Tierische Ängste –

(k)eine Angelegenheit für Tierärzte?

Dr. med. vet. Elisabeth Reinbacher

Ängste vor Geräuschen, Umweltreizen und Fremden sowie Trennungsängste haben viele Heimtiere. Was man dagegen tun kann, weiß Verhaltensmedizinerin Dr. med. vet. Lydia Pratsch.

Ein bei Gewitter panisch unter dem Tisch Schutz suchender Hund, eine während des Tierarztbesuchs kratzende und beißende Katze oder ein Hund, der dauernd bellt, sobald er alleine gelassen wird – all das sind tierische Ausdrucks­weisen von Angst. Welche Methoden gibt es, mit Ängsten und Phobien von Tieren umzugehen? Und fällt dieses Thema überhaupt in das Aufgabengebiet von Tierärzten?

Dr. med. vet. Lydia Pratsch, Inhaberin der Tierverhaltenspraxis, ist Konsiliartierärztin für Verhaltensmedizin. Sie ­beschäftigt sich ausschließlich mit Verhaltensproblemen bei Hunden und Katzen. Die Tierärztin hat nach dem Studium in Kleintierpraxen und -kliniken gearbeitet und gleichzeitig die zweijährige postgraduale Ausbildung zum Applied Animal Behaviour Counselor an der Universität South­ampton absolviert. „Ich habe in meiner Anfangszeit als Tierärztin sehr schnell bemerkt, dass viele Tiere Angst vor dem Tierarztbesuch und vielen anderen alltäglichen Dingen haben, und wollte mich dahin gehend weiterbilden“, erklärt Dr. Pratsch ihre Beweggründe, sich auf dieses Gebiet zu spezialisieren.

Der Titel ihrer Dissertation war „Transport­training und dessen Einfluss auf Stress bei Katzen beim Transport zum Tierarzt“ – ein Thema, mit dem sie sich bis heute stark auseinandersetzt. „Viele Verhaltensauffälligkeiten, die mir begegnen, haben mit Angst zu tun. Bei meinen Hunde­patienten sind Ängste vor Geräuschen, Umwelt­reizen und Menschen sowie Trennungsängste vorherrschend. Katzen und deren HalterInnen unterstütze ich vorwiegend beim Management von Transport- und Tierarztangst, im Allgemeinen werden Katzen jedoch deutlich seltener wegen Angstverhalten vorstellig. Bei den Katzen dominieren als Vorstellungsgrund eher Unsauberkeitsverhalten oder Unverträglichkeiten mit Partnerkatzen“, erzählt Dr. Pratsch. Sie erklärt, dass ihre Aufgaben darin bestehen, Verhaltensauffälligkeiten zu analysieren, ­deren Ursache und begünstigende Faktoren zu finden und umfassende Therapiepläne zu erstellen. Wichtig für den Erfolg beim Management von Verhaltensproblemen ist die Zusammenarbeit zwischen ihr, HalterIn, Haustierarzt/-ärztin und TiertrainerIn. „Katzenkonsultationen mache ich fast immer als Hausbesuch, weil ich da auch die häuslichen Gegebenheiten viel besser beurteilen kann. Hunde kommen individuell je nach Problematik in die Praxis, oder ich besuche sie im gewohnten Umfeld.

Auch Videomaterial und Telekonsultationen sind sehr wertvoll, um möglichst viele Facetten des Verhaltens beobachten und beurteilen zu können“, gibt die Tierärztin einen Einblick in ihre Arbeit. Es sei vor allem wichtig, Angst als solche zu erkennen: „Da geht es vor allem um die ‚milden‘ Anzeichen, derer es ­viele gibt. Die Tiere winseln, gähnen, schlecken sich übers Maul, hecheln, wenden den Blick ab, weigern sich, wo hineinzugehen, versuchen, zu flüchten, haaren, schwitzen an den Pfotenballen, zittern oder werden komplett steif. Auch die Körpersprache ist sehr eindeutig, die Ohren werden angelegt und der Schwanz wird eingezogen. All das sind Ausdrucksformen von Angst. Erkennt man diese nicht oder ignoriert die milden Anzeichen, kann es in weiterer Folge zu aggressivem Verhalten kommen.“

Warum entwickeln Tiere Ängste?

Hier müsse man, so die Spezialistin, zwischen Furcht und Angst unterscheiden. Furcht ist der physiologische Mechanismus, der uns vor wirklichen Bedrohungen schützt und zum überlebenswichtigen Fight-or-Flight-Verhalten führt. Angst wiederum ist ein maladaptiver Prozess, ein Gefühl, das auftritt, obwohl keine unmittelbare Gefahr droht. Eine Phobie ist die Extremform der Angst. Ängste verschlimmern sich im Normalfall, wenn nicht adäquat da­rauf reagiert wird, und wirken sich auf Dauer sehr negativ auf die Gesundheit des Tieres aus. Gute Beispiele sind Welpen, die anfangs noch problemlos zum Tierarzt gehen und bei weiteren Besuchen dann bereits ängstlich reagieren. Weiters gibt es Hunde, die zu Beginn nur zu Silvester Probleme haben und im weiteren Verlauf Angst vor immer mehr (Alltags-)­Geräuschen entwickeln.

„Im Allgemeinen sollte der/die HalterIn versuchen, das, was die Angst auslöst, zu vermeiden oder zu vermindern. Das geht sehr gut bei Tieren, die vor Geräuschen Angst ­haben; hier sollte bei einem Gewitter oder einem Feuerwerk die Umgebung so gestaltet werden, dass der Hund oder die Katze möglichst wenig von diesen Reizen mitbekommt. Das heißt: keinesfalls rausgehen, Fenster zumachen, Jalousien runter, White-Noise-Geräuschkulisse und Licht anlassen. Auch Ad-hoc-Gegenkonditionierung funktioniert gerade bei Geräuscheangst sehr gut. Jedes Mal, wenn ein Geräusch kommt, wird ein Signalwort gesagt und der Hund bekommt ein Leckerli – wichtig ist, dass es ein besonderes Leckerli für den Hund ist, das ihm wirklich schmeckt. Das funktioniert übrigens auch prophylaktisch sehr gut; vor ­allem Welpen kann man so sehr gut an bestimmte Geräusche gewöhnen“, so die Tierärztin. Meist ist die Therapie der Wahl die Desensibilisierung und Gegenkonditionierung. Dazu erklärt Dr. Pratsch: „Hier werden die angstauslösenden Reize in einer viel milderen Form verwendet, sodass sie zwar wahrgenommen werden, aber noch zu keiner Angstreaktion führen.“

Wichtige Ansätze in der Therapie

Pratsch weiter: „Bei der Geräuschangst kann ein Tonband mit steigender Lautstärke verwendet werden, bei der Angst vor Fremden beginnt man, den Hund oder die Katze ganz langsam an dem Tier unbekannte Menschen zu gewöhnen; anfangs mit einer großen Distanz zwischen Mensch und Tier, Schritt für Schritt wird die Distanz reduziert. Auch hier wird natürlich wieder mit positiver Verstärkung gearbeitet, Leckerlis eignen sich sehr gut dafür. Ausschließlich mit Desensibilisierung arbeite ich hingegen bei der Therapie von Trennungsangst, da orientiere ich mich an einer Methode einer amerikanischen Expertin auf diesem Gebiet.“

Eine Angst, mit der sich die Expertin im Besonderen beschäftigt, ist die Transportangst von Katzen. Dr. Pratsch: „Ich biete ­einen interaktiven Onlinekurs für das Boxen­training an, um die Transportangst vieler Katzen reduzieren zu können, was sich positiv auf den gesamten Tierarzt­besuch auswirkt. Ich freue mich immer wieder, wie schnell Katzen mit dem Training Fortschritte machen.“ Die sehr interessante Broschüre „Sicher und entspannt unterwegs“ sowie einige Videos zu dieser Thematik sind auch auf der Homepage der Vetmed­uni Vienna zu finden – diese Projekte entstanden aufgrund der Erkenntnisse aus der Dissertation von Dr. Pratsch, für die sie auch den Heimtierpreis 2020 gewonnen hat.

Ein weiterer Punkt bei der Therapie von Ängsten ist der Einsatz von angstmildernden Präparaten wie Nahrungsergänzungsmitteln, Pheromonen und Medikamenten. Bei situationsbedingten Ängsten wie Feuerwerk, Gewitter oder Tierarztbesuch rät Dr. Pratsch zum großzügigen Einsatz von kurz wirksamen anxiolytischen Medikamenten; hier seien vor ­allem Gabapentin, Benzodiazepine und Dexmedetomidin genannt. Beim Einsatz dieser Präparate ist es essenziell, ­deren Effekt zu evaluieren, um die Dosis sowie etwaige Kombinationen verschiedener Präparate anpassen zu können. „Das macht wirklich einen großen Unterschied, man sieht, dass Tiere bei der wiederholten Konfrontation deutlich weniger Angst haben. Wenn man mit Medikamenten und Futterbeschäftigung während des Gewitters oder Tierarztbesuchs arbeitet, ist man auf einem guten Weg, diese Angst abzumildern“, rät Dr. Pratsch.

Die Therapie von Verhaltensproblemen besteht meist aus einem multifaktoriellen Management und braucht viel Zeit des Trainings und der Gegenkonditionierung – nur Medikamente alleine werden keine zufriedenstellende Lösung bringen. Bei Hunden, die vor Silvesterfeuerwerk Angst ­haben, rät die Expertin dazu, spätestens Anfang September einen Plan zu haben, der bei Bedarf umgesetzt werden kann.

Nun gibt es auch einige menschliche Reaktionen auf ängstliches Verhalten von Tieren, die keinesfalls angewandt werden sollten: „Nie sollte bei einem ängstlichen Tier mit Strafen, Gewalt und Demütigung gearbeitet werden“, so die Spezialistin. Sie rät Tierärzten, die am Behandlungstisch regelmäßig mit ängstlichen Tieren konfrontiert werden, gut zu überlegen, welche Untersuchungen und Eingriffe am dringendsten notwendig sind. Es sollte außerdem mit der am wenigsten invasiven Manipulation begonnen werden. Sehr hilfreich sind Ruhe und Geduld, Pausen und Zeit, was zwar im tierärztlichen Alltag oft schwierig umsetzbar scheint, aber längerfristig zum Erfolg führt; der Umgang mit einem „Cave!“-Patienten erfordert allenfalls mehr Zeit. Auch die Sedierung von ängstlichen Patienten ist in vielen Fällen anzuraten, um ein psychisches Trauma zu verhindern. Dr. Pratsch betont: „Der Tierarztbesuch sollte so angenehm wie möglich gestaltet werden: Wartezeiten kurz halten, getrennte Bereiche für Hunde und Katzen oder separate Hunde- und Katzensprechstunden; behutsames und vorsichtiges Handling ohne Hast und Eile sowie ein reduzierter Geräuschpegel durch leises Reden und die Verwendung von geräuscharmen Rasierern können schon stark dazu beitragen, die Tierarztangst von Tieren abzupuffern.“

Angenehme atmosphäre schaffen

Die Tierärztin hebt hervor, dass dieses Bewusstsein des stressarmen Handlings vor allem auch bei den Besitzern ein sehr positives Gefühl hinterlässt. Wenn Besitzer nicht gern zum Tierarzt gehen, hat das auf vielen Ebenen ­negative Folgen – Krankheiten werden erst viel später erkannt, und der Tierarzt verliert wiederum diese Kunden. Weiters fährt Dr. Pratsch fort: „Katzen sollten nicht aus der Box gezerrt werden, es geht viel einfacher, wenn ich einfach den oberen Teil der Box abnehme und die Katze im unteren Teil sitzen lasse und mit Decken und Handtüchern arbeite, damit die Katze sich geschützt fühlt. Auch hier kann wieder mit Leckerlis belohnt werden, Leckpasten sind dafür gut geeignet. Bei sehr ängstlichen ­Katzen kann im Vorfeld daheim Gabapentin verabreicht werden.“ ­Hunde, die Angst vor dem Untersuchungstisch haben, sollten am Boden untersucht und auf rutschigen Oberflächen unterstützt werden, soweit diese nicht vermeidbar sind. Ganz besonders empfehlenswert sind prophylaktische Maßnahmen, damit eine Tierarztangst gar nicht entsteht: Transport, Untersuchungen oder Medikamentenein­ga­ben können vom Halter/von der Halterin schon im Welpenalter geübt werden. Tierarztbesuche ohne weiteres Handling, bei denen einfach nur die Umgebung, das Team oder die Waage kennengelernt und mit vielen Leckerlis belohnt wird, seien ein sehr wichtiges Training, so die Verhaltensexpertin.

Die Verhaltensmedizin wird auch in der tierärztlichen Ausbildung nur sehr oberflächlich gestreift, was dazu führt, dass sie oft gar nicht als Thema des tierärztlichen Zuständigkeitsbereichs wahrgenommen wird. Es gibt eine Unzahl von TiertrainerInnen – für den Laien ist aufgrund fehlender Standardisierung dieser Profession aber nur schwer erkennbar, wie viel Qualität dahintersteckt. Es ist sehr sinnvoll, die Verhaltensmedizin somit als Aufgabengebiet der ­Veterinärmedizin zu sehen und Verhaltensprobleme in Zusammenarbeit von TierärztInnen und HundetrainerInnen zu therapieren. Dr. Pratsch empfiehlt daher jedem/r KollegIn, der/die sich dafür interessiert, Weiterbildungen auf nationaler oder internationaler Ebene zu machen, und hofft, dass die verhaltensmedizinische Ausbildung auch im Zuge des veterinärmedizinischen Studiums intensiviert wird.

„Ich würde mir wünschen, dass die Verhaltensmedizin mehr in den Alltag der tierärztlichen Praxis integriert wird. Viele Empfehlungen und Tipps bezüglich des Handlings können von TierärztInnen an HalterInnen weitergegeben werden, um das Entstehen von Ängsten abzumildern. Im Rahmen der Anamnese kann gezielt nach Verhaltens­problemen gefragt werden, viele HalterInnen erzählen nicht von sich aus davon oder wollen diese Probleme ignorieren. Je jünger das Tier ist, desto besser kann gegen das Entstehen von Verhaltensproblemen interveniert werden. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten, und Tier­ärztInnen können wesentlich dazu beitragen, mehr Sensi­bilität für diese Thematik zu schaffen“, so die Expertin ­abschließend.


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