Vethics:

im Spannungsfeld der Tierethik

Dr. Erik Schmid
Fachtierarzt für Tierhaltung und Tierschutz; Diplomate ECVPH
Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger

„Tierarzt – Berufener Tierschützer“ lautete ein Tagungsthema 1992 an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Den Großteil der folgenden Jahrestagungen habe ich mit Interesse besucht, mich aktiv beteiligt, interessante Leute kennengelernt und Mitstreiter gewonnen (z. B. Herwig Grimm). 2017 lautet das Thema „Chancen für mehr Tierschutz?“, wobei das Fragezeichen 1992 noch gefehlt hat. Der Untertitel bringt die Entwicklung der letzten Jahre auf den Punkt: Konsequenzen aus einem veränderten Mensch-Tier-Verhältnis. Das Titelbild mit einer Französischen Bulldogge mit drapierten rosa Hasenohren passt dazu (Qualzucht + „zum Affen gemacht“ = Accessoire). Im Programm findet sich ein Vortrag: Wertewandel in Bezug auf Tierwahrnehmung – Karnismus erkennen.

Wer das Buch „Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen …“ von Melanie Joy noch nicht gelesen hat, wird mit diesem Begriff kaum was anfangen können und vielleicht auch beim „Speziesismus“ unsicher werden. Wir Tierärzte sind doch ex lege die Experten zur fachlichen Beurteilung von „tiergerechten“ oder „artgerechten“ Bedürfnissen – oder doch nur des Bedarfs? Mit unserem naturwissenschaftlich dominierten Fachwissen sind wir bald am Ende mit unserem Latein. Zur Geisteswissenschaft herrscht ein eher misstrauisches Verhältnis, da hätten wir ja gleich Philosophie studieren können.

Zu meiner Studienzeit (1974 bis 1981) begann die ­„Kritische Tiermedizin“, unser Berufsbild als „Doktor und das liebe Vieh“ zu hinterfragen. Daraus wurden erfolgreiche Organisationen wie der Freilandverband, der Verein gegen Tierfabriken und Vier Pfoten. Die Tierärzteschaft brauchte über ausdauernde Initiative der Sektion Tierhaltung und Tierschutz der ÖGT zur Gründung eines eigenen Instituts für Tierhaltung und Tierschutz an der VUW und Einführung eines gleichnamigen Fachtierarztes durch die ÖTK bis 1997.

Mensch-Tier-Beziehung im Fokus

Weitere Meilensteine waren die Gründung des Vereins „Tierschutz macht Schule“ (2006) und die Einrichtung des Messerli-Forschungsinstituts (2010). Mit dem Ansatz Mensch-Tier-Beziehung hat die Interdisziplinarität Einzug gehalten. So wie neben der Schulmedizin komplementäre Methoden zum Stand der Wissenschaft gehören, müssen sich Tierärzte heute auch mit Ethik und Philosophie befassen. Die Mensch-Tier-Beziehung ist nicht nur ein neues Wissensgebiet, sie ist gesellschaftspolitisch zu einem emotionalen Konfliktfeld geworden. Konrad Paul Liessmann hat beim Philosophicum in Lech 2012 den unterschiedlichen Stellenwert von Hunden und Schweinen treffend als Schizophrenie beschrieben: „Die einen sitzen mit am Tisch, die anderen liegen auf dem Teller.“ Wir Tierärzte dürfen die Gefahr nicht unterschätzen, als Dienstleister im Heim- und Nutztierbereich zwischen die Fronten zu geraten: Als Profiteure der Vermenschlichung von Heimtieren oder als Mittäter bei der Instrumentalisierung der Nutztiere. Mit medizinischem Fachwissen kann man zwar die Alternativen aufzeigen, die moralische Beurteilung der Entscheidung des Halters bleibt uns nicht erspart. Eine klare Haltung kann beim Thema Euthanasie oder Qualzucht schnell zum Kunden­verlust führen. Die Großtierpraktiker stehen unter noch größerem geschäftlichen Druck.

Die Diskussion über optimale Problemlösungen endet nicht ungern beim gesetzlichen Rahmen des Tierschutzes. Vollzugsbehörde ist die Bezirkshauptmannschaft, diese bedient sich ihrer Amtstierärzte als Amtssachverständige. Die behörd­lichen Entscheidungsträger verlassen sich im Zweifelsfall bzw. zur Festlegung des Sachverhaltes bei allem, was Fell, Federn oder Schuppen hat, auf die veterinärmedizinische Expertise.

Rollendefinition auf dem Prüfstand

Bei der ersten Fortbildungstagung für veterinärmedizinische Sachverständige im Oktober 2016 an der VUW haben erfahrene rechtskundige Referenten die klare Empfehlung ausgesprochen, sich strikt an die Sachverständigen­rolle zu halten und keine Behördenentscheidung zu übernehmen (ausgenommen Notfälle bei „Gefahr im Verzug“). Als personifizierter Vertreter der Behörde wird der Amtstierarzt schnell zum Feindbild der Normunterworfenen. Dies kann bis zu persönlichen Angriffen führen, von existenzgefährdender Amtshaftung ganz zu schweigen. Die Problematik der vielen sich überschneidenden und teilweise widersprüchlichen Rollen der Amtstierärzte war ein zentrales Thema von mehreren Workshops in Gwatt in der Schweiz. Hier trafen sich Amtstierärzte, Philosophen, Soziologen, Medienexperten zum Meinungsaustausch. Peter Kunzmann meinte beim Thema Verantwortung, dass ihm bisher kein Berufsstand untergekommen sei, der freiwillig so viel Verantwortung übernehme, ohne dafür speziell ausgebildet zu sein. Das Format von Impulsreferaten und Gruppendiskussionen samt Rollenspielen hat sich sehr bewährt, auch in zwei folgenden Praxisseminaren. Das Thema Ethik für Amtstierärzte habe ich als ­Konzept bei der EurSAFE 2006 in Oslo vorgestellt. Herwig Grimm hat das Thema am Messerli-Forschungsinstitut aufgegriffen und als „Vethics for vets“ weiterentwickelt. Unter diesem Projektnamen sind alle Präsentationen der drei Workshops auf der Homepage des Instituts verfügbar. Im September 2015 fand eine zweitägige internationale Tagung zu dem Thema an der VUW statt.

Der Abschlussbericht des Projekts wurde auf der Amtstierärztefortbildung präsentiert und ist mittlerweile als „Ethik in der amtstierärztlichen Praxis“ als Wegweiser auch im Buchhandel erhältlich. Er stellt das Endergebnis von interdisziplinären Workshops zu den Themen „Tiere töten“, „Tiere, lebendiger Rohstoff“ und „Der überforderte Mensch“ dar. Sozusagen ein ethischer Werkzeugkasten, ein Notfallkoffer mit Instrumenten für fundierte Diskussion und Bewertung von Fragestellungen mit Einbindung der Tierethik und Fallbeispielen aus der täglichen Praxis. Ein Wegweiser auf dem Weg zum (amts-)tierärztlichen Ethos, Überlegungen zum beruflichen Selbstverständnis und Werte für die eigene persönliche Orientierung. Eine kommentierte Auswahlbiografie komplettiert die ­ethische Praxistasche. Unverzichtbar für jeden Tierarzt, der sich der komplexen Fragen der Tierethik nicht nur mit veterinärmedizinischer Kompetenz stellen möchte. Empfehlens­wert für alle, die sich an der Diskussion engagiert beteiligen wollen. Angesichts der aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklung wird uns diese nicht erspart bleiben. Es gibt auch gute strategische Gründe für einen standespolitischen „Ehrenkodex“. Die Überlegungen von F. R. Stafleu zur „beruflichen Autonomie der Bauern: Vom Menschenrecht zur Bürgerpflicht“ gelten für alle ­kleinen Berufsgruppen, die in der Gesellschaft selbstwirksam wahrgenommen werden wollen. Am 30. 10. 2015 wurde am Deutschen Tierärztetag in Bamberg ein „­Ethikkodex“ beschlossen.

Wir sollten uns gerade beim Thema Mensch-Tier-Beziehung gemeinsam positionieren, wir werden auch gemeinsam als Tierärzte wahrgenommen. So falsch es für Amtstierärzte ist, als Generalexperten die Verantwortung für alles im Tierschutz zu übernehmen, so fatal wirkt sich das gegenseitige Zuschieben der Verant­wortung zwischen den Tierärzten in der öffentlichen Wahrnehmung aus. Die Amtstierärzte können dabei eine Leitfunktion übernehmen. Deshalb will die ÖTK den Fachtierarzt für Tierhaltung und Tierschutz durch eine Änderung der Prüfungsordnung für diese Berufsgruppe attraktiver machen. Das Angebot an Fortbildungsveranstaltungen muss im Themenbereich Mensch-Tier-Beziehung, Tierethik und Kommunikation erweitert werden. Dazu eignen sich Praxis-Workshops eindeutig besser als Vorträge bei Großveranstaltungen. Es bedarf noch vieler gemeinsamer Anstrengungen, damit wir vielleicht 2022 hinter „Tierarzt – Berufener Tierschützer“ mit Selbstverständnis und Stolz ein Ausrufungszeichen setzen können.