„USA, wie geht es euren Rindern?"

Ein transatlantisches Gespräch über Ursachen, Therapien und neue Forschung zum Thema Durchfall beim Rind

Dr. Janina Rauch

Durchfallerkrankungen zählen nach wie vor zu den häufigsten und kostenintensivsten Problemen in der Rinderpraxis – vor allem bei Kälbern. Welche neuen Erreger, diagnostischen Möglichkeiten und pathophysiologischen Zusammenhänge sind in den letzten Jahren in den Fokus der internationalen Forschung gerückt? Und wie können prak­tische Tierärzt*innen im Spannungsfeld zwischen ökonomischem Druck, Antibiotikareduktion und Tierwohl fundierte Entscheidungen treffen?

Zu diesem Themenkreis konnte ich ein Gespräch mit Ass.-Prof. Dr. Lisa ­Gamsjäger, PhD, DACVIM, führen. Nach unserem gemeinsamen Studium in Wien führte sie ihr Weg über ­Irland, Kalifornien, Kanada und die Schweiz nach North Carolina, wo sie heute als international renommierte ­Expertin auf dem Gebiet der Rindermedizin tätig ist. 
Sie ist Assistenzprofessorin an der Rinderklinik des ­College of Veterinary Medicine der NCSU und forscht mit Schwerpunkt auf passiver Immunität, neonatalen Impfstrategien und Alternativen zum Antibiotikaeinsatz bei ­Kälbern. 
Im Gespräch gibt sie nicht nur fundierte Einblicke in ­aktuelle wissenschaftliche Entwicklungen, sondern auch in die klinische Realität in Nordamerika – und teilt ihre ­Einschätzungen, wie sich die Rindermedizin in den nächsten Jahren entwickeln könnte. 

Du arbeitest täglich mit Kälbern, bei denen Durchfall trotz Therapie nicht zurückgeht. Was sind aus deiner Sicht die häufigsten Gründe, warum Behandlungen scheitern – und welche versteckten Ursachen werden in der Praxis oft übersehen?

Das ist eine sehr gute und wichtige Frage, denn die Antwort ist gar nicht so leicht. In der Praxis behandeln wir oft nicht das eigentliche Problem, sondern setzen zu früh oder ausschließlich auf Antibiotika. Wenn ich mit Studierenden spreche, frage ich sie gern: „Woran sterben Kälber mit Durchfall?“ Und die Antwort sollte nicht „Am Erreger!“ sein. Die eigentliche Gefahr sind die ­Folgeschäden: hochgradige Dehydrierung, Acidose, Hypoglykämie, Unterernährung – und im schlimmsten Fall Sepsis. Genau hier liegt ein häufiger Fehler: Wir behandeln die Sepsis, ­obwohl sie eigentlich relativ selten auftritt, und ­übersehen dabei oft die lebensbedrohlichen Stoffwechselent­gleisungen. Wenn wir frühzeitig auf Rehydratation setzen, lässt sich die Antibiotikagabe in den meisten Fällen vermeiden. Flüssigkeits- und Elektrolyttherapie sind hier die Schlüssel: Sobald ein Kalb Durchfall zeigt, sollte es ­zusätzlich zur Milch mit einer passenden ­Elektrolytlösung versorgt ­werden. Das klingt einfach, ist aber in der ­Praxis oft proble­matisch – viele der ­erhältlichen Produkte ­enthalten entweder keinen Zucker, nicht genug Natrium, keine ­Puffer oder setzen auf Bikarbonat als Puffer. Das Problem mit Bikarbonat ist, dass es den abomasalen pH-Wert auf circa sieben oder acht erhöht – normal sind zwei oder drei. Diese drastische Veränderung führt nicht nur zu einer Vermehrung von Bakterien wie zum Beispiel E. coli und Salmonellen, sondern kann auch die Milchverdauung negativ beeinflussen, was oft zu einer Verschlimmerung des Durchfalls führt. Wenn wir eine Elektrolytlösung mit Bikarbonat verabreichen müssen, dann sollten mindestens vier Stunden zwischen Milchfütterung und Eingabe der ­Lösung liegen. Ich bevorzuge daher Elektrolytlösungen mit Puffern wie Acetat, Propionat oder Citrat – diese beeinflussen den pH-Wert im Labmagen nicht negativ und liefern sogar zusätzliche Energie, weil sie direkt in den ­Citratzyklus eingeschleust werden können.

Ein weiterer Punkt: Antibiotika sollten nur dann ­eingesetzt werden, wenn wir klinische Anzeichen einer Sepsis sehen – also z.     B. Fieber oder Hypothermie, rote Schleimhäute, injizierte Skleralgefäße, einen schlechten Saug­reflex oder Lethargie. Und auch dann nie ohne gleichzeitige supportive Maßnahmen: Flüssigkeit, Flüssigkeit, Flüssigkeit.

Gilt das nur für Kälber oder auch für adulte Rinder?

Ganz klar: für alle Altersgruppen. Ein großes Miss­verständnis ist, dass wir mit Antibiotika die bakteriellen Erreger im Darm „bekämpfen“. Das ist nicht der Fall! Außerdem sind viele Durchfallerreger gar keine Bakterien, sondern Viren oder Parasiten bzw. Protozoen. Die Antibiotika sind grundsätzlich nur dann nötig, wenn Bakterien aus dem Darm in den Blutkreislauf übertreten. Also: Bei ­Sepsis ja – aber nie routinemäßig bei jedem Durchfall.

Was die „versteckten Ursachen“ betrifft, möchte ich unbedingt noch die Kolostrumversorgung erwähnen. Ein Großteil der Probleme beginnt schon in den ersten Lebensstunden. Hygiene in der Fütterung – Flaschen, Eimer, Fütterungssonden – ist genauso entscheidend wie die Qualität und Quantität des Kolostrums. Biofilme sind hier unsere größten Feinde. Wenn man die Verschmutzungen mit freiem Auge erkennen kann, ist es oft schon zu spät.

Gerade bei Kälbern sehen wir oft Mischinfektionen. Welche diagnostischen Strategien empfiehlst du, um die wirklich klinisch relevanten Erreger zu identifizieren – und nicht in der Komplexität zu versinken?

Ich bin Internistin, mein Fokus liegt auf der Einzeltier­behandlung – und für mich ist Labordiagnostik das Um und Auf. Auf der Bestandsebene oder in der Fahrpraxis bin ich ein großer Fan von Schnelltests. Die heute verfügbaren Tests sind zuverlässig und decken die häufigsten Erreger wie Rotavirus, Coronavirus, E. coli oder Kryptosporidien gut ab.
Das hat mehrere Vorteile: Wir wissen, mit welchem ­Erreger wir es zu tun haben, können gezielt therapieren und auch die richtigen Präventionsmaßnahmen ­ableiten – zum Beispiel Impfstrategien für Muttertiere oder Hygiene­konzepte. Die Investition in Diagnostik zahlt sich also auch für den gesamten Betrieb aus.

Gibt es neue therapeutische oder präventive Ansätze, etwa Impfstoffe, Probiotika oder Immunmodulatoren, die du besonders vielversprechend findest oder bereits in der Klinik einsetzt?

Ja – und das ist wirklich eines meiner Lieblingsthemen! Gerade bei Kälbern tut sich enorm viel. Die wichtigste ­Präventionsmaßnahme ist für mich neben guter ­Hygiene und Kolostrumversorgung die Muttertierimpfung. Impfstoffe gegen Rota-, Coronaviren und E. coli werden ­während der Trächtigkeit verabreicht, damit Antikörper über das Kolostrum ans Kalb weitergegeben werden. Der Zeitpunkt ist entscheidend: optimal etwa acht bis 13 Wochen vor dem Abkalben, je nach Impfstoff.

Aber – und das sage ich in jedem Vortrag – ohne gute ­Kolostrumversorgung nützt die beste Impfung nichts. Inner­halb der ersten vier Lebensstunden sollten Kälber mindestens drei bis vier Liter qualitativ hochwertiges Kolostrum aufnehmen. Das ist die Basis für jede Immunität.

Pro- und Präbiotika sind ein heißes Eisen in der Forschung, aber aktuell liegen zu wenige Studienergebnisse vor, die eindeutige Ergebnisse zeigen. Jedenfalls handelt es sich aber um ein Gebiet, in dem wir in nächster Zeit mit vielen neuen Einblicken rechnen dürfen. 

Ich persönlich finde den Einsatz von Kolostrum als Therapeutikum sehr spannend – auch bei älteren Kälbern mit Durchfall. Studien zeigen, dass Kolostrum die Durchfalldauer reduziert und das Gewicht stabilisiert. Hier ­spielen Antikörper, aber auch Wachstumsfaktoren eine Rolle. Die genauen Mechanismen werden aktuell intensiv erforscht.
 

Wie stark beeinflussen Management, Fütterung und Umweltfaktoren die Entstehung von Durchfall? Und werden diese Einflussgrößen deiner Meinung nach in der Praxis ausreichend berücksichtigt?

Diese Faktoren sind absolut zentral. Ich spreche in ­diesem Zusammenhang oft von der epidemiologischen Triade: Wirt, Erreger und Umwelt. Nur wenn wir alle drei Komponenten im Blick haben, können wir Rindergesundheit wirklich ganzheitlich verstehen und fördern.

In der Praxis fokussieren wir uns leider oft ausschließlich auf den Erreger. Das Kalb hat Durchfall? Dann wird zum Beispiel auf Kryptosporidien oder Salmonellen behandelt. Aber was ist mit der Hygiene im Stall, mit dem Fütterungsmanagement, mit Stress durch Umstallungen, Tränkenwechsel oder schlechten Liegeflächen?
All diese Faktoren beeinflussen, ob ein Kalb krank wird – und wie schwer. Und genau hier liegen unsere größten Chancen als Tierärzt*innen. Wir können mit guter Be­ratung, Schulung und gutem Stallmanagement viel bewirken – oft mehr als mit Medikamenten.

Der Einsatz von Antibiotika bei Durchfall ist ein sensibles Thema. Wo ziehst du die Grenze zwischen sinnvoller Intervention und übertriebener Medikation – gerade im Hinblick auf Resistenzen?

Das ist ein Thema, das mich emotional mitnimmt. Wir befinden uns in einer globalen Antibiotikakrise, und obwohl das bekannt ist, werden Antibiotika in vielen Regionen der Welt noch immer zu häufig und falsch eingesetzt. Die Situation ist in Europa vergleichsweise noch halbwegs gut. Das Bewusstsein für Antibiotic Stewardship ist dort stärker ausgeprägt und die Regulationen sind strikter als in den USA. Aber auch in Europa ist das Prinzip „Viel hilft viel“ noch zu verbreitet – besonders in der Rindermedizin. Ich war kürzlich auf einer Farm in Kalifornien mit einer Durchfallinzidenz von 85 %. Dort wurde nahezu jedes betroffene Kalb mit Antibiotika behandelt. Im Rahmen einer Studie haben wir klare Behandlungsprotokolle eingeführt, bei denen nur septische Tiere Antibiotika erhielten – am Ende waren das nur drei von 100 Kälbern. Und siehe da: Die anderen wurden allein mit Flüssigkeit und ­Elektrolyten wieder gesund. Diese Erfahrung be­stätigt, was viele ­Studien bereits gezeigt haben: Mit klaren ­Leitlinien und guter Ausbildung der Tierhalter*innen lässt sich der Antibiotika­einsatz massiv reduzieren – ohne Nachteile für die ­Tiere zu bringen.

Wie groß war die Farm, auf der du die Studie durchgeführt hast?

Die Farm hatte rund 3.000 Kühe und etwa 200 bis 300 Kälber unter einem Monat, die wir täglich gescreent ­haben. Es war ein großes Projekt, aber gerade auf solchen Betrieben zeigt sich deutlich, wie viel Wirkung ein strukturiertes Gesundheitsmanagement haben kann.

Zum Abschluss: Welche Entwicklungen oder Forschungsschwerpunkte zum Thema Rinderdurchfall werden aus deiner Sicht in den nächsten Jahren besonders wichtig – auch für uns in Österreich?

Ich denke, es wird künftig zwei große ­Schwerpunkte ­geben: einerseits Forschungsprojekte zur Stärkung des Immunsystems, zum Beispiel durch gezielte Impf­strategien, Immunmodulatoren oder neue therapeutische Ansätze. Andererseits den Bereich ­Wissensvermittlung – denn auch das ist vor allem langfristig gesehen ein Gamechanger. Die Tiermedizin hat sich in den letzten zehn Jahren sehr stark verändert – viele Dinge, die wir noch an der Uni gelernt haben, sind bereits überholt. Beispielsweise ist die Idee, dass ein Antibiotikum immer „fertig gegeben“ werden muss, in einigen Fällen bereits obsolet und viele erforschte Antibiotika-Schemata sind deutlich kürzer als früher. Deshalb ist es so wichtig, Tierärzt*innen und Landwirt*innen mit aktuellem Wissen zu versorgen – zum Beispiel über kürzere, gezieltere Antibiotikagaben oder neue Präventionsstrategien.
Und wir müssen dringend mit den Betrieben über ­Resistenzen sprechen. Der Druck, den Antibiotikaeinsatz zu reduzieren, wird nicht verschwinden – im Gegenteil. Aber: Wenn wir als Tierärzt*innen international vernetzt zusammenarbeiten, klare Empfehlungen geben und unser Wissen teilen, dann können wir dieser Verantwortung ­gerecht werden.