Dr. Astrid Nagl
Ausgabe 07-08/2023
Früher oder später ist es so weit: Das Ansuchen an die PVA wird eingereicht, der erste Tag des neuen Lebensabschnitts festgelegt. Spätestens wenn eine Darmspülung ansteht, weil wieder einmal ein Dackel einen Knochen gefressen hat, wirkt die Vorstellung, einfach mal nicht mehr arbeiten gehen zu müssen, ganz reizvoll …
So beginnt die Suche nach einer/einem geeigneten Nachfolger*in. Nicht immer ist ein Familienmitglied bereit, in die tierärztlichen Fußstapfen zu treten. Doch bei einer Praxisübergabe geht es nicht nur darum, diese/n Nachfolger*in zu finden, erklärt Mag. Monika Hill, Arbeitspsychologin und Coach: „Plötzlich soll man sich von einer oft sehr intensiven Aktivität in mehr Passivität zurückziehen. Ein aktives Berufsleben loszulassen ist ein einschneidendes Erlebnis, das von vielen Menschen als schmerzlich erlebt wird.“ Die Würdigung des oder der Übergebenden ist daher besonders wichtig. Hill: „Diese sollten das Gefühl haben, dass ihre jahrelange Erfahrung und ihre Expertise wertgeschätzt werden.“
Einerseits möchte man der/dem Nachfolger*in hilfreich zur Seite stehen, damit auch alles reibungslos weiterläuft – andererseits will man ihr oder ihm aber nicht mit guten Ratschlägen auf die Nerven gehen. Auch umgekehrt besteht diese Ambivalenz: Natürlich möchte man sich etwas Neues aufbauen, die eigene Arbeitsweise und Persönlichkeit mit einbringen – aber wie war das noch mal mit der Dosimeteranmeldung und wo sind die Ersatzlämpchen für die OP-Lampe?
„Vor allem für die Übergebenden ist es anfangs sehr schwierig, sich nicht einzumischen, nicht alles besser zu wissen“, meint Mag. Hill, „schließlich geht es um ihr Lebenswerk!“ Doch als Übergebende*r ist es wichtig, loszulassen und sich zurückzunehmen. „Vertrauen Sie der Kompetenz Ihrer Nachfolger*innen und geben Sie ihnen Platz, schaffen Sie Raum für Neues. Dazu gehört auch das Wissen, dass Lernerfahrungen sein müssen und nicht immer alles gleich ganz rund laufen wird.“
Eine Verabschiedung, zum Beispiel im Rahmen eines Fests, kann dabei helfen, gut im neuen Lebensabschnitt anzukommen. „Auch der Übergabeprozess kann gestaltet werden, zum Beispiel mit einer feierlichen Schlüsselübergabe“, schlägt Mag. Hill vor. Für das ganze Team ist es wichtig, sich verabschieden zu können und gleichzeitig den Neubeginn für alle spürbar und erlebbar zu machen.
Diese Klarheit macht es auch den Kund*innen leichter, sich mit der veränderten Situation auseinanderzusetzen. Loyalität gegenüber der/dem Nachfolger*in ist dabei besonders wichtig. „Formulieren Sie das ganz deutlich: ‚Ab dem Zeitpunkt X wird die Ordination von Dr. Y geleitet. Sie sind weiterhin in den besten Händen!‘“, empfiehlt Mag. Hill. Wer will, kann einen Tag der offenen Tür veranstalten.
Wie aber kann ein solcher Prozess innerhalb der Familie ablaufen, wo zusätzlich zu den professionellen Themen oft noch persönliche Konflikte mit hineinspielen? „Wird innerhalb der Familie übergeben, ist es oft noch einmal schwieriger, sich zurückzuziehen“, bestätigt Mag. Hill.„Finanziell und juristisch wird meist alles sehr gut besprochen, die psychische Komponente bekommt hingegen wenig Raum“, so die Arbeitspsychologin. Wer möchte, kann sich durch diese Zeit professionell begleiten lassen.
„Die Beziehung zwischen Übergebenden und Übernehmenden kann und soll von wertschätzendem Wohlwollen geprägt sein“, fasst Mag. Hill zusammen. So können Übergebende etwa in eine neue Rolle als Mentor*innen finden, wenn das für beide Beteiligten passt.
Mag. Monika Hill ist klinische Psychologin mit den Schwerpunkten Arbeits- und Wirtschaftspsychologie und Coach. Sie begleitet Teams und Einzelpersonen in herausfordernden beruflichen und privaten Situationen.