Wie Vertraute

in unsicheren Zeiten

Tierärztin Tanja Warter

Warum gehen manche Patientenbesitzer gerade in Coronazeiten besonders gern und oft zum Tierarzt? Für die Psychologin steckt ein großes Kompliment an den Berufsstand dahinter.

Manchmal muss man sich wundern, manchmal auch ärgern: Warum kommen ausgerechnet in diesen Zeiten des Social Distancing manche Tierhalter wegen jeder Lappalie in die Praxis? Ein Hüsterchen hier, ein Dippel dort – sind die Menschen hysterischer, einfühlsamer oder gibt es einen ganz anderen Grund für dieses Phänomen? Ein Gespräch mit der Psychologin Birgit Ursula Stetina, die aktuell eine Erhebung unter Tierbesitzern bezüglich deren Belastung durch die Pandemie durchführt.

Immer wieder ist zu hören, dass Tiere in der Pandemie einen besonders hohen Stellenwert einnehmen. Würden Sie das auch so unterschreiben?
Zur Wichtigkeit von Tieren in der Pandemie haben wir eine Umfrage im Rahmen einer Studienserie gestartet, die noch nicht abgeschlossen ist, aus der wir aber bereits einige Trends ablesen können. Drei Viertel der Tierbesitzer sagen, ihr Vierbeiner spiele in der Pandemie eine ganz wesentliche Rolle, über die Hälfte sieht auch einen positiven Effekt auf die Familie, und oft wird auch der Zusammenhang mit körperlicher Fitness, die ja auch zur mentalen Gesundheit betragen kann, ins Feld geführt, weil Hundebesitzer regelmäßig spazieren gehen. In ihrer subjektiven Wahrnehmung geht es Tierbesitzern also wegen ihres Tiers besser in dieser Zeit.

Sie betonen den subjektiven Aspekt – ist es denn ­objektiv nicht so?
Genau da wird die Sache erheblich komplexer, denn objektive Parameter lassen nicht den einfachen Schluss zu, dass Tierhalter durch die tierische Gesellschaft besser durch schwierige Zeiten kommen. Schaut man sich objektiv an, ob Tierbesitzer beispielsweise seltener unter depressiven Verstimmungen leiden als Menschen ohne Tiere, ergibt sich kein Unterschied. Nicht einmal bei der sozialen Unterstützung, die man empfängt, zeigt sich objektiv ein Unterschied. Aber subjektiv sagen Tierhalter, es gehe ihnen besser.

Offenbar eine schwierige Materie. Was meinen Sie ganz persönlich – geht es Tierbesitzern ­besser oder nicht?
Die wissenschaftliche Wahrheit und die subjektive Auffassung müssen nicht gleich sein. Aber natürlich macht es etwas mit den Menschen, ob sie sich selbst als mental gesünder einstufen, auch wenn der Summenscore etwas anderes ergibt. Man könnte es mit einem schweren Bandscheibenvorfall vergleichen, der nach objektiven Kriterien bei zwei Menschen absolut ident ist, die Wahrnehmung kann aber ganz verschieden sein: Der eine Patient liegt im Bett und kann sich kaum bewegen, der andere geht mit demselben Befund noch spazieren. Befund und Befinden müssen nicht deckungsgleich sein.

Die häufig angeführte Stresspufferhypothese konnte für Sport wissenschaftlich untermauert werden. Wie ist es mit der Stresspufferhypothese in der Tierhaltung?
Sie meinen, nach dem Motto: „Wer ein Tier hat, ist generell weniger gestresst“? Das gilt pauschal so nicht. Natürlich ist das Tier ein ganz wichtiger Sozialpartner für viele Menschen, und viele können schwierige Situationen wie beispielsweise die weniger gewordenen zwischenmenschlichen Kontakte dank Haustier besser meistern. Das ist wunderbar, aber kein Muss. Je nach Charakter kann es sogar ins Gegenteil umschlagen: In der Phase einer Pandemie, in der ich ohnehin schon gestresst bin, kann es passieren, dass ein Tier zusätzlichen Stress bedeutet, weil da noch jemand ist, um den ich mir Sorgen mache, um den ich mich kümmern muss – und das, wo ich selbst schon mit der Unsicherheit kaum zurechtkomme. (Anm. der Red.: Eine der entsprechenden Studien unter der Leitung von Birgit U. Stetina kann bei Interesse via Open Access online zum Nachlesen abgerufen werden:
www.mdpi.com/1660-4601/16/19/3664.)

Sind solche zusätzlichen Sorgen auch ein Grund, warum gerade jetzt einige Tierbesitzer wegen jeder Kleinigkeit zum Tierarzt gehen?
Auf jeden Fall. Einerseits ist die Wahrnehmung eine andere, denn viele Menschen sind dem Tier gegenüber viel aufmerksamer – man sieht Dinge, die man ohne den gefühlten Stress gar nicht bemerken würde. Und zum anderen verbringen fast alle Menschen einfach mehr Zeit mit dem Tier. Da fällt einem natürlich auch öfter etwas auf. Wir sind ja in der Pandemie ganz anders als sonst von Krankheit, Angst und Tod umgeben; die Relevanz der Gesundheit rückt plötzlich in den Mittelpunkt.

Im Grunde ist das also eine psychologische Angelegenheit – aber müssen das ausgerechnet Tierärzte jetzt ­abfedern?
Ja, da ist der Tierarzt oft der erste Ansprech­partner. Aber das alles passiert ja nicht bewusst. Kaum jemand wird den Hund jetzt nach einer Schramme ab­suchen, damit er zum Tierarzt gehen und sich mit jemandem austauschen kann. Das passiert im Wesentlichen aus der Angst heraus. Menschen tendieren intuitiv dazu, positive Erfahrungen zu wiederholen. In Angst zieht es sie dorthin, wo sie sich sicher aufgehoben fühlen, und zu Personen, denen sie Vertrauen schenken. Tierärzte sind aufgrund ihrer Aus­bildung auch in Fragen der Seuchenbekämpfung wohl eine der unaufgeregtesten Berufs­gruppen, was die Pandemie angeht. Das spüren Tierbesitzer. Dazu kommt das Gefühl der Erleichterung, wenn mit dem Tier dann eh alles in bester Ordnung ist. Eine Sorge weniger …

Dann müsste man es ja eigentlich als Kompliment sehen, wenn ­einige anstrengende „Kandidaten“ regelmäßig Zeit wegen Kleinigkeiten beanspruchen …
Auf jeden Fall – obwohl klar ist, dass manche Besuche wirklich obsolet und manche besonders mühsam sind. Aber unterm Strich darf man schon das große Vertrauen sehen, das dem Tierarzt entgegengebracht wird. Das Treffen in der Hundeschule fällt weg, der Austausch unter den Katzen­freundinnen passiert nur online – da ist der Tierarzt eine nahe liegende Adresse, um über das Tier zu reden.

… und in Wahrheit mentale Unterstützung zu leisten.
Aber das ist etwas Gutes. Tierärzte sind wie Vertraute in unsicheren Zeiten. Ein solches Vertrauen zu genießen ist aus psychologischer Sicht ein Kompliment.

Zur Person:
Univ.-Prof. Dr. Birgit U. Stetina ist Psychologin, tätig an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien, Department für Psychologie. Sie ist Leiterin der Abteilung Klinische Psychologie, der Psychologischen Universitätsambulanz und der Abteilung Mensch-Tier-Beziehung.

Aktuell findet auch die „Vet-Studie 2020/21“ statt, die jährlich geplante Befragung unter TierärztInnen in Bezug auf deren Wohlbefinden und Stresserleben. Bei Interesse können Sie noch bis Ende April teilnehmen – die Forschungsgruppe freut sich auf Ihre Meinung!
www.soscisurvey.de/VetStudy2021/?d=XFGZ23A2HUF4EKVF