Wenn es spät wir auf dem Friedhof

Tanja Warter

Abends verlässt man einen Friedhof eher, als dass man ihn besucht – schade eigentlich, denn ­genau dann beginnt hier ein geheimnisvolles Leben. Auf Entdeckungsreise zu bedrohten Tieren.

16:50 Uhr am Tor 2 des Wiener Zentralfriedhofs. Hier bin ich um 17 Uhr mit David Stenitzer verabredet. Eine dunkle Wolke zieht an diesem heißen Sommertag auf und es beginnt genau jetzt zu regnen – ich frage mich, ob das nun eher gut oder eher schlecht für unser Vorhaben ist. Als Stenitzer fünf Minuten später mit dem Fahrrad eintrifft, hat er einen Rucksack dabei, der von seinen Dimensionen her an jene von Extrem-Interrailern erinnert; darin ist eine Fotoausrüstung mit allem Pipapo. „Super, dass jetzt ein Schauer durchzieht“, sagt er, bevor wir uns überhaupt bekannt machen. Wir verlieren keine Zeit: Erst nach links, dann eine Weile immer an der Mauer entlang, dann rechts an mehreren Grabsteinen mit Hologrammen vorbei. Man könnte sie länger bestaunen, aber dafür ist heute keine Zeit – wir sind schließlich auf Feldhamsterexkursion.

Wie oft hatte ich schon darüber gelesen, dass Wiens Friedhöfe eine wahre Zufluchtsstätte für eine der meist­gefährdeten Tierarten Österreichs sind! Hier können Hamster auf den Freiflächen relativ ungestört graben, Vorräte sammeln und Jungtiere aufziehen; und da es westlich von Niederösterreich sowieso keine Feld­hamster gibt (ich lebe in Vorarlberg), bin ich ziemlich gespannt, ob ich an diesem Tag tatsächlich den ersten frei lebenden Feldhamster meines Lebens sehen werde.  
Zielsicher steuert David Stenitzer auf jene Friedhofs­wiese zu, auf der er die Hamster schon häufiger gesichtet hat. Der Biochemiker ist im Zweitberuf Wildtierfotograf und ­regelmäßig auf Hamsterschau. All meine Bedenken (zu früh, zu heiß etc.) zerschlagen sich nach weniger als fünf Minuten: Noch während ich meinen Fotoapparat auspacke, wuselt das erste Exemplar wenige Meter vor mir durchs Gras. Putzig wie im Bilderbuch! Der Regen, der jetzt aufhört, und die dazugehörige dunkle Wolke sind heute meine Glücksbringer. Verzückt und hastig schraube ich das Objektiv auf die Kamera, da ist der Hamster schon wieder in einer seiner Fallröhren verschwunden. Unter­irdisch legen die Tiere aufwendige Bauten an, die aus mehreren miteinander verbundenen Kammern bestehen; es gibt einen Vorratsraum, eine Schlafstube und eine Toi­lette. Hamsterwohnungen liegen bis zu einen Meter tief unter der Erde.

Sympathiepunkte sammeln Feldhamster auch für ihre ­typischen dicken Hamsterbacken. Diese sind so groß, dass die Tiere darin gut und gern 50 Gramm Nahrung transportieren können – das entspricht bis zu zehn Prozent ihres eigenen Körpergewichts. So gelingt es ihnen, ihre großen Wintervorräte anzulegen. 

Einst gehasst, heute bedroht

Der Feldhamster wurde vom Naturschutzbund Österreich zum Tier des Jahres 2024 auserkoren, erstmals in einer öffentlichen Wahl und trotz starker Konkurrenz von Alpensteinbock und Fischotter. Er hat demnach also gute Argumente, die Stimmen – und auch die Herzen – der Menschen zu erobern. Sein Aussehen trägt wesentlich zum Charme von Cricetus cricetus bei, gilt er doch als das bunteste Pelztier Europas: Der Rücken gelbbraun, das Gesicht rötlich, unter dem Bauch dunkelbraun bis schwarz, weiß an den Flanken und den Pfoten. Angeblich dient die Färbung dem Mimikry-Effekt – bei Gefahr richtet sich der Feldhamster auf und vermittelt dem Feind: Schau her, mein dunkler Bauch ist das Maul eines Raubtiers und meine weißen Pfötchen sind gefährliche Fangzähne! Um das beim Anblick meines ersten Feldhamsters auch zu erkennen, brauchte ich zugegebenermaßen schon etwas Fantasie. 
 

Einer, der mit den Toten lebt

Die Exkursion verläuft überraschend erfolgreich. Obwohl Feldhamster Einzelgänger sind, leben sie auf dem ­Zentralfriedhof in relativ enger Nachbarschaft. Ich bekomme noch fünf weitere von ihnen zu Gesicht. Einer rennt dieselbe Strecke fünf- oder sechsmal hin und zurück – er scheint eine gute Futterquelle gefunden zu haben und macht sich deswegen ans arttypische Hamstern. Einem anderen bin ich nicht ganz geheuer: Er richtet sich auf, pumpt die Backentaschen voll mit Luft und zeigt sich in voller Größe. Verunsichern will ich ihn ja nicht und weiche ein paar Schritte zurück.

In früheren Zeiten, in denen der Feldhamster in Mittel­europa als Plage galt, lebten bis zu fünf Tiere auf einem Quadratmeter. Bis in die 1980er-Jahre gab es ­regional ­sogar noch Prämien für die Tötung der Tiere. Heute zeigt sich ein ganz anderes Bild: Der Feldhamster ist in weiten Teilen Europas ausgerottet und an der Kippe, für immer von der Welt zu verschwinden. Im Jahr 2020 stufte die IUCN ihn als vom Aussterben bedrohte Art ein. Immer effizientere Erntemaschinen sorgen für Nahrungsknappheit, Lebensräume werden zerschnitten oder verbaut, bewohnbare Böden verdichtet. Hamstern fehlen außerdem Flächen mit Versteckmöglichkeiten in ihren Lieblingslebens­räumen: Wohin soll man auf einem abgeernteten Weizenfeld schon fliehen, wenn ein Milan kommt? Zusätzlich sinkt die Reproduktionsrate seit Jahren dramatisch: Die durchschnittliche Anzahl von Jung­tieren pro Weibchen und Jahr ging in den vergangenen 100 Jahren von 25 auf fünf zurück. Über die Ursachen herrscht noch Unklarheit.  

Lebensräume wie jener auf dem Wiener Zentralfriedhof sind für den Fortbestand der Art von enormer Bedeutung, auch wenn aktuell eher unwahrscheinlich ist, dass die Größe dieser Inselpopulation für den Erhalt ausreicht. Ohne massive Schutzmaßnahmen, so die Prognosen, könnten Feldhamster bis 2050, womöglich schon bis 2038 für immer verschwunden sein. Wiens Friedhöfe, eigentlich für den Tod angelegt, bedeuten für diese Tiere Leben.

Zusatzinfo 

Mit den Goldhamstern, die wir als Haustiere halten, ist der Feldhamster nur weitschichtig verwandt. Goldhamster stammen aus Syrien und sind wesentlich kleiner. Fach­leute unterscheiden zwischen Groß-, Mittel- und Kleinhamstern. Zu den Großhamstern zählt ausschließlich der in Mitteleuropa beheimatete Feldhamster. Der Gold­hamster ist ein Mittelhamster und damit eine andere Art; zu Kreuzungen kann es nicht kommen. Zu den Klein­hamstern gehören der Campbell-Hamster oder der Dsungarische Zwerghamster, beide ebenfalls als Haustiere beliebt.