Tierärztin Tanja Warter
Ausgabe 05/2021
Im Studium erfährt man aus Lehrbüchern alles über Tollwut, von der Ätiologie bis zur Klinik – in der Praxis bekommt kaum ein Tierarzt diese Krankheit je zu Gesicht.
Erinnern Sie sich noch, als im vergangenen Sommer ein Fuchs zweimal hintereinander in ein Hotelzimmer in Kärnten schlich, dort einmal einen Mann und einmal ein Kind biss? Ein typischer Moment, in dem reflexartig der Gedanke „Tollwut“ hochkommt. Und das, obwohl es in Österreich über 40 Jahre her ist, seit zum letzten Mal Tollwut durch einen Fuchsbiss auf einen Menschen übertragen wurde. Seit 2008 gilt Österreich offiziell als tollwutfrei, weshalb 2012 auch die Impfung der Füchse eingestellt werden konnte. Der beißende Fuchs in Kärnten dürfte eine Handaufzucht gewesen sein, weshalb ihm die Scheu vor Menschen fehlte. In der österreichischen Hundepopulation ist Tollwut schon seit 1950 erloschen.
Und trotzdem löst Tollwut bis heute auch bei uns Angst und Schrecken aus. Allein der Blick infizierter Hunde muss furchteinflößend sein: Rot unterlaufene Augen, dazu übermäßiger Speichelfluss, die Aggressivität, der taumelnde Gang, Verwirrtheit und Kampfeslust. Betroffene Tiere werden so wasserscheu, dass sie unfähig sind, zu trinken, und beim Anblick von Wasser einen Veitstanz aufführen. Bis heute vermuten Medizinhistoriker, dass die Tollwut der Auslöser für Geschichten vom Werwolf bis hin zum Hund von Baskerville gewesen sein könnte. Noch Anfang des
20. Jahrhunderts war sie allgegenwärtig und verwandelte zahme geliebte Haustiere in schäumende Bestien, deren Bisse zu 100 Prozent tödlich waren.
Bei Lichte betrachtet ist die Strategie dieses Virus phänomenal. Es wird mit dem Speichel übertragen und sorgt daher beim Wirt für einen entsprechend starken Speichelfluss. Zugleich steigert das Virus dessen aggressives Beißverhalten. Heißt: Die Tollwut manipuliert massiv die Gehirnfunktionen des Infizierten. Ziel: Dieser möge vor seinem Tod möglichst viele weitere Opfer beißen und anstecken.
Darüber lässt sich heute aus wissenschaftlicher Sicht vortrefflich staunen und forschen, aber es ist nicht verwunderlich, dass die meisten Menschen vor über 100 Jahren bei der Tollwut an eine Art „Strafe Gottes“ glaubten.
Die meisten Menschen, aber nicht alle. Dem Tierarzt Pierre Victor Galtier (1846–1908), der als Professor an der Veterinärmedizinischen Hochschule in Lyon tätig war, gelang es 1879, den Erreger der Tollwut vom Hund auf Kaninchen zu übertragen. Dazu entnahm er den Hunden Speichel, fügte den Kaninchen Verletzungen zu und kontaminierte die Wunden mit dem Hundespeichel. Die Langohren starben daraufhin an Tollwut und produzierten, auch das fand Galtier heraus, selbst wiederum infektiösen Speichel. Diese Erkenntnisse lieferten eine Steilvorlage für die sechs Jahre später erstmals verabreichte Impfung, über deren genauen Hergang diese Geschichte überliefert ist:
Es war der 6. Juli 1885. Joseph Meister, ein neunjähriger Bub aus Villé (damals Willer) im Elsass, war vom Hund des örtlichen Delikatessenhändlers angefallen und 14-mal gebissen worden. Der Hund, der noch mehrere Menschen anfiel, war tollwütig, die Bisse für den Bäckerssohn also das Todesurteil. Man brachte das schwer verwundete Kind zum nächsten praktischen Arzt, der die Wunden des kleinen Joseph desinfizierte und erstversorgte. Genau dieser Arzt hatte wenige Tage zuvor in einem medizinischen Fachjournal darüber gelesen, dass sich in Paris ein gewisser Biochemiker namens Louis Pasteur mit der Tollwutimpfung beschäftige. Schon am nächsten Tag machten sich der Delikatessenhändler und die Mutter von Joseph Meister mit dem kleinen Patienten auf den Weg nach Paris. An Hunden hatte Pasteur zu diesem Zeitpunkt die Impfung bereits erfolgreich getestet, sie war die letzte und einzige Hoffnung für das Überleben des Buben. Schon öfter war Pasteur damals gefragt worden, ob er nicht endlich auch Menschen mit seinem Wirkstoff impfen würde. Da er kein Mediziner war, hatte er vor diesem Schritt große Sorge und verschob ihn mehrfach.
Für die Herstellung des Impfstoffs hatte der Forscher Rücken-markssubstanz eines Kaninchens entnommen, das an Tollwut gestorben war. Er trocknete die Substanz 14 Tage lang, was die Infektiosität drastisch verringerte, und verabreichte sie gestreckt mit destilliertem Wasser einer Reihe von Hunden. Danach gab er weitere Injektionen mit 13, zwölf, elf, zehn Tage lang getrockneter Rückenmarkssubstanz, und so weiter. So wollte Pasteur erreichen, dass der Körper sich nach und nach mit den Erregern arrangieren kann. 14 Tage nach Ende dieser Serie gab Pasteur den Hunden frische erregerhaltige Rückenmarkssubstanz. Normalerweise hätten sie daraufhin an Tollwut erkranken müssen – wie auch die anderen Hunde vorher, bei denen er es probiert hatte. Aber: Sie bekamen keine Tollwut! Aus irgendeinem noch nicht geklärten Grund gab es eine Schutzwirkung durch die Vorbehandlung.
Der kleine Joseph erhielt auf Drängen schließlich genau die 14 Injektionen, die auch die Hunde bekommen hatten. Pasteur hatte eigens Ärzte hinzugezogen. Begonnen wurde wieder mit dem schwach virulenten, länger getrockneten Rückenmark. Am Ende der Behandlung bekam auch der Bub die hochvirulente Dosis. Es war wie ein Wunder: Joseph Meister überlebte. Nach Abheilung der Wunden durfte er gesund wieder nach Haus. Pasteur impfte noch einen weiteren Menschen, veröffentlichte die Sensation und wurde weltweit gefeiert. Der Rest ist Geschichte.
Global ausgerottet werden konnte Tollwut bislang nicht. Laut WHO sterben heute noch etwa 60.000 Menschen jährlich daran, 95 Prozent davon in Asien und Afrika, wobei die Dunkelziffer erheblich sein dürfte. Über die Hälfte sind Kinder unter 15 Jahren. Alle Reservoir-Tiere auf dieser Welt zu impfen ist bislang unmöglich – da wären ja nicht nur die Hunde, Füchse, Marderhunde, Kojoten, Waschbären oder Mangusten, sondern auch noch die zahllosen Fledermäuse, die Tollwut übertragen können.
Dennoch ist der Erfolg der Impfung mit so vielen tollwutfreien Teilen der Erde ein herausragender Erfolg moderner Medizin. Dabei, und das sei am Rande noch angemerkt, weiß bis heute niemand, ob Joseph Meister überhaupt mit Tollwut infiziert war. Im Bauch des Hundes, der ihn gebissen hatte, fand der Tierarzt angeblich Holz, Heu und Stroh. Das galt damals als eindeutiger und einziger Beweis für eine Tollwutinfektion des Tiers. Ob es stimmte, weiß heute niemand. Von Viren hatten Pasteur und Zeitgenossen ja noch keinen Schimmer.