Tierärzt*innen-Mangel:

Österreich ist mit diesem Problem nicht allein

Mag. Silvia Stefan-Gromen

Der Nachwuchsmangel unter Tierärzt*innen ist weiterhin in aller Munde, zahlreiche Medien berichten laufend über das Thema und zeigen jene Herausforderungen auf, die die Österreichische Tierärztekammer seit Längerem anspricht: Die flächendeckende tierärztliche Versorgung kann in Zukunft nicht mehr gewährleistet werden – gerade in ländlichen Regionen sind die Konsequenzen bereits jetzt spürbar.

Wir sind mit diesem Problem nicht allein – auch in der Bundesrepublik Deutschland gibt es einen zunehmenden Mangel an Veterinär*innen. Wie deutsche Medien berichten, gibt es derzeit deutschlandweit knapp 33.000 tierärztlich tätige Veterinär*innen, knapp 12.000 davon mit eigener Praxis, die übrigen in einem Angestelltenverhältnis. Doch der Schein trügt, denn nur noch knapp 16 % der Tierärzt*innen sind auch tatsächlich in der tierärztlichen Versorgung landwirtschaftlicher Nutztiere tätig.

Die Gründe, weshalb der Nachwuchs fehlt, sind in Deutschland die gleichen wie auch in Österreich: Im Nutztierbereich sind die Arbeitsbedingungen nicht nur herausfordernd, sondern auch (finanziell) unattraktiv, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist schwierig und die Work-Life-Balance im Kleintierbereich einfach besser; aber auch das Auswahlverfahren für Tiermedizin­studierende wird als problematisch gesehen. Auch in Deutschland werden dazu Forderungen auf den Tisch gelegt, oft sind diese deckungsgleich mit jenen der ÖTK.

Diese Entwicklung, die sich seit Jahren abzeichnet, wird vor allem aufgrund des zu geringen Tätigkeitsausmaßes von Tierärzt*innen immer mehr zum Problem: „Obwohl die Anzahl an Tierärzt*innen steigt, bleibt bei erhöhter Nachfrage das Tätigkeitsausmaß gleich“, sagte Simulationsforscher Dr. Niki Popper anlässlich der Studienpräsentation zur Zukunft der tierärztlichen Versorgung in Österreich – und erklärte weiter: „Im Nutztierbereich sinken sowohl die Personenzahlen als auch die Summe des Tätigkeitsausmaßes. Selbst wenn man von einem fallenden Bedarf ausgeht, droht ein Tierärzt*innenmangel.“ Im Grundszenario werden bis zum Jahr 2027 zwischen 32 und 55 Nutztierpraktiker*innen fehlen, bis 2032 werden es schon 85 bis 120 Personen sein und im Jahr 2037 wird sich die Anzahl der fehlenden Nutztierpraktiker*innen auf 90 bis 140 Personen erhöhen. ÖTK-Präsident Mag. Kurt Frühwirth dazu: „Wenn man allerdings das pessimistische und realistischere Szenario betrachtet, werden bereits im Jahr 2027 etwa 95 bis 120 Personen zusätzlich benötigt. Dies ist in Relation zu derzeit 700 österreichweit tätigen Nutztierpraktiker*innen eine enorm hohe Zahl!“ Bei weiterer Betrachtung und Hochrechnung würden bis zum Jahr 2032 bereits 185 bis 225 Nutztierpraktiker*innen fehlen; bis 2037 würde sogar eine Lücke von 255 bis 300 Personen entstehen. „Wenn sich die Parameter nicht in absehbarer Zeit ändern, wird sich der Tierärzt*innen­mangel innerhalb von zehn Jahren – 2027 bis 2037 – verdreifachen“, so Frühwirth.

WELCHE KONSEQUENZEN HAT DER TIERÄRZT*innen-MANGEL?

Konkret wird die Versorgung im Notdienst, da besonders im ländlichen Raum die Babyboomer, die in Pension gehen, nicht nachbesetzt werden können, immer prekärer. Viele Tierkliniken legen ihren Status ab, die 24/7-Versorgung ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Der Personalmangel in der kurativen Praxis gefährdet schon jetzt die flächendeckende Versorgung von Haus- und Nutztieren; Tierärzt*innen fehlen aber auch im öffentlichen Veterinärwesen sowie in der Industrie.

Angesichts der künftigen Herausforderungen im Sinne von „One Health“ und der Forderungen nach mehr Tierwohl und Tierschutz sowie nach Ressourcenschonung und Nachhaltigkeitsstrategien ist das Nachwuchsproblem eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Die Versäumnisse der letzten 15 bis 20 Jahre wirken sich nunmehr immer stärker aus; die Politik, die hier die größte Verantwortung trägt, ist gefordert, in verschiedenen Bereichen rasch den Hebel anzusetzen.

WAS BRAUCHT ES, UM GEGENZUSTEUERN?

Stichwort: Attraktivitätssteigerung

• Auch für die Berufsgruppe der Tierärzt*innen ist es nunmehr unumgänglich, für Planungssicherheit zu sorgen und eine Basisfinanzierung sicherzustellen – vor allem in jenen Bereichen, die unter extremem ökonomischem Druck stehen. Die Rahmenbedingungen müssen deutlich verbessert werden; dazu zählt neben den rechtlichen Voraussetzungen (Stichwort Arbeitszeitflexibilisierung) auch die finanzielle Förderung durch die öffentliche Hand. Als unabhängiger freier Beruf, der sich bisher selbst finanziert hat, ist das mittlerweile ein unumgängliches Finanzierungsinstrument. Nur so kann eine flächen­deckende Versorgung hoffentlich auch in Zukunft sichergestellt werden, wobei dies auch bereits für den Kleintierbereich gilt. Der Humansektor ist ohne hohe finanzielle Subventionierung durch den Staat undenkbar; eine Selbstverständlichkeit, die hier keiner infrage stellt.

• Neben finanzieller Förderung braucht es aber auch betriebswirtschaftliches Know-how. Praktizierende Tierärzt*innen sind als Selbstständige auch Unternehmer*innen und müssen das entsprechende Wissen für sich aufbauen. Dabei beginnt eine erfolgreiche Praxisführung bereits an der Universität, u. a. eine Forderung, die von den deutschsprachigen Unis nur sehr zaghaft bis gar nicht ernst genommen wird. Von Betriebswirtschaft als einem verpflichtenden Teil des Curriculums sind wir noch weit entfernt.

• Auch die tierärztliche Ausbildung muss daher dringend einen Paradigmenwechsel erfahren. Es muss ein Konsensus darüber gefunden werden, was von zukünftigen Veterinärmediziner*innen erwartet wird und wie die veterinärmedizinische Ausbildung die Erwartungen aller Stakeholder erfüllen kann. Die Berufsstandsvertretung muss, wie auch in der Humanmedizin, dringend in die Ausbildung eingebunden werden. Eine deutliche Erhöhung der Studienplätze und die richtige Auswahl der zum Studium zugelassenen Studierenden muss dringend überlegt werden.

• Die digitale Transformation bietet Möglichkeiten, Personalressourcen effizienter einzusetzen, Prozesse zu optimieren, Kosten zu reduzieren und den Bürokratieabbau voranzutreiben. Den Tierärzt*innenmangel wird sie aber nicht beheben, denn die Entscheidungen und die Verantwortung sind weiterhin von Veterinär*innen zu tragen, und diese braucht es weiterhin in ausreichender Menge.

Fazit
Die Problematik des Fachkräftemangels ist somit auch in der Veterinärmedizin mehr als angekommen. Die Ur­sachen sind unterschiedlich gelagert – manche sind hausgemacht, teils sind sie aber auch auf gesamtgesellschaft­liche (soziodemografische) Entwicklungen zurückzuführen.

Eines steht fest: Junge, angehende Tierärzt*innen werden sich für alternative Lebensmodelle entscheiden bzw. diese wählen, wenn der Konflikt zwischen gesetzlichen Rahmenbedingungen und anschwellender Bürokratie sowie der Realität eines finanziell unbefriedigenden Jobs mit von Nacht- und Notdiensten geprägtem Arbeitsalltag und hohen Kundenerwartungen in einer von hoher Transformation geprägten Branche in Zukunft nicht abnimmt.  Die Tierärzt*innenschaft steht damit an einem Scheideweg; die öffentliche Hand ist gefordert. Ist die Antwort der Politik allerdings nur, Veterinär*innen durch Technik oder Hilfspersonen zu ersetzen, wird dies das Problem des Nachwuchsmangels jedoch nicht lösen.


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