Über die Suche nach dem perfekten Zeitpunkt

Ein Interview mit Tierärztin Shannon Axiak Flammer

Tanja Warter

Als Anästhesistin gehört das Ausschalten von Schmerzen und Bewusstsein zu ihrem Arbeitsalltag – jetzt geht Shannon Axiak Flammer noch weiter: Sie hat eine Spezialpraxis für Palliativmedizin und Euthanasie gegründet. Noch sind Palliativmedizin, Tierhospiz und intensiv begleitete Euthanasie nur kleine Spezialgebiete in der Veterinärmedizin; eigentlich verwunderlich, denn jedes Tier muss sterben. Immer mehr Menschen sehnen sich jedenfalls nach Expert*innen, die sich fürs Abschiednehmen besonders viel Zeit nehmen können, ein offenes Ohr haben und die Entscheidung für den richtigen Zeitpunkt mittragen. Als Oberärztin für Anästhesie an der Universität Bern (Department für klinische Veterinärmedizin) hat sich ­Tierärztin Shannon Axiak Flammer neben ihrer aktuellen Tätigkeit mit einer mobilen Praxis für Palliativmedizin selbst­ständig gemacht.

Mit welchen Anliegen kommen Tierhalterinnen und Tierhalter eigentlich zu Ihnen in die Praxis?

Ganz oft brauchen sie Entscheidungshilfe. Viele sind verunsichert und mit der Verantwortung für Leben und Tod überfordert. Als ich 2001 mit meiner tierärztlichen Ausbildung fertig war, habe ich damals beobachtet, dass es wenig Zwischenraum zwischen Gesundmachen und Einschläfern gibt. Wir haben Fortschritte gemacht, aber ich habe oft den Eindruck, dass Tierärztinnen und Tier­ärzte unter dem Druck stehen, sich bei einer unheilbaren Erkrankung des Tiers zu entscheiden: Kann man das Tier nicht heilen, dann muss man es einschläfern. Das stellt für viele Besitzer eine enorm schwierige Situation dar; und zwischen den beiden Polen liegt ein großer Graubereich. 

Und wie ist es bei Tieren, die keine tödliche Krankheit haben? Welche Rolle spielt das Alter?

Eine große Rolle, ganz klar. Typisch sind beispielsweise Besitzer, die sagen: „Ja, der Katze geht es seit Langem nicht gut und wir möchten nicht, dass sie alleine sterben muss. Wir wissen aber nicht, wann das sein soll. Wann ist es richtig?“ Darum dreht es sich am häufigsten bei meiner Arbeit – um das Finden des richtigen Zeitpunkts.

Die Frage ist ja alles andere als trivial. Da kommt Psychologie ins Spiel, außerdem Ethik, dann der Tierschutz, oft auch das Geld. Wie legen Sie die Beratung an?

Normalerweise mache ich einen ersten Besuch und schaue mir die Sache an. Das Ziel der Palliativmedizin ist es, die Lebensqualität sowohl des Tiers als auch seiner Familie zu verbessern. Dies ist vielleicht der größte Unterschied zur traditionellen Tiermedizin: Die Lebensqualität von beiden steht im Mittelpunkt. Beispielsweise kann eine Katze eine Krankheit haben, die die Eingabe mehrerer Medi­kamente erfordert, die Familie ist überfordert, weil es ständig zu Kämpfen kommt. Meine Aufgabe ist es, Lösungen zu finden, zum Beispiel andere Formulierungen, andere Verabreichungswege und das Weglassen von Dingen, die nicht unbedingt notwendig sind. Viele Tiere ­erhalten eine tödliche Diagnose, aber es geht ihnen einiger­maßen gut. In diesen Fällen konzentriere ich mich auf die symptomatische Therapie und weniger darauf, was die Blutwerte sagen. Aber es gibt ein paar No-Gos: Das Tier darf nicht unter massiven Schmerzen oder perma­nenter Übelkeit mit Erbrechen leiden. Und es darf keine Atemschwierigkeiten haben. Sollte dies trotz Palliativ­therapie so sein, empfehle ich die Euthanasie. 

Trotzdem ist es nicht leicht, die Grauzone zu bewerten...

Stimmt, das kann schwierig sein. Ich frage oft in der Familie des Tiers: Was will das Tier? Die kennen ihr Tier viel besser als ich. Kann das Tier die Dinge tun, die ihm wichtig sind? Gibt es Dinge, die wir tun können, um die Situation zu ändern? Wenn ein Hund beispielsweise nicht mehr weit laufen kann, ist es hilfreich, einen Wagen dabeizu­haben, damit er noch mitmachen kann, wenn er müde wird. Aber wenn er regelmäßig unmotiviert ist, etwas mit seiner Familie zu unternehmen, kann das auch ein wichtiger Hinweis darauf sein, dass es aufs Ende zugeht. Anderer­seits erlebe ich Besitzer, die mir sagen, der richtige Zeitpunkt sei nun gekommen, und ich sehe vor mir einen leben­digen, aufgeweckten Hund. Aber das kann täuschen. Es ist womöglich nur dieser eine kurze Moment im ganzen tristen Alltag, in dem er sich nochmals aufrappelt. Wenn die Besitzer erzählen: Der schläft nicht mehr, wir schlafen auch nicht mehr und er ist nicht mehr stubenrein und Ähnliches – dann ist der kleine lebhafte Moment nur ein winziger Ausschnitt der Wirklichkeit. 

Neben den medizinischen Aspekten wird oft auch vom Erhalt der Würde des Tiers gesprochen. Wie sehen Sie das?

Besitzer*innen spüren, ob sich das Tier zum Beispiel schämt, wenn es ins Haus macht, und ob es niedergeschlagen und freudlos ist, weil die Dinge nicht mehr so laufen wie früher. Dann sind die Menschen in Sorge, vielleicht sogar im Stress – und das wiederum nehmen die Tiere wahr. Die enge Verbindung zwischen beiden wirkt sich wechsel­seitig aus; alles wird gespiegelt. Wenn das Tier den Alltag nicht mehr würdevoll mitmachen kann, ist das ein wichtiges Entscheidungskriterium. Ich empfehle oft, dass die Familie dem Tier sagt, dass es gehen darf. Ich habe den Eindruck, dass manche Tiere sich festhalten, um ihre ­Besitzer*innen zu schützen.

Können Tierhalter*innen dafür einen Blick entwickeln?

Ich rate immer, ein Tagebuch zu schreiben und auch Schmerz- und Lebensqualitätsskalen auszufüllen, denn sonst merkt man kleine Unterschiede nicht. Es kann sein, dass es über Tage hinweg eine positive Tendenz gibt, aber plötzlich ein Einbruch passiert. Dann weiß man, dass der Zustand bis vor einem Tag stabil war, und kann beim Einbruch noch einen Tag abwarten. Der Trend ist da hilfreich. Man sieht mit Tagebuch schnell, wenn die Zahl der schlechten Tage im Verhältnis zu den guten Tagen anteilsmäßig überwiegt. Dies ist ein guter Zeitpunkt, denn man darf sich auch nicht zu viel Druck wegen des ­perfekten Zeitpunkts machen. Oft ist es besser, die Entscheidung ein wenig früher zu treffen und einen Termin zu vereinbaren, auf den alle gut vorbereitet sind. Dann ­können zum Beispiel erwachsen gewordene Kinder ­anreisen, es passiert nichts überraschend, alle sind auf das Ende eingestellt. Natürlich ist es traurig, aber es ist auch schön, dass man diese Atmosphäre des Miteinanders herstellen kann. 

Sind Sie oft damit konfrontiert, dass eine Euthanasie nicht gewünscht wird?

Das kommt vor – und ich unterstütze diese Familien, nachdem ich den Unterschied zwischen dem natürlichen Tod und dem hospizunterstützten natürlichen Tod erklärt habe. ­Viele haben den Wunsch, dass das Tier einfach im Schlaf stirbt, wissen aber nicht, dass dieser Prozess sehr indi­viduell ist und lange dauern kann. Es ist dann wichtig, dass das Tier regelmäßig von einem Tierarzt untersucht wird; die Familie muss bereit sein, Zeit, Energie, Geld und schlaflose Nächte zu investieren. 

Wie gehen Sie beim Einschläfern vor?

Ich habe als Anästhesistin meinen eigenen starken Cocktail, den ich subkutan gebe und mit dem ich versuche, für den Besitzer unerfreuliche Nebenwirkungen wie Er­brechen so gut wie möglich auszuschalten. Die Ein­leitung der Anästhesie dauert dann etwa eine Viertelstunde und kann in den Armen der Besitzer passieren. Trotz der furchtbaren Umstände ist das auch schön. Als letzten Schritt verabreiche ich das Pentobarbital. Oft verwende ich eine intraorganische Technik, beispielsweise in die Leber, nachdem ich mich vergewissert habe, dass das Tier vollständig betäubt ist. Bei korrekter Durchführung erspart dies den Stress des Katheterlegens und kann ­ästhetisch ansprechender sein. Ich gehe langsam vor und erkläre immer vorsichtig, was ich tue und was passieren kann.  

Und Sie persönlich - wie verarbeiten Sie es, der "Todesengel" zu sein, der ins Haus kommt?

Das ist tatsächlich eine Frage der Sichtweise. Man darf sich nicht denken, dass man laufend Tiere ermordet. Das wäre auch für mich psychisch zu belastend. Sterben müssen wir alle, und ich sehe mich eher als eine Art Hebamme, die dem Tier hilft, in eine neue Welt überzutreten.