Veterinary goes digital –

Chancen und Risiken der Digitalisierung

Bettina Kristof

Eine Studie des Dessauer Zukunftskreises wirft einen kritischen Blick auf die digitale Kompetenz der Berufsgruppe, die für die Tiergesundheit in Deutschland verantwortlich ist. Die Ergebnisse haben auch Relevanz für die Situation in Österreich.

Die Digitalisierung ist in vielen Bereichen auf dem Vormarsch und macht auch vor der Veterinärmedizin nicht halt. Um ein klareres Bild davon zu bekommen, wo die Branche derzeit steht und wie der digitale Prozess den tierärztlichen Alltag verändern wird, hat der Dessauer ­Zukunftskreis (DZK) eine Studie initiiert – das ­Ergebnis dieser Studie liegt nun vor. Wir sprachen darüber mit ­Hubertus Keimer, ehrenamtlicher Mitarbeiter des Dessauer Zukunftskreises und Geschäftsführer von Laboklin, sowie mit Dr. Stefan Stumpp, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Forschung und Digitalisierung an der Hochschule Anhalt und Autor der besagten Studie.

Herr Keimer, Sie sind Gründer des Dessauer Zukunftskreises, unter dessen Federführung die Studie durchgeführt wurde. Was genau ist die Zielsetzung des DZK?
Der DZK ist eine unabhängige interdisziplinäre Inter­essen- und Arbeitsgruppe, die zum Großteil aus Veterinär­medizinern besteht. Mir ist wichtig, zu betonen, dass wir alle ehrenamtlich tätig sind. Unser Ziel ist es, Chancen und Risiken der Tiermedizin zu analysieren sowie Perspektiven und Lösungen für die Zukunft zu erarbeiten. Die Studie zum Thema Digitalisierung in der Tiermedizin haben wir eingefordert, um zu sehen, wo wir aktuell ­stehen. Wenn der Status quo bekannt ist, dann wird klarer, welche weiteren Schritte wir machen müssen. Uns ist ganz wichtig, dass wir die digitale Zukunft der Tierärzteschaft mitgestalten. Wir wollen keinesfalls fremdgesteuert sein, sondern die Tiermedizin soll aus sich selbst heraus Kraft und Initiative zeigen. Gleichzeitig ist es wichtig, dass wir uns Unterstützung holen und Schnittstellen zur Landwirtschaft und zur Humanmedizin aufbauen. Wir sollten die digitale Wissens­aufbereitung gemeinsam angehen.

Herr Doktor Stumpp, bevor Sie die Studie begonnen haben, hat es einen Experten-Workshop gegeben, um die Parameter für die Studie festzulegen. Wie sind Sie da vorgegangen?
An diesem Experten-Workshop haben 20 Vertreter aus der Tiermedizin teilgenommen, die aus den Bereichen Praxis, Verbände, Industrie und Lehre kamen. Wir haben gemeinsam Schlüsselfaktoren für eine Untersuchung des aktuellen Digitalisierungsgrades in der Veterinärmedizin festgelegt und direkt im Design der Onlinebefragung berücksichtigt. Die Befragung richtete sich an die Tierärzteschaft, tiermedizinische Fachangestellte, ­Studierende und Lehrende der Veterinärmedizin sowie an für die Tier­medizin relevante Akteure aus der Industrie und dem öffentlichen Dienst. Die Studie wurde im DACH-Raum durchgeführt, wobei sich hauptsächlich Interessierte aus Deutschland gemeldet haben.

Herr Doktor Stumpp, in der Studie ging es auch darum, wie die Digitalisierung die Veterinärmedizin verändern wird. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse aus dieser Studie?
Auf lange Sicht wird es darauf hinauslaufen, dass sich die Geschäftsmodelle verändern werden. Es braucht Adaptionsprozesse und digitale Kompetenzen, um als niedergelassener Tierarzt mit der Entwicklung Schritt zu halten.

Wie gut sind die Tierärzte aktuell auf die Veränderungen vorbereitet? Wie ausgeprägt ist ihre digitale Kompetenz?
Dr. Stumpp: Es hat sich herausgestellt, dass Studierende und Praktiker eher wenig Wissen im Bereich der Digitalisierung mitbringen. In der Industrie und im öffent­lichen Dienst gibt es aber eine Reihe von Digitalexperten. Überraschenderweise haben wir kein Generationen- und kein Geschlechterproblem: Man kann nicht sagen, dass Junge mehr digitale Kompetenz mitbringen als Ältere; den Unterschied macht eher der Bereich der Tätigkeit aus. Ja, und man kann sich nicht darauf verlassen, dass Studenten und Azubis der Veterinärmedizin über digitales Know-how verfügen.

Hubertus Keimer: Ein Schwerpunkt war, zu schauen, ob die Akteure in der Branche bereit sind, das Thema anzugehen, ob sie neugierig sind, wo sie jetzt stehen. Die Digitalisierung ist ja nicht das Kerngeschäft der Tierärzte, ihre Aufgabe ist die Arbeit am Tier. Aber darüber hinaus sollte der Tierarzt auch Aufgeschlossenheit mitbringen, um sich mit digitalen Themen zu beschäftigen. Die Digitalisierung kann sehr hilfreich sein. Wenn man es verpasst, sich damit auseinanderzusetzen, hat man als niedergelassener Tierarzt irgendwann das Nachsehen.

Woran liegt es, dass Studierende und Praktiker über weniger digitale Kompetenz verfügen – und welche Schritte sind notwendig, um das zu ändern?
Hubertus Keimer: Die Ursachen liegen unter ­anderem bereits im Studium und in der Ausbildung. Es wäre notwendig, das Thema präsenter zu platzieren und durch Bildung Hürden abzubauen. Die Veterinärmedizinische Fakultät der Universität Leipzig hat da erste Schritte eingeleitet und ein Wahlpflichtfach zum Thema Digitalisierung in der Veterinärmedizin eta­bliert, das im Februar 2021 startet. Es wäre wichtig, die Komplexität des Themas darzustellen, aber gleichzeitig auch, dass es in Wahrheit einfach ist. Mir ist wichtig, zu betonen, dass die Industrie ein wichtiger Partner beim Animal-Health-Gedanken ist. Wir führen Gespräche mit Tiermedizinern in der ­Industrie, die aufgrund ihrer Tätigkeit in den ­Konzernen die Chance haben, mehr für die Tiergesundheit zu bewegen.

Dr. Stumpp: Die Studie hat gezeigt, dass es hinsichtlich des Themas digitale Entwicklung beides gibt: ­Ängstliche und Vorsichtige, aber auch Mutige und Neugierige. Manche verschließen sich, andere sind aufgeschlossen. Der Anteil der interessierten Tierärzte ist im Bereich der Praktiker geringer. Es geht jetzt darum, den Bereich der digitalen Kompetenz durch Angebote an der Uni, durch Ausbildung und Weiterbildung zu stärken. Es gibt aber auch Tierärzte und Studenten, die neugierig sind und dann selbst Wege suchen, um sich digitales Wissen anzueignen.
 
Wie schafft man es, das Thema Digitalisierung so positiv zu besetzen, dass sich die Tierärzte gerne damit beschäftigen?
Hubertus Keimer: Ich denke, es ist wichtig, die Vorteile herauszuarbeiten, die die Digitalisierung für die ­Tierärzte bringen kann. Uns vom DZK geht es darum, dass die Tierärzte bei der Gestaltung ihrer digitalen Zukunft ihre Geschicke selbst in der Hand haben und im Austausch mit anderen eine praxisnahe Form der Digitalisierung entwickeln. Die Digitalisierung wird kommen, aber im besten Fall nicht über uns, sondern mit uns und im Sinne von mehr Tiergesundheit und Tierwohl. Wenn man Digitalisierung beispielsweise in der Nutztierhaltung erfolgreich einsetzt, dann geht es nicht nur darum, Geräte zu bedienen, sondern die erfassten Daten können dafür verwendet werden, die Gesundheit der Tiere zu überwachen und zu managen, das Wohl der Tiere zu steigern und die Arbeit der Tierärzte zu erleichtern. Dies wird vor allem in der Nutztierhaltung bereits erfolgreich umgesetzt. Die Digitalisierung ist eine riesige Chance, die Personalressourcen im Kleintierbereich zu verändern. Wir können mehr ­bewältigen und komplexere Zusammenhänge herstellen. Der Tierarzt muss merken, dass er mit diesen großen ­Datenmengen intelligent arbeiten kann. Da kommen auch künstliche Intelligenz und Algorithmen ins Spiel.

Die Studie wurde in Deutschland gemacht. Sind die Ergebnisse auch für die österreichischen Tierärzte relevant?
Dr. Stumpp: Die Beteiligung der österreichischen Tierärzte an der Onlinestudie war recht schwach, es gab wenig Feedback. Aber die Problematik ist in Österreich vermutlich ähnlich.

Welche Möglichkeiten und Vorteile bietet die Digitalisierung im tierärztlichen Bereich? Wo hat sie die größte Auswirkung?
Dr. Stumpp: Die Einsatzmöglichkeiten sind sehr ­vielseitig. Um Hürden abzubauen, kann man mit kleinen Schritten beginnen und zum Beispiel als niedergelassener Tierarzt mit dem Einsatz einer Praxismanagement-Software beginnen, die Aufgaben und Abläufe in den Ordinationen und Kliniken erleichtert. Ein weiterer Schritt wären Videocalls für Sprechstunden und die Kommunikation mit den Tierhaltern über soziale Medien. Und dann kann man in Etappen weitere digitale Möglichkeiten in sein Repertoire aufnehmen. Es gibt so viel zu entdecken und zu entwickeln. Als Anregung ein Beispiel: An unserem Experten-Workshop hat ein junges Tierärzteteam teilgenommen, das mit einem 3D-Drucker experimentiert und damit Prothesen erstellt. Das ist natürlich sehr innovativ! Man kann die Digitalisierung über Big Data aber auch noch intensiver im Herdenmanagement anwenden.

Viele Tierärzte haben Angst vor der Telemedizin. Ist diese Furcht berechtigt? Macht die Digitalisierung die Tierärzte bald überflüssig?
Hubertus Keimer: Sicher nicht, aber wir sind in einem Veränderungsprozess und brauchen neue Behandlungsstrukturen in der Tiermedizin. Die Veterinärmedizin kann das leisten, wir sind auch auf dem richtigen Weg, aber uns fehlt die Masse. Bisher gibt es nur vereinzelt Vorreiter und Beispiele, wie es erfolgreich funktionieren kann. Um neue Strukturen aufzubauen, spielen die Universitäten, die Kammern und die Verbände eine große Rolle.

Die Bildung, die Ausbildung und die Geschäftsmodelle müssen besprochen und entwickelt werden. Da brauchen wir auch Experten aus anderen Branchen, die mit ihren Erfahrungen unterstützen. Die Telemedizin ist nur ein kleiner Bereich in dieser sich verändernden Welt. Wenn wir die Algorithmen in der Veterinärmedizin kennen, wie gewisse Informationen von anderen gesammelt und ausgewertet werden, dann können wir korrigierend und unterstützend eingreifen. Wenn wir das nicht tun, wenn wir uns nicht damit beschäftigen, sind wir fremdbestimmt. Wir müssen das Ganze auch unter dem kurativen Gesichtspunkt sehen, nicht nur unter dem monetären. Deshalb müssen wir bei der Entwicklung der Algorithmen dabei sein. Dazu müssen wir aber die künstliche Intelligenz (KI, Anm.) verstehen. Um das zu erreichen, sind Bildung und Weiterbildung Schlüssel­faktoren.

Verstehe ich Sie richtig: Unterstützung ja, aber die Federführung muss in der Hand der Tierärzteschaft liegen?
Hubertus Keimer: Gute Ideen und Geschäftsmodelle können aus anderen Bereichen adaptiert werden. Was aber in der Tiermedizin dazukommt, ist der Fokus auf die Tierethik. Was geschieht zum Wohle des Tieres? Das unterscheidet uns von anderen Branchen. Das zieht sich in der Tiermedizin durch alle Sparten, von den Companion Animals zu den Pferden und den Nutztieren. Wir haben eine große Chip-Industrie, deren Produkte in der Nutztierhaltung angewendet werden, wodurch wir genaue Behandlungs­schemata ausarbeiten können. Aber das Tier und der Tierarzt müssen im Mittelpunkt stehen in der richtigen Anwendung der digitalen Möglichkeiten.

Das Geschäftsmodell darf sich nicht nur am Geldverdienen orientieren, sondern muss auch der Ethik treu ­bleiben. Das hat sich auch der DZK zu Herzen genommen. Es ist deswegen so spannend und wichtig, unterschiedliche ­Akteure ins Boot zu holen, weil jeder einen anderen Blickwinkel, andere Fähigkeiten und ein anderes Mindset hat. Daraus ergeben sich wesentlich mehr Möglichkeiten, als wenn sich nur Experten mit ähnlichem Background austauschen würden.

Wie wirkt sich die Digitalisierung auf das Tierwohl aus?
Hubertus Keimer: Das Tierwohl kann und muss durch die Digitalisierung unterstützt werden. Manche Tierärzte befürchten, dass das Tierwohl unter der Digitalisierung leiden könnte, aber das stimmt nicht. Die Tätigkeit am Tier soll der wesentliche Teil der tierärztlichen Arbeit bleiben, aber das Rundherum soll mit den digitalen Möglichkeiten adaptiert werden.  

In ganz Europa ist der Tierarzt ein ähnlicher Typ Mensch. Tierärzte arbeiten grundsätzlich im Sinne des Tierwohls. Das ist auch die Erfolgsstory der Veterinärmedizin der vergangenen 20 Jahre. Aber jetzt sind wir dazu ­aufgerufen, die neuesten Techniken zu nützen, damit sich unsere ­Arbeit noch weiter verbessert.

Teil der Studie war auch die Frage, wie die Tierarztpraxis 2030 aussehen wird. Womit dürfen wir rechnen? In welchen Bereichen wird es die größten Veränderungen geben?
Dr. Stumpp: So weit können wir zwar nicht in die Zukunft sehen, aber der ­Fokus wird auf kundenfreundliche und technologisch modern ausgerichtete ­Praxen, Customer Experience, neue Kommunikationswege, digitale Geschäftsmodelle et cetera gerichtet sein. Tierärzte, die sich den digitalen Themen verschließen, werden bedauerlicherweise den Anschluss verlieren.

Im Bereich der Brancheninnovationen sind Unternehmen des Silicon Valley Vorreiter. Mit der Klinik Modern Animal wurde das Geschäftsmodell der Tierarztpraxis auf neue Füße gestellt; die Idee dazu wurde aus den veränderten Bedingungen in der Coronazeit geboren. Dabei nutzen die Tierhalter eine App, um einen Termin zu bekommen. Dann fahren sie vor die Praxis, dort wird das Tier von einem Mitarbeiter unter Einhaltung aller Sicherheitsvorkehrungen aus dem Auto abgeholt und geht mit diesem in die Ordination. Eine Videoschaltung mit dem Tierhalter wird aufgebaut, dann findet die Behandlung über Videocall statt. Tierhalter können auch in Zeiten von Corona live bei der Untersuchung dabei sein. Was ist das Geschäftsmodell? Die Tierhalter schließen ein Abomodell ab. Sie zahlen einen monatlichen Beitrag und können in dieser Zeit auf Leistungen der Tierarztpraxis zugreifen.
 
Hubertus Keimer: Bis 2030 ist es nicht mehr lange hin. Wir leben schon jetzt in einer digitalen Welt. Die Prozesse kommen nicht auf Hauruck, sondern die Veränderungen haben bereits begonnen und werden sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Es hat sich schon viel entwickelt, es gibt einige Vorreiter, aber nicht alle machen mit. Es sollte niemand Angst vor der Digitalisierung haben. Angst ist eine Bremse – wir sollten aber den Motor am Laufen halten. Mit einer gesunden Portion Neugier und Aufgeschlossenheit gilt es, die Möglichkeiten der Digitalisierung für sich zu nutzen. Jeder sollte mitmachen und am besten gleich beginnen. Das kann auch mit kleinen Schritten sein, aber ein baldiger Start ist wichtig, damit die tiermedizinische Philosophie und Zielsetzung nicht auf der Strecke bleiben und von anderen fremdbestimmt werden.