Tierversuche

PRO und KONTRA

Mag. Eva Kaiserseder

Kaum ein Thema in der Forschung ist ethisch so umstritten wie der Tierversuch, also das Experimentieren an und mit lebenden Tieren. Wir geben an dieser Stelle beiden Positionen Raum und beleuchten die Kontroverse.

PRO
Exner: „Tierversuche sind nur ein Teil des Spektrums!“

Tierversuche im Jahr 2017 – warum sind sie nach wie vor nötig? 
Wissenschaftliche Versuche an und mit Tieren spielen bis heute immer noch eine extrem wichtige Rolle in der Erforschung der biologischen Funktionen von Tier und Mensch. Sie werden aber nur zu einem geringen Prozentsatz eingesetzt und ergänzen beispielsweise Ergebnisse aus Zell- und Organkulturen. 


Wie sieht das in der Praxis prozentual aus und welche Arten von Tierversuchen gibt es?
Den größten Anteil hat in Deutschland die biomedizinische Forschung mit circa 46 Prozent. Das umfasst Grundlagenforschung (35 Prozent) und angewandte Forschung (11 Prozent), wobei diese Trennung aus unserer Sicht nicht sinnvoll ist, da die Grenzen hier fließend sind. Nicht ganz ein Viertel (2015: 22 Prozent) der Versuchstiere werden für sogenannte regulatorische Versuche verwendet, also Versuche, die vor allem für Unbedenklichkeitsprüfungen und Qualitätskontrollen gesetzlich vorgeschrieben sind. 2015 wurden in Deutschland 27 Prozent aller verwendeten Tiere nicht in Tierversuchen eingesetzt, sondern für wissenschaftliche Zwecke getötet, etwa, um Organe für weitere Untersuchungen zu entnehmen. Eine vorherige Behandlung der Tiere hat hier nicht stattgefunden. 

Außerdem wird die Zucht von Tieren, die durch genetische Mutationen belastet sind, als Tierversuch erfasst
(zwei Prozent). Ein weiterer Anteil umfasst die Tiere, die zu Aus-, Fort- und Weiterbildung wie beispielsweise in der tierärztlichen Ausbildung oder in der Ausbildung von Tierpflegern und Forschern benötigt werden (zwei Prozent). 

Von wie vielen Versuchstieren ist EU-weit aktuell die Rede?
Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es für die EU keine aktuellen Zahlen. Der letzte veröffentlichte Datensatz stammt aus 2011, also noch vor der Umsetzung der neuen Richtlinie. Damals waren es knapp 11,5 Mio. Tiere, davon über 70 Prozent Mäuse und Ratten. Bei 500 Mio. EU-Einwohnern zu dieser Zeit kommen also ca. 23 Tiere auf 1.000 Einwohner. Aktualisierte EU-einheitliche Zahlen sind für November 2019 angekündigt.

Für welche Bereiche/Forschungsschwerpunkte wird besonders intensiv mit Versuchstieren gearbeitet? Welche medizinischen Erfolge gehen auf das Konto von Tierversuchen und warum?
Schaut man sich den Bereich der biomedizinischen Forschung an, so steht natürlich das Krankheitsgeschehen des Menschen im Vordergrund. Forscher versuchen, zu verstehen, wie Krankheiten entstehen, bzw. erst einmal müssen sie verstehen, wie ein gesundes Organ oder eine gesunde Zelle im Organismus funktioniert, bevor Therapien entwickelt werden können. Schwerpunkte der Forschung liegen dabei zum Beispiel in der Krebsforschung, in der Herz-Kreislauf-Forschung oder in der Erforschung von Infektionskrankheiten. In unserer Gesellschaft, in der die Menschen immer älter werden, nehmen die neurologischen Erkrankungen wie Demenz oder Alzheimer zu, auch hier besteht ein hoher Forschungsbedarf. Allerdings werden nicht nur Tiermodelle auf diesen Gebieten eingesetzt, sondern es ist ein Nebeneinander von verschiedenen Methoden, die auch Untersuchungen von Zell- bzw. Organkulturen oder Verlaufsuntersuchungen am Menschen und klinische Studien umfassen. Ein klassisches Beispiel, dass Tierversuche zum medizinischen Fortschritt beigetragen haben, sind die Entdeckung des Insulins in den 20er-Jahren und die Entwicklung von Behandlungsmethoden der Zuckerkrankheit. Die Erforschung der Krankheit und die Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten sind aber bis jetzt noch nicht abgeschlossen. Bei Infektionskrankheiten ist es wichtig, dass man die Immunantwort des Körpers auf Bakterien und Viren kennt. Unser bester Schutz vor Infektionen ist neben einem gesunden Immunsystem die Impfung gegen Infektionskrankheiten, die sich schnell ausbreiten. Die Impfstoffentwicklung war und ist derzeit auf Tierversuche angewiesen. 

Stichwort neue Methoden (Multiorganchips, In--vitro--Kulturen …) – wie sehr können/werden sie Tierversuche ersetzen bzw. ergänzen?
Alternativen zum Tierversuch sind bereits flächendeckend in Gebrauch. Viele dieser Methoden haben bereits in den 80er- und 90er-Jahren zu einer starken Verringerung der Versuchstierzahlen, vor allem in der pharmazeutischen und chemischen Industrie, geführt. Das Einsparpotenzial scheint aber dann an eine Grenze gekommen zu sein. Heute müssen wir für die allermeisten wissenschaftlichen Fragestellungen alle uns zur Verfügung stehenden Methoden nutzen, um aussagekräftige Ergebnisse zu bekommen. Es ist der Methodenmix, der dabei so wichtig ist. Tierversuche sind dabei nur ein Teil des Spektrums, dem ständig neue Methoden hinzugefügt werden. Noch mal: Alle Methoden, die verfügbar sind, werden auch eingesetzt. Und wenn es eine validierte Alternative zu einem bestimmten Tierversuch gibt, dann wird dieser nicht mehr durchgeführt. Die Gründe, warum man nicht alles mit den sogenannten Alternativmethoden erforschen kann, liegen eher an anderer Stelle: In der Erforschung der biologischen Mechanismen und Zusammenhänge von Gesundheit und Krankheit sind die wissenschaftlichen Fragen häufig so komplex, dass nur ein vollständiger Organismus die Antworten liefern kann. Im regulatorischen Bereich hingegen ist das Einsparpotenzial durch die Alternativmethoden größer, weil die meisten Versuche dort sehr standardisiert ablaufen. Allerdings sind hier die rechtlichen Hürden sehr groß, sodass bis zur internationalen Anerkennung einer neuen Methode leicht zehn bis 20 Jahre vergehen können.

Warum ist gerade die Maus/das Mausmodell so attraktiv für die humanmedizinische Forschung? Und was hat es mit der genmanipulierten Maus (Knock-out-Maus) auf sich?
Um es gleich vorwegzusagen: Die Maus ist nicht in jedem Fall das beste Modell für menschliche Erkrankungen. In vielen Fällen haben aber existierende Mausmodelle zu wichtigen medizinischen Durchbrüchen verholfen, etwa in der Krebsforschung, und liefern wichtige Erkenntnisse, die schlussendlich Patienten helfen können. Knock-out-Mäuse spielen dabei eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, grundlegende biologische Mechanismen zu erforschen oder Krankheiten nachzubilden, die auf genetischen Defekten beruhen. Insgesamt stehen der Forschung heute viel mehr gentechnische Möglichkeiten zur Verfügung, sodass immer präzisere Eingriffe möglich werden. Es gibt heute vielfach Bestrebungen, Krankheitsmodelle in der Maus zu verbessern und an das menschliche Krankheitsbild anzupassen. Dabei werden Mäuse „humanisiert“, also mit bestimmten menschlichen Genen versehen. 

Außerdem wissen wir schon sehr viel über die Mausbiologie und ihre Genetik, sodass es leichter fällt, hier tiefer gehende Antworten zu erhalten. Natürlich spielt auch eine Rolle, dass Mäuse im Vergleich zu Großtieren wie Schweinen oder Schafen leichter gehalten werden können und gut genetisch veränderbar sind. Möglicherweise sehen wir aber durch neue Methoden der Gentechnik (etwa CRISPR/Cas9) hier bald Verschiebungen zu anderen Tierarten, das ist momentan noch schwer abzuschätzen.

Besonders die Grundlagenforschung mit Tierversuchen ist umstritten. Warum ist die Forschung dennoch der Meinung, sie zu brauchen?
Wie gesagt, glaube ich nicht, dass eine Trennung von Grundlagenforschung und angewandter Forschung sinnvoll ist. Es gibt sehr viele Bereiche, in denen der Übergang fließend ist. Außerdem kommen viele Forschungsimpulse aus der Klinik in das Labor und umgekehrt, sodass sich diese Forschungszweige gegenseitig bedingen. Die Forschung muss aber immer so frei bleiben, dass sie auch Fragen stellt, auf die wir heute nicht unbedingt Antworten brauchen, weil wir noch gar nicht wissen, was wir mit dem Wissen anfangen sollen. Dies ist der einzige Weg zu Innovation und Fortschritt – das gilt nicht nur für die naturwissenschaftliche Forschung, sondern für Forschung generell. Ich denke, solange wir die berechtigte Hoffnung haben, dass die Erforschung einer bestimmten Fragestellung menschliches Leiden verringern kann, ist es ethisch geboten, dieser Frage nachzugehen. Natürlich muss dabei eine ethische Abwägung zum Tierleid stattfinden.

Wonach richtet es sich, mit welcher Tierart geforscht wird? Spiegelt sich das im Tierschutzgesetz wider?
Die Versuchstierkunde ist ein eigener Forschungszweig, der sich unter anderem mit der Frage auseinandersetzt, welches Tier sich für welche Fragestellung besonders -eignet, z. B., weil die zu untersuchenden Strukturen denen des Menschen ähneln, oder eine Tierart unter einem bestimmten Versuch weniger belastet wird, als eine andere. 

Aus unserem bisherigen Wissen über die Versuchstierkunde sind verschiedene Vorgaben abgeleitet worden, die u. a. in die europäische Gesetzgebung und damit auch in unser Tierschutzgesetz eingeflossen sind. Der Bereich Tierversuche ist rechtlich streng reguliert und jeder Versuch muss von der zuständigen Behörde genehmigt werden. Im Antrag muss ich genau darlegen, warum ich welche Tierart einsetzen möchte und warum keine Alternativen dazu existieren. Außerdem muss die potenzielle Belastung der Tiere in eine von drei Stufen eingeteilt werden: leicht, mittel, schwer. Außerdem wird die Leidensfähigkeit der Tierart mitberücksichtigt. Je stärker ein Tier dazu in der Lage ist, nach menschlichem Ermessen zu leiden, desto schützenswerter ist es.

All diese Fragen werden letztlich von der Gesellschaft ausgehandelt, und dabei muss Tierschutz gegen Fortschritt der Medizin abgewogen werden. Um die Bevölkerung mit den Informationen zu versorgen, diese Entscheidungen auf sachlicher Basis treffen zu können, sorgt die Wissenschaft vermehrt für Transparenz, z. B. mit der Informations-initiative www.tierversuche-verstehen.de.

Woher stammen die Versuchstiere üblicherweise?
Mäuse und Ratten, die ja die zahlenmäßig größte Gruppe an Versuchstieren stellen, stammen alle aus registrierten Zuchten. In Deutschland werden alle Haltungen, in denen Versuchstiere gehalten oder gezüchtet werden, durch die zuständigen Behörden regelmäßig kontrolliert. Es werden aber auch im Rahmen von Forschungsprojekten Mäuse aus benachbarten EU-Ländern oder den USA importiert. In Europa gelten dabei für die Zucht und Haltung der Tiere die gleichen Bestimmungen wie in Deutschland, das ist durch die entsprechende EU-Richtlinie vorgegeben. In außereuropäischen Ländern gelten die dortigen rechtlichen Bestimmungen. 

Eine Übertragbarkeit von Tierversuchen auf den Menschen – wie sehr ist diese gegeben?
Ich möchte die Frage einmal als Tierärztin andersherum beantworten. Wir als Tierhalter erwarten, dass unsere Schützlinge mit der gleichen medizinischen Sorgfalt behandelt werden wie wir Menschen. In der Diagnostik hat das dazu geführt, dass die bildgebenden Verfahren aus der Humanmedizin auch in der Veterinärmedizin ein-gesetzt werden. 

Viele dieser Untersuchungsmethoden wurden bei ihrer Entwicklung zunächst an Tieren getestet, bevor sie zum Einsatz an den Menschen kamen. Und nun kommen sie auch wieder Tieren zugute. Bei der Schmerzbehandlung nach operativen Eingriffen ist es ähnlich. Auch hier schließt sich der Kreis wieder. Ist man vor 20 Jahren davon ausgegangen, dass ein Tier nach einer OP kein Schmerzmittel braucht, so ist es heute eine Selbstverständlichkeit,  den Tieren den Schmerz zu nehmen. Viele Erkenntnisse zu akutem und chronischem Schmerz kommen aus Tierversuchen und aus dem Erfahrungsschatz bei der Behandlung von Menschen. Eine Übertragbarkeit ist niemals eins zu eins, aber die biochemischen Vorgänge, die den Lebensvorgängen zugrunde liegen, sind sich sehr ähnlich.

KONTRA
Gericke: „Der Fehler liegt im System!“

Was bedeutet der Begriff Tierversuch denn konkret, auch rechtlich? Welche Handlungen umfasst das?
Tierversuche sind laut Gesetz Eingriffe an Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken, die mit Leiden, Schmerzen oder Schäden für das Tier verbunden sein können. In der EU-Tierversuchsrichtlinie zählen auch Ängste dazu, die das Tier erlebt, auch in der Schweiz übrigens, aber in Deutschland nicht, das ist im deutschen Tierschutzgesetz unterschlagen worden. 

Das heißt, es gibt nationale Unterschiede trotz EU-Richtlinie?
Ja, trotz der verbindlichen EU-Richtlinie wurden in Deutschland wesentliche Vorgaben falsch oder gar nicht umgesetzt. Ein Rechtsgutachten belegt hier in Deutschland 18 Verstöße gegen diese Richtlinie. Klar ist aber, dass Tierversuche schon per definitionem immer grausam sind. Dazu kommen die Haltungsbedingungen schon vor dem Versuch, bei denen z. B. Mäuse in kleinen Plastikschalen leben müssen.

Seit wann gibt es eigentlich Tierversuche? Wann ist daraus die industrialisierte Form geworden, in der wir sie kennen? 

Erste Tierversuche gab es schon in der Antike, aber das waren Einzelfälle. Eine richtige Industrie ist daraus Ende des 19. Jahrhunderts geworden. Der französische Physiologe Claude Bernard erhob den Tierversuch zum Prüfstein aller Forschungsmethoden, er hat postuliert, dass alles im Tierversuch nachweisbar sein muss, sonst ist es nicht wissenschaftlich. Und dieses 150 Jahre alte Dogma fand rege Verbreitung und gilt bis heute.  

Menschenaffen sind, soweit ich weiß, ja nicht mehr zum Tierversuch zugelassen, Primaten aber nach wie vor. Wie sieht die korrekte Regelung hier aus?
Versuche an Menschenaffen, also Schimpansen, -Bonobos und Gorillas, werden seit 2004 in Europa nicht mehr durchgeführt. Verboten sind sie laut EU-Richtlinie zwar nicht, nur in einzelnen Ländern wie etwa Österreich und den Niederlanden, aber gemacht werden sie in der Praxis nicht mehr. An anderen, nicht menschlichen Primaten wie Rhesusaffen oder Langschwanzmakaken werden nach wie vor Tierversuche vorgenommen. 

Gibt es denn Tiere, an denen laut EU-Tierschutz-richtlinie explizit keine Tierversuche durchgeführt werden dürfen?
Nein, es gibt keine Einschränkungen. Es gibt auch viele Tierversuche mit vergleichsweise exotischen Tieren wie Fledermäusen, Eulen oder Krähen. Meistens sind es aber Mäuse und Ratten (zus. 83 Prozent), die für Tierversuche verwendet werden, aber auch Fische oder Hunde, Katzen, Meerschweinchen, Kaninchen, Schweine. 

Und würden Sie sagen, es gibt Bereiche, in denen Tierversuche absolut unabkömmlich sind?
Nein, gibt es nicht. Wenn Sie einen Forscher fragen, wird er natürlich sagen, dass er den Tierversuch braucht, um angeblich Parkinson und Co. zu heilen. Wenn jemand 20 oder 30 Jahre lang Tierversuche gemacht hat, seine ganze Karriere darauf aufgebaut hat, dann will er nicht umlernen, selbst wenn es bessere Forschungsmethoden gibt. Die Wissenschaftswelt will so weitermachen wie bisher. Hier ein Umdenken zu bewirken ist sehr schwer, denn die Indoktrinierung fängt schon im Studium an. Nur wer sich dem Wissenschaftssystem anpasst, wird in ihm Karriere machen. Querdenker sind nicht erwünscht. Dieses Wissenschaftssystem stellt eine mächtige Lobby dar, die dazu beiträgt, dass z. B. Gesetze Tierversuche möglichst wenig einschränken. 

Warum ist das so, frage ich jetzt ganz banal?
Zum einen gibt es Firmen, die Versuchstiere, zum Beispiel genmanipulierte Mäuse, „herstellen“, das sage ich jetzt bewusst so. Und so eine genmanipulierte Maus kann zwischen 2.000 und 75.000 Euro kosten. Dazu kommen Käfige, Futter und Zubehör. Es stecken also knallharte wirtschaftliche Interessen dahinter. Für Wissenschaftler ist ja bekanntermaßen das Publizieren in Fachzeitschriften das Maß aller Dinge. Dies ist mit Tierversuchen besonders leicht, denn es gib Tausende von Fachjournalen, in denen tierexperimentelle Arbeiten veröffentlicht werden können. In-vitro-Fachjournale gibt es gerade einmal zwei. 

Forscher, die mit Zellkulturen statt Tierversuchen arbeiten, haben hier also wenig Möglichkeiten?
Mit Zellkulturen an Unis Karriere zu machen, ist schwer, aber es gibt mittlerweile viele Start-up-Unternehmen, die das wirtschaftliche Potenzial der tierversuchsfreien Testmethoden erkannt haben, wie etwa die Multiorganchips.

Wie kann ich jemandem wie auch immer geartete Ersatzmethoden schmackhaft machen, der felsenfest an Tierversuche „glaubt“?
Zunächst möchte ich das Wort „Ersatzmethoden“ vermeiden, weil damit suggeriert wird, dass ausschließlich Tierversuche Standard sein können und alles andere nur „Ersatz“ ist. Das soll es aber in Zukunft nicht mehr sein. Wir wollen einen kompletten Paradigmenwechsel. Wir wollen zeigen, dass es einen Weg gibt, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht und bei dem nicht versucht wird, an Ratten, Mäusen oder anderen Tieren auf absurde Art und Weise menschliche Krankheiten künstlich nachzumodellieren, die Tiere oft gar nicht bekommen können. Und dann versucht man, diese künstlich krank gemachten Tiere wieder gesund zu bekommen. Das klappt oft sogar, bei Schlaganfallmäusen zum Beispiel. Die sind dann wieder gesund. Und wenn man die Behandlungsmethode beim Menschen probiert, stellt man fest, es wirkt doch nicht. Warum sollte es auch? Bei Mäusen wird mittels eines Fadens, der über die Halsschlagader eingeführt wird, im Hirn eine Arterie verstopft und dadurch ein Schlaganfall simuliert. Beim Menschen gibt es aber ganz viele Faktoren, die einen Schlaganfall mit auslösen: Bewegungsmangel, Stress, zu fettes Essen, Rauchen … Das kann man doch nicht an einer Maus nachahmen! Die Ursachen sind nicht vergleichbar und die Ergebnisse damit wertlos! Deswegen funktioniert es an Mäusen, beim Menschen aber nicht. 500 Schlaganfallmedikamente haben bei Mäusen geholfen, aber nicht beim Menschen. Insgesamt fallen 95 Prozent der Wirkstoffe, die im Tierversuch für sicher und wirksam befunden werden, in der klinischen Phase, d. h. im „Menschenversuch“, durch.  

Wo genau sind Tierversuche denn gesetzlich vorgeschrieben?
Etwa 20 Prozent der Tierversuche sind gesetzlich vorgeschrieben, z. B. für die Zulassung von Chemikalien, Pestiziden oder Medikamenten, aber auch die Chargenprüfung von Impfstoffen und Botulinumtoxin (Botox). Was aber nicht heißt, dass diese nötig wären! Vor zehn Jahren lag diese Zahl noch bei rund 40 %. Gesetze müssen an die wissenschaftlichen Entwicklungen adaptiert werden, und da tut sich auch viel, z. B. im toxikologischen Bereich. Durch den verstärkten Einsatz von tierversuchsfreien Tests sind hier schon viele Tierversuche eingespart worden. Aber auch hier ist das Problem, dass der Tierversuch die etablierte Methode ist und sich alles andere erst beweisen muss. Das heißt, die neue Methode wird erst anerkannt, wenn sie dieselben Ergebnisse liefert wie der Tierversuch. Validierung nennt sich dieser Prozess, der viel Geld kostet und zehn bis 15 Jahre dauern kann. Der Tierversuch wurde jedoch nie validiert. Ein Problem ist z. B., dass beim Tierversuch unterschiedliche Ergebnisse herauskommen, da gibt es Schwankungen, denn eine Ratte ist eben keine Maschine, aus der immer dasselbe herauskommt, wenn man oben etwas einfüllt. Die Zellkultur unterliegt weniger Schwankungen und ist daher im Gegensatz zum Tierversuch standardisierbar und reproduzierbar. Hier zeigt sich die Absurdität des bestehenden Systems recht deutlich. 

Wie soll ein Systemwechsel vonstatten gehen?
Ganz wichtig sind Bevölkerungsstudien, um die Ursachen unserer Krankheiten zu erforschen und präventive Maßnahmen daraus abzuleiten. Diese haben auch schon wertvolle Erkenntnisse zu den Ursachen von Diabetes, Krebs oder Herzkrankheiten geliefert. Natürlich ist Prophylaxe wenig populär, damit lässt sich schwerer Geld verdienen. Neben der Prävention von Krankheiten geht es um sinnvolle Forschungsmethoden wie die erwähnten Multiorganchips, bei denen menschliche Organe wie Haut, Leber, Darm, Niere, Lunge und sogar das Gehirn im Miniformat nachgebaut werden. Diese kann man miteinander kombinieren, sodass Wirkstoffe verstoffwechselt werden, wie es der menschliche Körper tun würde. Das kommt unserem Organismus viel näher, als es eine Maus je könnte. Es kommt dann gerne der Kritikpunkt, dass das aber kein Gesamtorganismus ist, darauf antworte ich: Gut, wir haben bei der Maus zwar einen Gesamtorganismus, aber was nutzt das, wenn es der falsche Organismus ist? Besser ein unvollständiges, aber relevantes System (Multiorganchip) als ein vollständiges, irrelevantes (Maus).

Wir haben schon mehrfach die Zellkulturen angesprochen. Wäre das Ihrer Meinung nach der Königsweg, um zu validierbaren Ergebnissen zu kommen? 
Auch, ja. Es gibt bereits ganz ausgeklügelte Methoden. Man darf sich darunter nicht nur ein paar Zellen vorstellen, auf die man eine Substanz träufelt. Sondern z. B. wird die menschliche Haut in all ihren Schichten dargestellt und man kann testen, wie Cremes durch die Haut diffundieren. Oder es gibt einen Lungen-Chip, der sich richtig zusammenzieht und atmet, und bei dem die alveolären und die kapillaren Zellen miteinander kommunizieren. Wenn das mehr gefördert werden würde, hätten solche Methoden ein Riesenpotenzial.

Welche Rolle spielen die Forscher dabei?
Grundsätzlich glaube ich nicht, dass es über die Selbstbeschränkung der Forscher geht. Jeder Forscher verteidigt natürlich seine eigenen Versuche. Unser Ziel ist es, dass Tierversuche gesetzlich verboten werden. Es wird dann gerne entgegnet, es wäre das Ende der gesamten Medizin. Was ich für eine Beleidigung der Wissenschaft und der menschlichen Intelligenz halte. Denn wenn eine Möglichkeit verbaut ist, dann sind wir Menschen in der Lage, neue, bisher völlig unbekannte Möglichkeiten zu finden. 

Natürlich sind wir auch Realisten und wissen, dass so ein Verbot von heute auf morgen nicht durchsetzbar ist. Die Niederlande haben vor wenigen Monaten als erstes Land überhaupt ein konkretes Ausstiegskonzept vorgelegt. Bis 2025 will das Land führend auf dem Gebiet der tier-versuchsfreien Methoden werden und bis dahin sollen Tierversuche zumindest in einigen Teilbereichen abgeschafft sein. Natürlich muss man sehen, was davon tatsächlich umgesetzt wird, aber allein der erklärte Wille zum Ausstieg ist sensationell fortschrittlich! 

Was ich mich, je länger wir hier sprechen, frage, ist: Woher kommt diese Idee überhaupt, dass das -System einer Ratte in irgendeiner Art und Weise mit dem menschlichen System vergleichbar und damit beforschbar ist?
Tja. Das frage ich mich auch. Ein normal denkender Mensch kann das ja eigentlich nicht glauben. Ich erzähle Ihnen ein weiteres absurdes Beispiel: Wenn man Depressionen erforschen will, dann verwendet man dazu unter anderem Ratten. Nur, Tiere bekommen dummerweise keine Depressionen, so wie wir sie kennen. Es gibt enorm viele Faktoren, die beim Menschen Depressionen auslösen können. Die Ratte wird in einen Wassertank geworfen und dort schwimmt sie. Ratten sind ja sehr gute Schwimmer. Doch  irgendwann bemerkt sie, sie kommt trotz aller Mühe nicht raus und gibt sich auf. Ab diesem Moment wird sie dann als „depressiv“ eingestuft. Dann wird dieser Ratte ein potenzielles Anti-depressivum verabreicht und wenn sie dann ein bisschen länger strampelt, voilà! Dann gilt das Antidepressivum als erfolgreich. Das ist doch absoluter Schwachsinn, oder? Ganz häufig ist es auch so, dass Tierversuche gemacht werden, obwohl Behandlungsmethoden dazu beim Menschen schon etabliert sind. Wir haben eine Datenbank im Netz (www.datenbank-tierversuche.de), bei der wir Fachartikel in einer verständlichen Sprache zusammenfassen, damit sie auch der medizinische Laie versteht. Ganz häufig wird als Begründung für einen Tierversuch angegeben, dieses oder jenes funktioniert zwar schon lange beim Menschen, aber es gibt noch kein Mausmodell, deswegen machen wir das jetzt. Dieses Dogma, dass es zu allem einen Tierversuch geben muss, das ist ganz schwer aus den Köpfen zu bekommen. 

Welche Rolle spielt denn die Chemikalienverordnung der EU, REACH, in Bezug auf Tierversuche? 
Grundsätzlich ist es sinnvoll, Chemikalien zu testen, nur nicht an Tieren. Die REACH-Verordnung wurde 2007 erlassen und darin heißt es, dass Tierversuche „the last resort“ sein sollen. Wir haben natürlich alles versucht, dass REACH völlig ohne Tierversuche auskommt. Die ECHA, das ist die Europäische Chemikalienbehörde in Helsinki, die für REACH gegründet wurde, hat aber oft zusätzliche Tierversuche verlangt, als Absicherung, weil sie glauben, dass Chemikalien sicherer werden, wenn Tierversuche damit gemacht werden. Wir haben dann ein Projekt ins Leben gerufen, bei dem wir schon früher erhobene Daten zu Chemikalien, die schon lange auf dem Markt sind, gesucht und gefunden haben und so neue Tierversuche verhindern konnten Es war zum Teil sogar so, dass die Industrie keine Tierversuche machen wollte, aus Kostengründen, wir haben ihnen damit geholfen und gleichzeitig neue Tierversuche verhindert.