Veterinärmedizinische Spezialisierung in Europa:

Was ist ein Diplomate oder ein European Veterinary Specialist?

Dpl.Tzt. Besim Hasan Sontaş, PhD
Docent (Tr), Docente (It), European Veterinary Specialist in Animal Reproduction (Dipl. ECAR), EBVS-Nationalvertreter für Österreich und Türkei

„James Herriot“ war einmal – die Tiermedizin hat sich stark gewandelt. Eine der entscheidenden Entwicklungen des letzten Jahrhunderts in der Veterinärmedizin war die Etablierung einer europa­­weiten veterinärmedi­zi­nischen Spezialisierung.

Die Tiermedizin, die heute gelehrt und praktiziert wird, unterscheidet sich stark von der, die vor etwa 50 Jahren in den Büchern von „James Herriot“ beschrieben wurde. Derzeit haben wir mehr Wissen über die Physiologie und Pathologien unserer Patienten und wir entdecken immer mehr. Darüber hinaus ermöglichten Innovationen in anderen Wissenschaftszweigen wie Physik und Chemie die Entwicklung neuer Technologien und Medikamente, die uns helfen, unseren Patienten genauere Diagnosen und bessere Behandlungsoptionen zu bieten. Weiters war eine der größten und entscheidendsten Entwicklungen im letzten Jahrhundert die Etablierung einer europa­weiten veterinärmedizinischen Spezialisierung. Es scheint mir allerdings, dass viele Kollegen in Österreich sehr wenig Informationen über dieses Thema haben.

Deshalb werde ich in diesem Artikel versuchen, eine kurze Information über die Bedeutung des vom European Board of Veterinary Specialization (EBVS) vergebenen Titels zu bieten.

Geschichte der veterinärmedizinischen Spezialisierung in Europa

Die nationale Spezialisierung in der Veterinärmedizin wurde seit den 1960er-Jahren in mehreren europäischen Ländern angeboten. Diese nationalen Spezialisierungssysteme verzögerten die Einrichtung einer Spezialisierung auf europäischer Ebene, da man davon ausging, dass das nationale System ordnungsgemäß funktionierte und daher keine Notwendigkeit für eine neue Struktur in den europäischen Ländern bestehe. 1989 unternahm jedoch auf dem Kongress der World Small Animal Veterinary Association in Harrogate, Großbritannien, eine Gruppe von 26 Veterinärexperten auf Gebieten wie Chirurgie, innere Medizin, Neurologie, Augenheilkunde und Dermatologie den ersten Schritt, um die Struktur für die Organisation der veterinärmedizinischen Spezialisierung in Europa festzulegen. Diese Gründer des EBVS entwarfen ein Dokument zur veterinärmedizinischen Spezialisierung und legten es im Februar 1990 der Federation of Veterinarians of Europe (FVE) und dem Advisory Committee on Veterinary Training (ACVT) vor.

Der ACVT, der 1978 von der Europäischen Kommission (EK) gegründet wurde, um in Fragen der Ausbildung in der Veterinärmedizin zu beraten, setzte sich aus Mitgliedern der europäischen akademischen Veterinärwelt, des europäischen Veterinärberufs und Mitgliedern der EK zusammen. Die vorgeschlagene Struktur für die Organisation und Anerkennung der veterinärmedizinischen Spezialisierung wurde in späteren Sitzungen geändert; die endgültige Fassung des Arbeitsdokuments „Veterinary Specialization in Europe“ wurde im März 1991 fertiggestellt und die Vorschläge der jeweiligen Fachgesellschaften zur grenzüberschreitenden Spezialisierung und entwickelten Richtlinien für die Satzungen und Geschäftsordnungen ihrer Colleges und die Übergangsregelungen zur Anerkennung und Ausbildung von Fachärzten eingearbeitet. Im Februar 1992 verabschiedete der ACVT einstimmig einen Bericht sowie Empfehlungen für die transnationale Organisation für tierärztliche Spezialisierung, die vom Verbindungsausschuss zur veterinärmedizinischen Spezialisierung verfasst wurden und eine Struktur für die Organisation der veterinärmedizinischen Spezialisierung in Europa festlegten. Diese Struktur umfasste die Bildung eines Koordinierungsausschusses für veterinärmedizinische Spezialisierung, der größtenteils aus ACVT-Mitgliedern bestand, und eines Ausschusses für veterinär­medizinische Spezialisierung, der sich aus Vertretern aller europäischen Colleges zusammensetzte.

Während auf die Einrichtung dieser beiden Gremien (Koordinierungsausschuss und Veterinärspezialisierungsrat) gewartet wurde, kam es zu einem schnellen Wachstum der europäischen Colleges. Zwischen 1991 und 1995 wurden European Specialization Colleges für Veterinärchirurgie, Augenheilkunde, Dermatologie, Vogelmedizin und -chirurgie, Neurologie, innere Medizin, Anästhesie und Analgesie, diagnostische Bildgebung und Pathologie eingerichtet. Im Mai 1993 fand in Luxemburg ein Symposium zur veterinärmedizinischen Spezialisierung in Europa statt, bei dem ein Interimsrat für veterinärmedizinische Spezialisierung zur Koordinierung der Spezialisierung in Europa eingerichtet wurde, da die damals entstehenden europäischen Colleges eine unabhängige Stelle benötigten, der sie Bericht erstatten konnten. Leider hat die EK die Empfehlungen des ACVT nie umgesetzt und den ACVT im Jahr 2000 sogar aufgelöst. Daher ergriff der Veterinärberuf selbst 1996 die Initiative zur Einrichtung eines European Board of Veterinary Specialization (EBVS). Leider konnte die Aufsichtsbehörde, das Coordinating Committee für Veterinärspezialisierung, mangels entsprechender ACVT-Vertreter nicht eingerichtet werden. Die fehlende Unterstützung durch die EK hat jedoch die Ausweitung der veterinärmedizinischen Spezialisierung in Europa nicht verhindert: Im April 1994 traf sich das EBVS, um seine Satzung zu diskutieren, und schließlich wurde das EBVS im Jahr 1996 offiziell als gemeinnützige Organisation bei der Handelskammer von Utrecht, Niederlande, registriert.

European Board of Veterinary Specialization (EBVS)

Das EBVS ist eine Organisation, die von je einem Vertreter jedes der derzeit in Europa vertretenen Colleges gebildet wird. Der Vorstand hat Mitglieder und Beobachter. Mitglieder sind die Colleges, wobei jedes vom Vorstand anerkannte College das Recht hat, einen Vertreter und einen Ersatzvertreter zu ernennen.

Alle EBVS-Mitglieder treffen sich jedes Jahr im April zu einer Generalversammlung in Brüssel (Belgien) und wählen untereinander vier Mitglieder des EBVS-Vorstands (Präsident, Vizepräsident, Sekretär und Schatzmeister). Beobachter sind die European Association of Establishments for Veterinary Education (EAEVE), die Federation of Veterinarians in Europe (FVE) und das American Board of Veterinary Specialties (ABVS). Beobachterorganisationen haben das Recht, einen Vertreter zu ernennen, der zur Teilnahme an der EBVS-Generalversammlung eingeladen wird.

Alle Colleges sind direkt dem EBVS unterstellt, die Richtlinien für die Anerkennung von Spezialisierungsgebieten festlegt, die Gründung koordiniert, die Tätigkeit der einzelnen Colleges überwacht, ein Register der Diplomates und Absolventen (mit Rechtswirkung bei der EK) führt und so die Qualität der Diplomates sichert. Außerdem fördert das EBVS das öffentliche Wissen über die veterinärmedizinische Spezialisierung und hilft Diplomates, wenn sie vor nationalen Gerichten um die offizielle Anerkennung ihres Titels kämpfen müssen (Tabelle 1). Im Hinblick auf die Identifizierung der Spezialisierungsgebiete in der Veterinärmedizin in Europa ist es wichtig zu erkennen, dass das Spezialisierungsgebiet durch wissenschaftliche Erkenntnisse und evidenzbasierte Medizin gestützt werden muss. Daher ist die Etablierung veterinärmedizinischer Spezialisierung in sogenannten komplementären und alternativen Bereichen der Veterinärmedizin, für die keine klinischen Wirksamkeitsnachweise vorliegen (wie z. B. Veterinärhomöopathie), nicht möglich.

Das EBVS arbeitet aktiv mit den beiden anderen Organisationen zusammen, die unseren Berufsstand in Europa vertreten, der EAEVE und der FVE. 2005 wurde von diesen drei Organisationen das European Coordinating Committee on Veterinary Training (ECCVT) gegründet, das derzeit als das wichtigste Gremium für unseren Berufsstand auf Ebene der Europäischen Union gilt.

Die Hauptaufgaben des ECCVT bestehen darin, eine Verbindung zwischen unserem Beruf und der EU herzustellen, indem es (a) sich um die offizielle Anerkennung von Spezialisierungen kümmert, (b) den Informationsaustausch über Inhalt, Niveau, Bewertung und Struktur der Grund- und Aufbaustudiengänge in der Veterinärmedizin sicherstellt; weiters kümmert es sich um (c) Förderung und Umsetzung des Grundsatzes der Qualitätsbewertung in der tierärztlichen Ausbildung und (d) die Festlegung von Mindestanforderungen für die postgraduale Qualifikation. Das ECCVT trifft sich zweimal im Jahr in Brüssel; der Vorsitzende des Treffens wechselt zwischen den drei Organisationen. Es wird geschätzt, dass FVE, EBVS und EAEVE zusammen etwa 250.000 Tierärzte in Europa repräsentieren.

Die Europäischen Colleges (The European Specialization Colleges)

Das EBVS besteht derzeit aus 27 Colleges (Tabelle 2), gegliedert nach Disziplin (innere Medizin, Chirurgie, Anästhesiologie, Pathologie etc.), Tierart (Rind, Schwein, Geflügel etc.) oder Organ bzw. Funktion (Neurologie, Reproduktion, Dermatologie, Zahnmedizin, Verhalten usw.). Die ersten Colleges wurden zwischen 1991 und 1992 gegründet und 1996 vorläufig anerkannt. Derzeit gibt es mehr als 4.500 Diplomates an den verschiedenen Colleges in Europa.

Es gibt auch viele europäische Gesellschaften oder Berufsverbände, die ein bestimmtes Gebiet der Veterinärmedizin abdecken. Der Unterschied zwischen den Gesellschaften und den Colleges besteht darin, dass die Gesellschaften Interessengruppen sind, die allen interessierten Tierärzten offenstehen, während die Fachhochschulen nur ausgewiesenen Spezialisten in ihrem Fachgebiet mit anerkannten Referenzen offenstehen.

Um gegründet zu werden, muss ein europäisches College die Fähigkeit nachweisen, (1) die der Öffentlichkeit angebotenen tierärztlichen Dienstleistungen in einem bestimmten Aspekt des tierärztlichen Berufs zu verbessern; (2) eine eigenständige und identifizierbare Spezialisierung der Veterinärmedizin darstellen; (3) einen spezifischen Bedarf im tierärztlichen Beruf erfüllen und (4) auf eine ausreichende Anzahl potenzieller Diplomates zählen. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, wird eine Anfrage mit einer Satzung und Richtlinien und Verfahren an das EBVS gesendet. Stimmt das EBVS dem Vorschlag zu, erfolgt eine vorläufige Anerkennung für die Dauer von zehn Jahren. Um die volle Anerkennung zu erhalten, muss ein vorläufiges College nachweisen, dass es voll funktionsfähig ist und über ordnungsgemäß organisierte Ausbildungseinrichtungen und Prüfungen mit Standard- und alternativen Residency-Programmen verfügt.

Ein europäisches College muss sicherstellen, dass jeder Diplomate eine festgelegte, qualitativ hochwertige Ausbildung durchlaufen hat und seine Befähigung im tierärztlichen Beruf auf fachlichem Niveau durch das Bestehen einer Prüfung nachweisen kann. Daher muss jedes College:

a) Ausbildungsprogramme an anerkannten Institutionen organisieren;

b) die Qualität von Schulungsprogrammen überwachen und

c) die Organisation und Durchführung der Diplomates-prüfung (Board Exam) bereitstellen.

Verfahren, um EBVS Diplomate (European Veterinary Specialist) zu werden

Vor der Gründung eines Colleges können diejenigen Tierärzte, die seit Jahren in derselben Disziplin (oder an demselben Thema oder Organ oder derselben Tierart) arbeiten (und publizieren), als Gründungsmitglieder in Betracht gezogen werden, dem College als eingeladene Spezialisten beitreten oder beides („Gründungs-Diplomates“). Anschließend kann das College in den ersten fünf Jahren nach Gründung die Anerkennung als De-facto-Diplomaten beantragen, wenn ein ausreichender Lebenslauf vorliegt. Ab dem sechsten Jahr ist der Weg zum EBVS Diplomate nur noch über eine mindestens dreijährige enge Zusammenarbeit mit einem Diplomate möglich. Eine solche Ausbildungszeit wird als Residency bezeichnet, und der Tierarzt, der eine Residency durchläuft, wird als Resident bezeichnet.

Residencies können Standard oder alternativ sein. Standard-Residencies dürfen nur an einer vom College offiziell anerkannten und akkreditierten Ausbildungsstätte absolviert werden. Ausbildungseinrichtungen sind im Allgemeinen (aber nicht notwendigerweise) an einer Universität angesiedelt und können für einige Colleges das Vorhandensein von Diplomates in mehr als einer Disziplin erfordern (d. h., eine Ausbildungsstätte für diagnostische Bildgebung muss z. B. Diplomates für diagnostische Bildgebung und auch für innere Medizin haben). Der Resident muss mindestens zweieinhalb Jahre in Vollzeit in engem Kontakt mit einem Diplomate arbeiten und in dieser Zeit mindestens zwei Arbeiten in wissenschaftlichen, referierten Zeitschriften publizieren. Für jeden Resident muss das Residency-Programm vom College genehmigt werden, und der Vorgesetzte jedes Residents muss einen Jahresbericht über den Fortschritt der Residency seines oder seiner Kandidaten einreichen.

Vor Antritt einer Residency wird den Kandidaten empfohlen, ein Praktikum (Internship) absolviert zu haben, das eine mindestens einjährige flexible, rotierende klinische Ausbildung in der Veterinärmedizin über das Fachstudium hinaus umfasst. Ein Internship besteht aus einem breiten Spektrum klinischer Aufgaben in einem der Hauptbereiche der Veterinärmedizin. Praktika müssen wirklich als Rotation organisiert werden, die ein breites Spektrum klinischer Aktivitäten umfasst, und sollten als Schulungsprogramm für den Praktikanten und nicht als Serviceleistung für die Klinik konzipiert werden. Ein Internship ist eine Grundvoraussetzung für alle klinischen Colleges. Nicht klinische Colleges müssen die Dauer und die Art der Ausbildung definieren, die dem Eintritt in ein Residency-Programm vorausgehen muss, da ein Resident kein frischer Absolvent sein soll, sondern eher eine Zeit der postgradualen Ausbildung durchlaufen haben muss.

Alternative Residency-Programme sind an jedem College verfügbar und wurden speziell entwickelt, um Tierärzten, die bereits einen Job (und daher weniger Zeit) haben, die Möglichkeit zu geben, die zweieinhalbjährige Ausbildung über einen Zeitraum von höchstens sieben Jahren zu absolvieren. Alternative Residency-Programme erfordern nicht unbedingt eine zugelassene Ausbildungsstätte. Die dreijährige Tätigkeit bei einem Diplomate kann auf bis zu sieben Jahre aufgeteilt werden, wobei nur in den letzten drei Jahren ein enger Kontakt zum Betreuer über einen längeren Zeitraum erforderlich ist. Vor Antritt des alternativen Residency-Programms kann ein Antrag auf teilweise rückwirkende Anerkennung der Tätigkeit der ersten vier Jahre (vom Resident über die/den College-Betreuer/in) gestellt werden. Vor der Aufnahme eines alternativen Residency-Programms muss der potenzielle Betreuer dem College einen konkreten Ausbildungsvorschlag unterbreiten, der das Erreichen der Ausbildungsziele garantiert. Die Veröffentlichungspflichten und Voraussetzungen zum Start eines Residency-Programms sind für Standard- und alternative Residency-Programme gleich.

The Board Exam (Diplomate-Prüfung)

Am Ende der (Standard- oder alternativen) Residency müssen alle Kandidaten eine Prüfung bestehen, die als „Board Exam“ bezeichnet wird. Jedes College führt seine eigene Prüfung durch, die auf Englisch stattfindet. Die Board Exams der meisten Colleges dauern länger als einen Tag und werden einmal im Jahr entweder in derselben oder einer anderen Stadt in Europa abgehalten. An einigen Colleges können Sie die nächste Prüfung nicht ablegen, wenn Sie die vorherige Prüfung nicht bestehen. Einige Colleges haben auch praktische Prüfungen. Ein Kandidat muss die Prüfung innerhalb von ausschließlich drei Versuchen bestehen. Sobald das College des EBVS mitteilt, dass ein Kandidat die Prüfung bestanden hat und nun Diplomate ist, listet das EBVS diesen Diplomate als „Spezialisten“ in der Disziplin des Colleges auf. Das EBVS stellt diesem Diplomate einen europäisch anerkannten Spezialistentitel aus. Der durch das EBVS erworbene Spezialistentitel ist nicht ewig gültig – er muss alle fünf Jahre neu validiert werden.

Derzeit sind die von europäischen Colleges verliehenen Diplomate-Titel offiziell anerkannt und können in vielen europäischen Ländern, einschließlich Österreich, verwendet werden. Die Verwendung des EBVS-Logos ist nur aktiven Diplomates der vom EBVS anerkannten Colleges gestattet und die Verwendung dieses Logos bedarf einer formellen Genehmigung des EBVS. Derzeit gibt es rund 120 Europäische Diplomates verschiedener Colleges in Österreich. Die Liste der Diplomates in Österreich finden Sie unter www.ebvs.eu.

Abschließend lade ich alle Kollegen, die während der Messe „Vet Austria“ (von 24. bis 25. September 2022 in Salzburg) mehr über dieses Thema erfahren möchten, freundlich ein, zum Informationsstand des EBVS zu kommen!

Link: www.vet-austria.at

 


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