"To live and to die": Lebensqualität versus Leiden

Prognose-Findung und Euthanasie bei Hund und Katze

Dr. Andreas Zohmann, Dr. Markus Kasper

Prinzipiell ist jeder Tierarzt / jede Tierärztin von Beginn seiner / ihrer Tätigkeit mit dieser Problematik konfrontiert – doch sind wir darauf vorbereitet? Nur selten (wenn überhaupt) hatte man in der Ausbildung eine leitende Hand; jemanden, der angehende Tierärzt*innen mit der nötigen psychologischen Feinfühligkeit, gepaart mit umfassender Fachkenntnis, in einen hochsensiblen Entscheidungsbereich einführt: in die Kunst, dem physisch-psychischen Status unseres vierbeinigen Patienten sowie der psychischen (und nicht selten auch physischen) Lage dessen zweibeinigen Partners gerecht zu werden.
 

Das Tier

Die sorgsam erhobene Anamnese und die subtile klinische Untersuchung führen nach Zusammenfassung aller erhobenen Befunde zu einer (möglichst exakten) Diagnose des Status praesens. Daraus sollte sich (theoretisch) die Prognose ergeben – hier beginnen sich aber Mediziner*innen von Ärzt*innen zu unterscheiden: Auf der einen Seite die harten pathophysiologischen Fakten, auf der anderen Seite die Befindlichkeit des Patienten.

Grundfragen: 

  • Schmerzpatient?
    • Hauptproblematik:
    • Orthopädisch?
    • Neurogen?
    • innere Organe betreffend?
    • tumorassoziiert?
  • Hauptfrage: Leidet der Patient? Wenn ja:
    • Ist er (noch) grundsätzlich therapierbar (Alter!)?
    • Ist eine palliative Therapie zumutbar (Achtung – es geht nur um den Patienten!)?
      Oder kann und wird keine ärztliche Intervention etwas am Leidensstatus verändern können (Worst Case)?

Auf die vielfältigen therapeutischen Möglichkeiten (nicht chirurgisch und chirurgisch) wird im Rahmen dieses Beitrags nicht näher eingegangen. Unsere Aufgabe besteht darin, eine persönliche Einschätzung (und mehr kann es in diesem hochsensiblen Bereich nicht sein) aufzuzeigen, wie lange einem Tier und seinem Besitzer bzw. seiner Besitzer*in eine Therapie noch zumutbar bzw. aus unserer Sicht als Tierärzt*innen ethisch vertretbar ist.

Zu den einzelnen oben angeführten Punkten: 

Schmerzpatient?

Dazu prinzipiell: Ein Patient mit Schmerzen ist nicht ­zwingend ein Schmerzpatient! Erst die Chronifizierung einer schmerzhaften Situation formt den Schmerz­patienten – das Geschehen hat sich verselbstständigt, als Folge der neuronalen Plastizität sind Gewebszellen dieses Patienten „anfälliger“ für kleinere bis kleinste Reize geworden und reagieren damit überschießend mit Aktions­potenzialen, oder aber sie entladen bereits spontan, auch ohne Reizeinwirkung.
Im Rahmen unserer Anamneseerhebung wird der Besitzer / die Besitzerin auch gefragt, ob er / sie denn denke, sein / ihr Tier habe Schmerzen. Ein Teil der Besitzer*innen verfügt über eine sehr gute Beobachtungsgabe bzw. hat einen sehr intensiven Bezug zum vierbeinigen Partner und wird diese Frage (teilweise auch anhand verschiedener Parameter) mit „Ja“ beantworten können. Ansonsten können wir aber auch mit gezielten Fragen respektive gemeinsamen Wahrnehmungen im Rahmen der Vorstellung des Patienten unterstützen:

  • Der Patient „riecht“ in letzter Zeit auffallend – die Schweißdrüsen werden vom Sympathicus, dem „Stress-Nerv“, innerviert (kennt man bestens auch vom Menschen).
  • Das Haarkleid ist stumpf, schuppig (vielleicht auch nur regional) und wirkt ungepflegt – Sympathicus-bedingte Vasokonstriktion führt zur Malnutrition der (vielleicht auch nur segmental begrenzten) Hautgewebsschichten und das Komfortverhalten ist einer der ersten „Triebe“, die in (Dauer-)Stresssituationen für das Individuum an Bedeutung verlieren.
  • Vermehrtes Hecheln, Schmatzlaute bei bestimmten Bewegungen oder Berührungen.
  • „Schmerzgesicht“; risus dolorosus („Schmerz­grinsen“, Tier kommt in Bewegung, Lippenwinkel ziehen sich nach hinten; das Tier scheint „zu lachen“) – es handelt sich um ein schmerzverzerrtes Gesicht.
  • Auffälligkeiten in Körperhaltung, Bewegung und Wesen, die vom Besitzer / von der Besitzerin beschrieben werden: verringerte Belastbarkeit, Ausweichbewegungen, Schonhaltungen, Zurückgezogenheit, vermehrte Aggressivität, zunehmende Lethargie bis Apathie.
  • Und nochmals das sympathische Nervensystem: Mydriasis, Hypertonie, Tachykardie.

Orthopädisch oder neurologisch?

Die Differenzierung, ob die Problematik orthopädisch oder neurologisch bedingt ist, leitet wieder weiter zu folgendem Schluss: Orthopädische Probleme „tun (häufig sogar sehr) weh“, sind aber nicht lebensbedrohend – neurologische Probleme (lumbosakrale Stenosierung z. B.) sehen zwar dramatisch aus, „tun“ aber „nicht bzw. kaum weh“ – lebensbedrohend wahrscheinlich erst durch die Überlastung der Tierbesitzer*innen bei nicht mehr zu ertragender Harn- und/oder Kot-Inkontinenz.

Innere Organe und Tumore

Speziell hier die Frage: Lebensbedrohlich – ja oder nein? Hier besonders zu berücksichtigen ist der oft sehr heimtückische Charakter dieses Problemkreises: teilweise wenig Symptomatik, aber massive Auswirkungen auf assoziierte Körperbereiche bis systemisch!

Der Besitzer / die Besitzerin

Die Besitzer*innen sind diejenigen, die mit ihrem vierbeinigen Partner ankommen und Probleme schildern. Höchste Vorsicht bei der zur Diskussion stehenden Thematik:

  • Der Besitzer / die Besitzerin erkennt in vielen Fällen die Zeichen des natürlichen Alterns nicht (oder will sie nicht wahrhaben!), und uns wird dann gesagt, der Hund, den man von klein auf kenne, laufe nicht mehr seine acht bis zehn Kilometer, so wie früher – sei es jetzt so weit? Hier genügt oft nur der kleine Hinweis auf das schon fortgeschrittene Alter und die damit verbundene abnehmende Agilität ohne Schmerz- oder Leidenshintergrund.
  • Der Besitzer / die Besitzerin kennt und weiß um die Problematik seines / ihres alten Tiers einerseits, andererseits will er oder sie sie nicht wirklich wahr­haben – „leider will er / sie nicht mehr gehen, aber er / sie ist kopfmäßig noch voll da …“ Oder noch besser: „Beim Joggen läuft er immer noch mit“ (welcher Hund würde sein Herrchen davonlaufen lassen?); oder aber: „Fressen tut er noch immer“ (das tun Tiere nicht selten bis zum Schluss!). Speziell hier ist es auch wichtig, den Besitzer / die Besitzerin nach solch oben angeführten Kriterien zu befragen.
  • Sowie unser größtes Problem: Wir realisieren, welch wichtigen psychosozialen Stellenwert dieser Vier­beiner im Leben seines Besitzers / seiner Besitzerin, die nicht selten betagt und sehr einsam sind, einnimmt: „Dieses Tier ist mein einziger noch verbliebener Lebensinhalt. In meinem Alter schafft man sich kein neues Tier mehr an …“
  • Und nun sind wir mit der Frage konfrontiert: Daumen runter oder rauf?

Der Tierarzt / die Tierärztin

Abgesehen davon, dass an erster Stelle natürlich das zu stehen hat, wovor wir uns immer hinter den „wissenschaftlichen Fakten“ zu verstecken suchen, nämlich das, wozu wir eigentlich unsere „Berufung“ zu finden suchten, nämlich Intuition, Bauchgefühl, Empathie für Tier und Mensch …
Man könnte viele Beispiele diskutieren, ich möchte nur eines nennen: Cauda-equina-Kompression ante portas. 
Radiologisch schon länger (mehr oder weniger zufällig anlässlich LWS-Röntgen) avisiert, erste klinische Anzeichen wie ggr. Unsicherheiten bei Wendungen, Aufsteh-
schwächen und so weiter (Sie kennen das ja …) – aber: Nichts Dramatisches – eigentlich … Dennoch wird die Frage nach Euthanasie gestellt; von wem, sei jetzt einmal dahin­gestellt. Wir können nur aus unserer eigenen (durch lange Jahre der Schmerzpraxis gewonnenen) Überzeugung sagen, dass dieser Patient in diesem engsten Wortsinn für uns erst dann einen „Leidenden“ repräsentieren würde, wenn er mit seiner Situation nicht mehr zurechtkäme – das bedeutet: Unsicherheit bis Aggressivität gegenüber Artgenossen (oder seltener auch gegenüber Menschen) sowie (für uns vorrangig) Verlust der Harn- und/oder Kot- Kontrolle. 
Dazu: Unser deutsches Wort „Pein“ und das englische Wort „pain“ sind etymologisch gesehen gleichen Stammes. Hunde und Katzen sind auf Reinlichkeit geprägt oder „getrimmt“ – in beiden Fällen sehen wir den Verlust der ­körpereigenen Kontrollfunktionen als eine Belastung; für die Tiere, die die Körperreinlichkeit bzw. -pflege als Lebensinhalt integrierten, und für deren Menschen, die nach mehr oder minder langer Zeit dem Druck der zunehmenden Isolierung nicht mehr standhalten: „Wir können ja mit ihm / ihr nirgendwo mehr hingehen, und zu uns nach Hause laden wir des Geruchs wegen auch schon lange niemanden mehr ein …“ 
Dazu weiter: Die Worte „peinlich“ bzw. „Peinlichkeit“ leiten sich ebenfalls von „pain“ (Schmerz oder aber Leiden) ab: Das geben wir den Tierbesitzer*innen mit, um ihnen die Möglichkeit zu geben, langsam von ihrem Partner Abschied nehmen zu können, ihm seine Würde zu erhalten – und tun Sie das bitte auch!

Natürlich gibt es genug Situationen, in denen Tiere uns Menschen gegenüber den Vorteil haben, erlöst zu werden, wenn der Leidensdruck (für beide) nicht mehr ertragbar ist. Andererseits gibt es auch genug – nennen wir sie ruhig so – „Erscheinungsbilder“ alternder bzw. alter Tiere, die sehr wohl noch, trotz vielleicht einer Vielzahl von Behinderungen, Lebensqualität zeigen.
Nach unserem Empfinden steht die Würde des Individuums, des Unteilbaren, im Vordergrund, und solange diese – in einem schmerzarmen bis schmerzfreien Bereich – angestrebt werden kann, solange werden wir unsere Tätigkeit mit Moribunden bis Morituri ausüben. Und wenn es auch nur das Letzte ist, was man diesem Lebewesen angedeihen lassen kann – eine fundierte Palliativtherapie, also Schmerz- und Physiotherapie.

„Ethik ist grenzenlose Verantwortung für alles, was lebt.“
– A. Schweitzer