Dr. Astrid Nagl
Ausgabe 12/2024- 01/2025
Es ist in den meisten Fällen der Familienhund und es passiert zu Hause: Kinder sind am häufigsten von Hundebissen betroffen. Die Bisse betreffen oft den Kopfbereich, das Gesicht oder die Hände und können zu lebenslangen gesundheitlichen Schäden führen. Doch verschiedene Studien zeigen, dass die Eltern potenziell gefährliche Situationen oft nicht erkennen, ja, sie sogar als weniger gefährlich einschätzen, als familienfremde Personen das tun würden. Wir Tierärzt*innen können daher durch rechtzeitige und gezielte Beratung wesentlich zur Prävention beitragen.
Kleine Kinder sind am häufigsten betroffen
Dass ein Kind gebissen wird, passiert oft sogar, wenn die Eltern im Raum sind. Gerade die ersten, niederschwelligen Warnsignale (Gähnen, sich über die Nase lecken, das Wegdrehen des Kopfs oder Weggehen) werden nicht als solche erkannt. In mehreren Studien konnte nachgewiesen werden, dass Personen, die selbst keinen Hund besitzen, Interaktionen besser einschätzen konnten als Hundebesitzer*innen; Eltern vertrauten dem Familienhund in Situationen, die Expert*innen als gefährlich einstuften. Doch der Umgang der Eltern mit dem Hund und mit solchen Situationen beeinflusst maßgeblich und messbar das Verhalten der Kinder.
Wenn der Hund vorher schon da war
Wie wichtig es ist, Hund und Kind von Anfang an gut innerhalb der Familie zu integrieren und sich mit diesem Thema aktiv auseinanderzusetzen, zeigt ein weiterer Aspekt der Forschungsarbeiten: Hunde, die Kinder gebissen hatten, waren oft älter als die Kinder selbst. Hunde, die schon in der Familie waren, bevor ein Kind gekommen ist, können anscheinend schlechter damit umgehen – sie zeigen in der Gegenwart des Kinds oft mehr Stress und Angst als freudiges Miteinander. Interaktionen sollten daher nicht erzwungen werden. Gerade ängstliche Hunde brauchen mehr Zeit und Anleitung, um sich an das Kind zu gewöhnen, und vor allem mehr Rückzugsmöglichkeiten.
Umarmen kann gefährlich sein
Bei den Situationen, die einem Biss vorangehen, handelt es sich oft um positive Interaktionen. Das Kind möchte den Hund zum Beispiel umarmen oder streicheln. Die Eltern erlauben das meistens, obwohl wir wissen, dass eine Umarmung bei Hunden auch Stress und/oder Angst auslösen kann. Das Risiko für einen Biss im Kopf- bzw. Gesichtsbereich war bei diesen gutwilligen Interaktionen sogar dreimal höher.
Schlafende Hunde wecken
Dass ein Hund, der sich gerade ausruht, nicht gestört werden sollte, wissen die meisten Hundebesitzer*innen. Auch solche Situationen führen oft zu Bissverletzungen, wenn sich ein Hund in seinem eigenen Ruhebereich gestört fühlt. Kinder finden es jedoch genauso wenig schlimm, schlafende Hunde zu stören, wie schlafende Eltern zu wecken. In den Studien erzählten Eltern, dass sie ihren Kindern erlaubten, sich neben den Hund oder auch mit in den Korb zu legen. Sie sagten aber, dass sie dieses Verhalten verhindern würden, wenn es sich um einen familienfremden Hund handelte. Gerade diese Situation ist durch gutes Vorbesprechen vermeidbar: Kinder können lernen, nicht auf einen ruhenden Hund frontal zuzugehen, sondern ihn zu rufen und ihn in Ruhe zu lassen, wenn er nicht von selbst kommt
Das tut mir weh!
Bereits sehr kleine Kinder suchen den Kontakt zum Familienhund. Dabei passiert es, dass sie ihm unabsichtlich Schmerzen zufügen, wenn sie sich zum Beispiel am Fell festhalten und hochziehen oder umfallen und auf den ruhenden Hund draufplumpsen. Solche Situationen sind besonders gefährlich, denn eine Abwehrreaktion in Folge von Schmerz passiert oft so schnell und ist so intensiv, dass man nicht rechtzeitig eingreifen kann. Daher sollte der Hund unbedingt einen Ruhebereich zur Verfügung haben, der getrennt vom Spielbereich der Kinder ist, etwa durch ein Türschutzgitter.
Das absichtliche Zufügen von Schmerz ist tatsächlich der zweithäufigste Grund für eine Bissverletzung und kam vor allem bei Kindern zwischen zwei und drei Lebensjahren (bis zu fünf Jahren) häufig vor. Oft wurde die eigene Spannung an den Hund weitergegeben. Wenn der Hund dann darauf reagiert – also weggeht, beschwichtigt oder aggressiv reagiert –, kann es sein, dass das Kind dieses Verhalten sogar wiederholt.
Er hat meinen Ball genommen!
Ein anderes häufiges Thema ist, dass das Kind dem Hund etwas aus dem Maul nehmen möchte, zum Beispiel das eigene Spielzeug. Bei den Bissverletzungen handelt es sich dann meist um Bisse an den Fingern. Das Gleiche gilt für Verletzungen im Zuge von Hol- und Bring-Spielen. Je älter die Kinder werden, desto enger wird die Bindung an den Hund – das bedeutet, dass sie sich auch mehr um den Hund kümmern, viel Zeit mit ihm verbringen und viel spielen. Das führt jedoch dazu, dass die Eltern weniger aufpassen als bei sehr kleinen Kindern; sie denken, ihr Kind würde sich gut auskennen und hätte diese Situationen im Griff.
Was wir Tierärzt*innen tun können
Tierärzt*innen spielen eine wichtige Rolle dabei, das Risiko von aggressivem Verhalten zu reduzieren. Wir haben im Rahmen der Konsultationen die Möglichkeit, Problembereiche zu erkennen und anzusprechen. Das betrifft vor allem Angstpatienten und Schmerzpatienten: Wenn mir bekannt ist, dass ein Hund unter chronischen Schmerzen leidet, sollte ich im Gespräch darauf hinweisen, dass im Zusammenleben mit Kindern deshalb besondere Vorsicht geboten ist. Ein solches Sicherheitsgespräch kann die Bewusstseinsbildung bei den Eltern fördern und im besten Fall verhindern, dass etwas passiert.
Mit den Kindern üben, Warnsignale zu erkennen
Die Eltern können mit ihren Kindern die Signale durchgehen, die der Hund gibt, wenn ihm etwas unangenehm ist und er sich der Situation entziehen bzw. sie entschärfen möchte. Übrigens raten Expert*innen dazu, Knurren in diesem Zusammenhang nicht zu unterbinden (!), weil es ein auch für die Kinder leicht erkennbares Warnsignal ist.
Kinder können die Körpersprache des Hundes nicht so gut interpretieren wie Erwachsene. Daher müssen die Eltern Interaktionen anleiten – es ist ihre Pflicht, die Warnsignale zu erkennen, richtig zu interpretieren und bei Bedarf einzugreifen. Wenn sie nicht im gleichen Raum sein können, muss eine physische Trennung gewährleistet sein.
Was geschieht, wenn es doch passiert
Wenn der Hund bereits ein Familienmitglied gebissen hat, sind sofortige Sicherheitsmaßnahmen erforderlich, die in vielen Fällen durch das Jugendamt oder von der Amtstierärzteschaft festgelegt werden. Zumindest ist eine Überweisung an eine/n Verhaltensspezialist*in notwendig, also ein verpflichtendes Verhaltenstraining. Am wichtigsten ist jedoch die Erstellung eines Sicherheitskonzepts für die Kinder im Haushalt – es muss gewährleistet sein, dass es nicht erneut zu einer Verletzung kommen kann. Eventuell muss auch ein neues Zuhause für den Hund gesucht werden.
Wir als Tierärzt*innen haben hier eine große Verantwortung, denn wir können entscheidend dazu beitragen, dass es zu einer solchen Situation gar nicht erst kommt. Diese Möglichkeit sollten wir unbedingt nutzen – im Sinne der Kinder, aber auch im Sinne unserer Patienten, der betroffenen Hunde.
Quellen und weiterführende Literatur:
Arhant, C., Beetz, A.M., Troxler, J. (2017): Caregiver Reports of Interactions between Children up to 6 Years and Their Family Dog – Implications for Dog Bite Prevention. Front. Vet. Sci. 4:130. doi: 10.3389/fvets.2017.00130
Demirbas, Y. S., Ozturk, H., Emre, B., Kockaya, M., Ozvardar, T., Scott, A. (2016): Adults’ Ability to Interpret Canine Body Language during a Dog – Child Interaction. Anthrozoös, 29(4), 581–596. https://doi.org/10.1080/08927936.2016.1228750
Jakeman, M., Oxley, J.A., Owczarczak-Garstecka, S.C., Westgarth, C. (2020): Pet dog bites in children: management and prevention. BMJ Paediatr. Open. doi: 10.1136/bmjpo-2020-000726. PMID: 32821860; PMCID: PMC7422634.
Reisner, I. R., Shofer, F. S. (2008): Effects of gender and parental status on knowledge and attitudes of dog owners regarding dog aggression toward children. Journal of the American Veterinary Medical Association, 233(9), 1412-1419. https://doi.org/10.2460/javma.233.9.1412