Tierversuche im Jahr 2017 – warum sind sie nach wie vor nötig?
Wissenschaftliche Versuche an und mit Tieren spielen bis heute immer noch eine extrem wichtige Rolle in der Erforschung der biologischen Funktionen von Tier und Mensch. Sie werden aber nur zu einem geringen Prozentsatz eingesetzt und ergänzen beispielsweise Ergebnisse aus Zell- und Organkulturen.
Wie sieht das in der Praxis prozentual aus und welche Arten von Tierversuchen gibt es?
Den größten Anteil hat in Deutschland die biomedizinische Forschung mit circa 46 Prozent. Das umfasst Grundlagenforschung (35 Prozent) und angewandte Forschung (11 Prozent), wobei diese Trennung aus unserer Sicht nicht sinnvoll ist, da die Grenzen hier fließend sind. Nicht ganz ein Viertel (2015: 22 Prozent) der Versuchstiere werden für sogenannte regulatorische Versuche verwendet, also Versuche, die vor allem für Unbedenklichkeitsprüfungen und Qualitätskontrollen gesetzlich vorgeschrieben sind. 2015 wurden in Deutschland 27 Prozent aller verwendeten Tiere nicht in Tierversuchen eingesetzt, sondern für wissenschaftliche Zwecke getötet, etwa, um Organe für weitere Untersuchungen zu entnehmen. Eine vorherige Behandlung der Tiere hat hier nicht stattgefunden.
Außerdem wird die Zucht von Tieren, die durch genetische Mutationen belastet sind, als Tierversuch erfasst
(zwei Prozent). Ein weiterer Anteil umfasst die Tiere, die zu Aus-, Fort- und Weiterbildung wie beispielsweise in der tierärztlichen Ausbildung oder in der Ausbildung von Tierpflegern und Forschern benötigt werden (zwei Prozent).
Von wie vielen Versuchstieren ist EU-weit aktuell die Rede?
Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es für die EU keine aktuellen Zahlen. Der letzte veröffentlichte Datensatz stammt aus 2011, also noch vor der Umsetzung der neuen Richtlinie. Damals waren es knapp 11,5 Mio. Tiere, davon über 70 Prozent Mäuse und Ratten. Bei 500 Mio. EU-Einwohnern zu dieser Zeit kommen also ca. 23 Tiere auf 1.000 Einwohner. Aktualisierte EU-einheitliche Zahlen sind für November 2019 angekündigt.
Für welche Bereiche/Forschungsschwerpunkte wird besonders intensiv mit Versuchstieren gearbeitet? Welche medizinischen Erfolge gehen auf das Konto von Tierversuchen und warum?
Schaut man sich den Bereich der biomedizinischen Forschung an, so steht natürlich das Krankheitsgeschehen des Menschen im Vordergrund. Forscher versuchen, zu verstehen, wie Krankheiten entstehen, bzw. erst einmal müssen sie verstehen, wie ein gesundes Organ oder eine gesunde Zelle im Organismus funktioniert, bevor Therapien entwickelt werden können. Schwerpunkte der Forschung liegen dabei zum Beispiel in der Krebsforschung, in der Herz-Kreislauf-Forschung oder in der Erforschung von Infektionskrankheiten. In unserer Gesellschaft, in der die Menschen immer älter werden, nehmen die neurologischen Erkrankungen wie Demenz oder Alzheimer zu, auch hier besteht ein hoher Forschungsbedarf. Allerdings werden nicht nur Tiermodelle auf diesen Gebieten eingesetzt, sondern es ist ein Nebeneinander von verschiedenen Methoden, die auch Untersuchungen von Zell- bzw. Organkulturen oder Verlaufsuntersuchungen am Menschen und klinische Studien umfassen. Ein klassisches Beispiel, dass Tierversuche zum medizinischen Fortschritt beigetragen haben, sind die Entdeckung des Insulins in den 20er-Jahren und die Entwicklung von Behandlungsmethoden der Zuckerkrankheit. Die Erforschung der Krankheit und die Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten sind aber bis jetzt noch nicht abgeschlossen. Bei Infektionskrankheiten ist es wichtig, dass man die Immunantwort des Körpers auf Bakterien und Viren kennt. Unser bester Schutz vor Infektionen ist neben einem gesunden Immunsystem die Impfung gegen Infektionskrankheiten, die sich schnell ausbreiten. Die Impfstoffentwicklung war und ist derzeit auf Tierversuche angewiesen.
Stichwort neue Methoden (Multiorganchips, In--vitro--Kulturen …) – wie sehr können/werden sie Tierversuche ersetzen bzw. ergänzen?
Alternativen zum Tierversuch sind bereits flächendeckend in Gebrauch. Viele dieser Methoden haben bereits in den 80er- und 90er-Jahren zu einer starken Verringerung der Versuchstierzahlen, vor allem in der pharmazeutischen und chemischen Industrie, geführt. Das Einsparpotenzial scheint aber dann an eine Grenze gekommen zu sein. Heute müssen wir für die allermeisten wissenschaftlichen Fragestellungen alle uns zur Verfügung stehenden Methoden nutzen, um aussagekräftige Ergebnisse zu bekommen. Es ist der Methodenmix, der dabei so wichtig ist. Tierversuche sind dabei nur ein Teil des Spektrums, dem ständig neue Methoden hinzugefügt werden. Noch mal: Alle Methoden, die verfügbar sind, werden auch eingesetzt. Und wenn es eine validierte Alternative zu einem bestimmten Tierversuch gibt, dann wird dieser nicht mehr durchgeführt. Die Gründe, warum man nicht alles mit den sogenannten Alternativmethoden erforschen kann, liegen eher an anderer Stelle: In der Erforschung der biologischen Mechanismen und Zusammenhänge von Gesundheit und Krankheit sind die wissenschaftlichen Fragen häufig so komplex, dass nur ein vollständiger Organismus die Antworten liefern kann. Im regulatorischen Bereich hingegen ist das Einsparpotenzial durch die Alternativmethoden größer, weil die meisten Versuche dort sehr standardisiert ablaufen. Allerdings sind hier die rechtlichen Hürden sehr groß, sodass bis zur internationalen Anerkennung einer neuen Methode leicht zehn bis 20 Jahre vergehen können.
Warum ist gerade die Maus/das Mausmodell so attraktiv für die humanmedizinische Forschung? Und was hat es mit der genmanipulierten Maus (Knock-out-Maus) auf sich?
Um es gleich vorwegzusagen: Die Maus ist nicht in jedem Fall das beste Modell für menschliche Erkrankungen. In vielen Fällen haben aber existierende Mausmodelle zu wichtigen medizinischen Durchbrüchen verholfen, etwa in der Krebsforschung, und liefern wichtige Erkenntnisse, die schlussendlich Patienten helfen können. Knock-out-Mäuse spielen dabei eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, grundlegende biologische Mechanismen zu erforschen oder Krankheiten nachzubilden, die auf genetischen Defekten beruhen. Insgesamt stehen der Forschung heute viel mehr gentechnische Möglichkeiten zur Verfügung, sodass immer präzisere Eingriffe möglich werden. Es gibt heute vielfach Bestrebungen, Krankheitsmodelle in der Maus zu verbessern und an das menschliche Krankheitsbild anzupassen. Dabei werden Mäuse „humanisiert“, also mit bestimmten menschlichen Genen versehen.
Außerdem wissen wir schon sehr viel über die Mausbiologie und ihre Genetik, sodass es leichter fällt, hier tiefer gehende Antworten zu erhalten. Natürlich spielt auch eine Rolle, dass Mäuse im Vergleich zu Großtieren wie Schweinen oder Schafen leichter gehalten werden können und gut genetisch veränderbar sind. Möglicherweise sehen wir aber durch neue Methoden der Gentechnik (etwa CRISPR/Cas9) hier bald Verschiebungen zu anderen Tierarten, das ist momentan noch schwer abzuschätzen.
Besonders die Grundlagenforschung mit Tierversuchen ist umstritten. Warum ist die Forschung dennoch der Meinung, sie zu brauchen?
Wie gesagt, glaube ich nicht, dass eine Trennung von Grundlagenforschung und angewandter Forschung sinnvoll ist. Es gibt sehr viele Bereiche, in denen der Übergang fließend ist. Außerdem kommen viele Forschungsimpulse aus der Klinik in das Labor und umgekehrt, sodass sich diese Forschungszweige gegenseitig bedingen. Die Forschung muss aber immer so frei bleiben, dass sie auch Fragen stellt, auf die wir heute nicht unbedingt Antworten brauchen, weil wir noch gar nicht wissen, was wir mit dem Wissen anfangen sollen. Dies ist der einzige Weg zu Innovation und Fortschritt – das gilt nicht nur für die naturwissenschaftliche Forschung, sondern für Forschung generell. Ich denke, solange wir die berechtigte Hoffnung haben, dass die Erforschung einer bestimmten Fragestellung menschliches Leiden verringern kann, ist es ethisch geboten, dieser Frage nachzugehen. Natürlich muss dabei eine ethische Abwägung zum Tierleid stattfinden.
Wonach richtet es sich, mit welcher Tierart geforscht wird? Spiegelt sich das im Tierschutzgesetz wider?
Die Versuchstierkunde ist ein eigener Forschungszweig, der sich unter anderem mit der Frage auseinandersetzt, welches Tier sich für welche Fragestellung besonders -eignet, z. B., weil die zu untersuchenden Strukturen denen des Menschen ähneln, oder eine Tierart unter einem bestimmten Versuch weniger belastet wird, als eine andere.
Aus unserem bisherigen Wissen über die Versuchstierkunde sind verschiedene Vorgaben abgeleitet worden, die u. a. in die europäische Gesetzgebung und damit auch in unser Tierschutzgesetz eingeflossen sind. Der Bereich Tierversuche ist rechtlich streng reguliert und jeder Versuch muss von der zuständigen Behörde genehmigt werden. Im Antrag muss ich genau darlegen, warum ich welche Tierart einsetzen möchte und warum keine Alternativen dazu existieren. Außerdem muss die potenzielle Belastung der Tiere in eine von drei Stufen eingeteilt werden: leicht, mittel, schwer. Außerdem wird die Leidensfähigkeit der Tierart mitberücksichtigt. Je stärker ein Tier dazu in der Lage ist, nach menschlichem Ermessen zu leiden, desto schützenswerter ist es.
All diese Fragen werden letztlich von der Gesellschaft ausgehandelt, und dabei muss Tierschutz gegen Fortschritt der Medizin abgewogen werden. Um die Bevölkerung mit den Informationen zu versorgen, diese Entscheidungen auf sachlicher Basis treffen zu können, sorgt die Wissenschaft vermehrt für Transparenz, z. B. mit der Informations-initiative www.tierversuche-verstehen.de.
Woher stammen die Versuchstiere üblicherweise?
Mäuse und Ratten, die ja die zahlenmäßig größte Gruppe an Versuchstieren stellen, stammen alle aus registrierten Zuchten. In Deutschland werden alle Haltungen, in denen Versuchstiere gehalten oder gezüchtet werden, durch die zuständigen Behörden regelmäßig kontrolliert. Es werden aber auch im Rahmen von Forschungsprojekten Mäuse aus benachbarten EU-Ländern oder den USA importiert. In Europa gelten dabei für die Zucht und Haltung der Tiere die gleichen Bestimmungen wie in Deutschland, das ist durch die entsprechende EU-Richtlinie vorgegeben. In außereuropäischen Ländern gelten die dortigen rechtlichen Bestimmungen.
Eine Übertragbarkeit von Tierversuchen auf den Menschen – wie sehr ist diese gegeben?
Ich möchte die Frage einmal als Tierärztin andersherum beantworten. Wir als Tierhalter erwarten, dass unsere Schützlinge mit der gleichen medizinischen Sorgfalt behandelt werden wie wir Menschen. In der Diagnostik hat das dazu geführt, dass die bildgebenden Verfahren aus der Humanmedizin auch in der Veterinärmedizin ein-gesetzt werden.
Viele dieser Untersuchungsmethoden wurden bei ihrer Entwicklung zunächst an Tieren getestet, bevor sie zum Einsatz an den Menschen kamen. Und nun kommen sie auch wieder Tieren zugute. Bei der Schmerzbehandlung nach operativen Eingriffen ist es ähnlich. Auch hier schließt sich der Kreis wieder. Ist man vor 20 Jahren davon ausgegangen, dass ein Tier nach einer OP kein Schmerzmittel braucht, so ist es heute eine Selbstverständlichkeit, den Tieren den Schmerz zu nehmen. Viele Erkenntnisse zu akutem und chronischem Schmerz kommen aus Tierversuchen und aus dem Erfahrungsschatz bei der Behandlung von Menschen. Eine Übertragbarkeit ist niemals eins zu eins, aber die biochemischen Vorgänge, die den Lebensvorgängen zugrunde liegen, sind sich sehr ähnlich.