Dr.med.vet. Elisabeth Wagmeister
Ausgabe 10/2024
In der modernen Tiermedizin nimmt die Physiotherapie bei Kleintieren eine immer bedeutendere Rolle ein: Sie wird nicht nur zur Rehabilitation nach Verletzungen oder Operationen eingesetzt, sondern auch zur Prävention und zur Verbesserung der Lebensqualität von älteren und chronisch kranken Tieren. Die Entwicklung und die wachsende Akzeptanz der Physiotherapie in der Kleintiermedizin spiegeln ein Umdenken in der Tiermedizin wider: weg von einer rein symptomatischen Behandlung hin zu einem ganzheitlicheren Ansatz, bei dem das Wohlbefinden des Tiers im Mittelpunkt steht. Physiotherapeutische Behandlungen bieten wertvolle Möglichkeiten für ein schmerzreduziertes und aktiveres Leben für Haustiere. Dr. med. vet. Lena Gloning zeichnet sich durch ihre besondere Leidenschaft für Physiotherapie, Rehabilitation und Sportmedizin aus – 2024 hat sie die Physiotherapiepraxis „flizz“ in München eröffnet. Dr. Gloning ist eine erfahrene Tierärztin, Certified Canine Rehabilitation Practitioner (CCRP) und verfügt über die Zusatzbezeichnung in Physikalischer Therapie und Rehabilitationsmedizin.
Frau Doktorin Gloning, wie hat sich die Physiotherapie in der Kleintiermedizin in den letzten Jahren entwickelt?
In den letzten Jahren hat sich das Bewusstsein für physiotherapeutische Maßnahmen bei Tierbesitzer*innen und Tierärzt*innen deutlich verändert. Die Tiermedizin, insbesondere die Chirurgie, hat sich stark weiterentwickelt: Die operativen Methoden sind deutlich fortschrittlicher geworden und die Bedeutung einer gezielten Nachbehandlung rückt immer mehr in den Fokus. Die Physiotherapie spielt hier eine entscheidende Rolle. Ein Umdenken hat stattgefunden: Tierbesitzer*innen denken nicht mehr nur an die Operation oder klassische Schulmedizin, sondern erkennen zunehmend die Vorteile und die Notwendigkeit physiotherapeutischer Maßnahmen sowie einer umfassenden Nachsorge. All das, was in der Humanmedizin längst etabliert ist, findet nun auch immer mehr Anwendung in der Veterinärmedizin – und neben der postoperativen Rehabilitation gibt es noch viele weitere Einsatzgebiete der Physiotherapie bei Kleintieren.
Was sind die klassischen Einsatzgebiete der Physiotherapie bei Kleintieren?
Neben der postoperativen Rehabilitation ist die Behandlung neurologischer Patienten ein zentrales Einsatzgebiet der Physiotherapie. Ebenso wichtig sind die Geriatrie und die Therapie chronischer Erkrankungen, insbesondere von Arthrosepatienten: Viele Tiere leiden unter verschiedenen – oftmals rassebedingten – Gelenkerkrankungen, wie beispielsweise Hüftgelenks- oder Ellbogengelenksdysplasie (HD/ED, Anm.), die dann zum Entstehen von Arthrose führen.
Welche Methoden und Techniken gibt es?
Es gibt viele verschiedene Techniken mit und ohne Zuhilfenahme von Geräten, die je nach individueller Indikation Anwendung finden. Die manuelle Therapie ist ein zentraler Bestandteil und kommt bei fast jedem Patienten zum Einsatz. Es besteht ein fließender Übergang zwischen der physiotherapeutischen Untersuchung und der manuellen Therapie, da während der Untersuchung bereits Auffälligkeiten erkannt und auf diese unmittelbar mit manuellen Techniken reagiert werden kann. Zu den gerätegestützten Therapien gehören unter anderem Lasertherapie, Stoßwellentherapie, Elektrostimulation, therapeutischer Ultraschall und Magnetresonanztherapie. Die Lasertherapie wird bei Arthrosen, in der Schmerztherapie, zur Nervenheilung und bei Wundbehandlungen eingesetzt. Das klassische Anwendungsgebiet der Stoßwellentherapie sind Tendinopathien, die sehr gut auf diese Behandlungsmethode ansprechen; ein weiteres Einsatzgebiet sind schlecht heilende Frakturen. Während die Stoßwellentherapie in der Humanmedizin bereits fest etabliert ist, gewinnt sie in der Veterinärmedizin zunehmend an Bedeutung.
Können Sie auf die Elektrotherapie näher eingehen?
Bei der Elektrotherapie verwende ich ein TENS-Gerät, das hauptsächlich zur Schmerzbehandlung eingesetzt wird. Zudem können durch Neuromuskuläre Elektrostimulation (NMES, Anm.) gezielt Muskelkontraktionen ausgelöst werden, was zur Erhaltung und zum Wiederaufbau von Muskulatur unterstützend eingesetzt werden kann. Die Schmerzlinderung durch Elektrotherapie erfolgt über den „Gate-Control-Mechanismus“, bei dem Schmerzsignale im Rückenmark gehemmt werden, bevor sie das Gehirn erreichen. Die Elektrotherapie kann entweder segmental, also entlang der Nervenbahnen, oder direkt am betroffenen Gelenk angewendet werden. Eine typische Indikation ist die Behandlung von Arthrosepatienten. Um eine langfristige Schmerzlinderung zu erreichen, ist eine regelmäßige, tägliche Behandlung anzustreben.
Wann wird Wärme- oder Kryotherapie eingesetzt?
Allgemein lässt sich sagen, dass die Wärmetherapie eher bei chronischen Leiden eingesetzt wird und die Kryotherapie eher bei akuten Beschwerden. Zu chronischen Leiden zählen Arthrosen und Muskelverspannungen, während bei akuten Beschwerden häufig eine Entzündung vorliegt. Die Anwendung der Kryotherapie kann z. B. postoperativ in den ersten 48 Stunden sehr hilfreich sein – dafür wird das Gewebe gezielt mithilfe von Kühlpacks gekühlt, die jedoch nicht zu kalt sein dürfen und nicht direkt auf der Haut liegen sollen. Um eine effektive Kühlung des Gewebes zu erreichen und nicht nur eine oberflächliche Wirkung zu erzielen, werden die Kühlpacks zehn bis 20 Minuten auf die entsprechende Körperregion gelegt. Arthrosepatienten mit akuten Schüben profitieren ebenfalls von Kühlung, während bei chronischen Arthroseschmerzen Wärmeanwendungen indiziert sind.
Haben Sie Erfahrung mit Hydrotherapie?
Ja, ich setze in meiner Praxis ein Unterwasserlaufband ein. Die Arbeit im Wasser ermöglicht ein Training, bei dem aufgrund des Auftriebs des Wassers weniger Gewicht auf den Gelenken lastet und damit ein schonender Bewegungsablauf gewährleistet und der Muskelaufbau gefördert wird. Ich setze das Unterwasserlaufband nicht nur bei orthopädischen, sondern auch bei neurologischen Patienten gerne ein. Gerade Hunde mit Ataxie, etwa aufgrund eines Bandscheibenvorfalls, profitieren meiner Erfahrung nach stark von dieser Methode. Durch die Arbeit im Wasser können die Tiere wesentlich leichter wieder
in physiologische Bewegungsmuster zurückfinden.
Was ist bei der Anwendung des Unterwasserlaufbands zu beachten?
Es ist wichtig, die Tiere behutsam an das Training im Wasser heranzuführen. Während wasserliebende Hunde oft keine Probleme haben, benötigen ängstliche Tiere ein schrittweises Vorgehen. Zu Beginn kann man das Training ohne Wasser starten und dann das Becken langsam füllen, um das Tier entsprechend seiner Toleranz behutsam zu gewöhnen. Die meisten Tiere verstehen relativ schnell, wie das Training im Wasser funktioniert, und gehen sehr gerne auf das Unterwasserlaufband. Ich habe sogar bereits zwei Katzen auf dem Unterwasserlaufband behandelt. Eine davon hatte nach einem Autounfall eine Ischiadicus-Pathologie; zu Beginn der Therapie zeigte sie eine ausgeprägte Parese ihres rechten Hinterbeins. Nach einem halben Jahr intensiver Behandlung auf dem Unterwasserlaufband konnte sie sich wieder normal fortbewegen. Allerdings gibt es auch Kontraindikationen: Bei offenen Wunden, Infektionen, Durchfall oder Läufigkeit sollte das Unterwasserlaufband nicht angewendet werden. Auch bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Problemen ist besondere Vorsicht geboten, denn das Wasser wird auf etwa 26 bis 28 Grad Celsius erwärmt. Die warme Temperatur und der hydrostatische Druck des Wassers können sich auf den Kreislauf des Patienten negativ auswirken.
Wie wichtig ist eine gute Zusammenarbeit mit den Besitzer*innen?
Eine gute Zusammenarbeit mit den Besitzer*innen ist entscheidend für den Erfolg der Therapie. Jeder Patient erhält einen individuellen physiotherapeutischen Therapieplan, der auf die jeweilige Diagnose abgestimmt ist. Die Tierbesitzer*innen werden in der Regel mit eingebunden, insbesondere beim Propriozeptionstraining. Hier gibt es verschiedene Übungen, etwa das Training mit Wackelkissen, Peanutbällen, Cavaletti-Training und Slalom-Training. Diese verbessern die Körperwahrnehmung sowie Balance und Koordination. Die Besitzer*innen werden dabei in die Übungen intensiv mit eingebunden – sie bekommen einen Therapieplan mit der Aufgabe, täglich mit ihren Tieren zu Hause zu trainieren. Deshalb haben die Kooperation und das Engagement der Besitzer*innen einen maßgeblichen Einfluss auf den Therapieerfolg.
Wie lange dauert in der Regel die gesamte Behandlung und wann sind erste Erfolge zu sehen?
Die Behandlungsdauer sowie der Therapieplan hängen stark von der Diagnose und der Zusammenarbeit mit dem Besitzer ab. Bei engmaschigen Behandlungsabständen können in der Regel schneller Erfolge erzielt werden. Nach einer Operation sind beispielsweise initial zweimal wöchentliche Behandlungen für acht bis zehn Sitzungen sinnvoll. Orthopädische Patienten erholen sich in der Regel schneller als neurologische, da die Heilung der Nerven länger dauert. Bei Hunden mit Bandscheibenvorfällen rechne ich mit einer Therapiedauer von mindestens sechs bis acht Wochen. Tiere mit altersbedingten Problemen bleiben oft lebenslang in Behandlung.