Das Leben mit einer ängstlichen Katze ist für Tierbesitzer eine echte Herausforderung. Kaum kommt beispielsweise der Freund von Tina Wiesner zu Besuch, versteckt sich ihre Katze Spotty immer unter dem Sofa und kommt nicht wieder heraus, bis der Gast mindestens eine halbe Stunde lang verschwunden ist. Mit den Nachbarskindern ist es das Gleiche: Wenn Spotty sie nur hört, sucht sie schon ihre Zufluchtsstätte unter der Couch auf. Die Tierhalterin ist verunsichert. Soll sie einfach keinen Besuch mehr empfangen, um ihren Liebling nicht zu viel zu stressen? Andererseits möchte sie verhindern, dass ihr Sozialleben und die Freundestreffen von einer Katze diktiert werden. Eine verzwickte Lage.
Auf der Suche nach einer Lösung probierte sie neben einem geduldigen, liebevollen Training ein Präparat aus, das bei Katzenbesitzern wie Hundefreunden immer wieder für Hoffnungen sorgt, wenn die Tiere ängstlich und nervös sind. Es handelt sich um Zylkène, das als Ergänzungsfuttermittel für Hunde und Katzen erhältlich ist. In Internetforen und Gesprächsrunden von Tierfreunden schwören etliche Tierbesitzer auf die hervorragende Wirkung. Ein Segen oder Hokuspokus?
Die Idee des Präparats beruht auf der alten Weisheit, dass Milch einen beruhigenden Effekt bei Kleinkindern hat. Diese Wirkung wird einer bestimmten Verbindung im Milcheiweiß zugeschrieben, die sich Alpha-Casozepin nennt. In ihren ersten Lebenswochen verfügen nicht nur Babys, sondern auch Katzenkinder und Hundewelpen über das Enzym Trypsin, das Alpha-Casozepin aus dem Milcheiweiß Alpha-S1-Kasein freisetzt. Dieser Mechanismus sorgt für Beruhigung. Mit zunehmendem Alter lässt der Effekt nach, weil Trypsin durch Pepsin ersetzt wird. Ganz verschwindet er aber nicht. Die Wirksamkeit ist allerdings individuell verschieden.
„Einigen Tieren hilft die Unterstützung von Zylkène sehr, andere sprechen nicht darauf an“, berichtet Maya Bräm, Tierärztin und spezialisierte Verhaltensmedizinerin am Tierspital der Universität Zürich. Es gebe auf jeden Fall zwei entscheidende Vorteile: „Weil man die Kapseln öffnen und den Inhalt ins Futter geben kann, nehmen Katzen das Mittel generell gut an. Das ist sehr hilfreich. Und Nebenwirkungen gibt es im Prinzip gar nicht.“ Beruhigend für die Tierbesitzer!
Untersuchungen des Wirkstoffs führten zu dem Ergebnis, dass er tatsächlich vor einer übermäßigen Ausschüttung an Stresshormonen schützen kann. Alpha-Casozepin zeigte in untersuchten Laborsituationen mit Ratten sogar angstlösende Eigenschaften wie Diazepam – und das ganz ohne unerfreuliche Begleiterscheinungen. Eine Studie mit Katzen, die Angst vor fremden Personen hatten, führte zu dem Ergebnis: Nach zwei Wochen Milcheiweißeinnahme war die Angst der Samtpfoten deutlich gelindert.
Wissenschaftler unterscheiden generell mehrere Formen der Angst. Die „einfache Phobie“ bezieht sich auf einen Auslöser, der für sich genommen ungefährlich ist, für die Katze aber eine Bedrohung darstellt. Diese Angst ist nicht an die reale Situation angepasst und lässt sich am besten mit den Maßnahmen von Desensibilisierung und Gegenkonditionierung in den Griff bekommen. Klingt komplizierter, als es ist, denn in der Phase der Desensibilisierung geht es pauschal gesprochen um einen Gewöhnungsprozess. Das bedeutet anhand des Beispiels von Tina Wiesner: Sie muss zuerst für Spotty einen Rückzugsort zur Verfügung stellen. Ein Stuhl, über dem ein Tuch hängt, kann so eine Zufluchtshöhle sein. Ihr Freund sollte sich nur langsam und ruhig und mit freundlicher Stimme im Raum bewegen. Jegliche Hektik und jedes laute Wort sind kontraproduktiv. Im nächsten Schritt gibt es Futter immer dann, wenn die gefürchtete Person da ist. Diese darf auch selbst Leckerlis werfen oder mit der Spielzeugangel wedeln. Streicheln ist allerdings so lange tabu, bis Spotty tatsächlich vollkommen entspannt neben Tina Wiesners Freund sitzen bleibt. Und das kann Monate dauern.
Jetzt beginnt die Phase der Gegenkonditionierung, in der Spotty lernt, dass es sogar etwas Schönes ist, wenn Besuch kommt. Die Katze bekommt jetzt von den einstmals gefürchteten Menschen Spiel- und Streicheleinheiten und feines Futter. Wenn das eine Weile durchgehalten wird, fällt sie sicher nicht mehr in ihre alten Muster zurück.
Bei einer „generalisierten Angststörung“ wird das Bedrohungsgefühl hingegen nicht durch einen bestimmten Auslöser verursacht. Die Katze hat vor fast allem Angst und ist stets angespannt, beobachtet alles genau, erschreckt sich bei Kleinigkeiten, zeigt Misstrauen und Schüchternheit, neigt zu Unsauberkeit. Zu solchen generalisierten Ängsten kann es kommen, wenn beispielsweise räumlich, zeitlich oder sozial beruhigende Rituale abhandenkommen. Wer mit einer Wieder-Ritualisierung beginnt, darf auf eine Spontanheilung hoffen. Ändert sich beispielsweise der Wohnort, sollten zeitliche und soziale Strukturen (Futter zu bestimmten Zeiten, Spiele immer mit derselben vertrauten Person) so gut wie möglich eingehalten werden. Das schafft Sicherheit.
Eine „spezifische Angststörung“ kann entstehen, wenn zum Beispiel eine Freigängerkatze eingesperrt wird und in einer reizarmen Umgebung leben muss, oder wenn eine neue Katze in den Haushalt einzieht. Ebenfalls weit verbreitet bei Katzen sind Trennungsängste. Der Schmusetiger dreht dabei vollkommen durch, wenn sein Lebensmensch das Haus verlässt, tobt, zerkratzt Möbel, schreit. Betroffen sind meist allein gehaltene Wohnungskatzen, die nur einen Besitzer haben. Für sie ist ein Unterhaltungs- und Spaßprogramm, sogenanntes Enrichment, die beste Therapie. Dabei sollte die Katze mindestens zweimal täglich für 20 Minuten beschäftigt werden, sowohl mit Jagd- und Fangspielen zur körperlichen Auslastung als auch mit dem Üben von Kunststücken oder mit Futterverstecken zur Förderung geistiger Aktivität.
In allen Fällen kann die Gabe von Alpha-Casozepin vor zu viel Stress schützen. Das Milcheiweiß kann je nach Fall etwa drei bis vier Tage vor dem Ereignis als kurze Therapie verabreicht oder als längerfristige Kur für sechs bis acht Wochen eingesetzt werden. In letzterem Fall eignet sich eventuell die Umstellung auf ein S1-Kasein-haltiges Futtermittel.