Nerze gekeult, weil sich in den dortigen Farmen eine neue Variante des Virus entwickelt hatte. Gäbe es solche Haltungsformen nicht, könnten sich Viren auch nicht in diesem Ausmaß verändern.“

Ein Fachbuch, das stellt man sich nun eher trocken und faktenbezogen vor, doch der Autor betont: „Ich habe schon mehrere Krimis geschrieben, wo das Eintauchen in eine Geschichte im Vordergrund steht. Diesen Anspruch hatte ich auch an dieses Fachbuch; es soll korrekte, gut ­recherchierte wissenschaftliche Daten so präsentieren, dass sie spannend und flüssig lesbar sind. Der Leser soll von der Artenvielfalt und ihren großartigen Fähigkeiten begeistert sowie zum Staunen und Nachdenken angeregt werden.“ Zusätzlich werden Empfehlungen gegeben, wie jeder Einzelne einen Beitrag zum Schutz der Artenvielfalt leisten kann.

Ohne erhobenen Zeigefinger Bewusstsein schaffen

Dazu meint Dr. Anour: „Es ist kein Buch des erhobenen Zeigefingers, ich möchte eher versuchen, die Leser zu motivieren, und gebe Tipps, wie wir in Österreich unsere Natur schützen können: aktiv gegen die Bodenversiegelung einzutreten, den eigenen Garten insekten- und wildtierfreundlich zu gestalten oder auch dem Neubau von Gewerbeparks kritisch gegenüberzustehen. Auch die intensive Nutztierhaltung stellt klima- und umwelttechnisch ein großes Problem dar – weniger Fleisch, und dafür von Tieren aus extensiver Haltung, wäre ebenso ein guter Beitrag. Eine letzte Empfehlung, welche mir persönlich sehr am Herzen liegt, ist, dass wir die Natur um uns herum kennenlernen sollten: Wenn man nicht weiß, welche Vögel und Insekten im Garten oder Park leben, gehen sie einem auch nicht ab, wenn sie verschwinden. Sobald wir uns für die Natur um uns herum interessieren, beginnen wir, eine Beziehung zu ihr aufzubauen, wir lieben und schätzen sie und werden versuchen, sie zu erhalten.“  

Die Schlussworte des Schriftstellers hinterlassen einen bleibenden Eindruck: „Selbst im sehr unrealistischen Best-Case-Szenario, also wenn die Pariser Klimaziele erreicht werden, werden wir etwa ein Viertel der Artenvielfalt verlieren. Die Tierwelt ist eine wertvolle Schatztruhe, die nicht verbrannt werden sollte, bevor sie geöffnet wurde, auch wenn das zum Teil schon passiert ist.“


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