Osteopathie –

moderner Hype oder ernst zu nehmende Medizin?

Dr. med. vet. Brigitte Traenckner
FTÄ Chirurgie, Osteopathische Veterinärmedizin DOVMTM, EVSOTM-C,
Leitung der Tierärztlichen Akademie für Osteopathie TAO Équilibre
und deren Lehrakademie sowie internationaler Ausbildungsgänge
ZBZ und WBE Akupunktur; Humanheilpraktikerin

Im Pferdesport bereits etabliert, ziehen nun auch die Kleintiermediziner die Osteopathie heran – hier ein Überblick über die klinischen Potenziale.

2010 wurde Osteopathie als ganzheitliche manuelle Heilmethode von der WHO anerkannt und als geprüft in die Praxis empfohlen. Ein Osteopath benötigt dezidierte Kenntnisse über Anatomie, Physiologie und Pathologie sowie eine begleitete, fundierte „Hands on“-Ausbildung, über die er seine immer feiner werdende manuelle Tiefensensibilität lebenslang weiterentwickelt.  

In weiten Teilen des Pferdesports bereits zu einem festen Bestandteil von Training, Wettkampf und Rehabilitation geworden, sehen wir Osteopathie heute auch in der Kleintiermedizin immer mehr Fuß fassen. Dieser Markt boomt mittlerweile. Doch die Unkenntnis von Inhalten und zu erwartendem klinischem Nutzen einer nicht einfach zu definierenden Osteopathie lässt viele Kolleginnen und Kollegen skeptisch bis ablehnend reagieren. Im Folgenden werden wir deshalb ausführen wo, unter anderem  die klinischen Potenziale der ­Osteopathie liegen.

Diagnostisches und therapeutisches Vorgehen

Die Analyse von Struktur und Funktion, unter Berücksichtigung der Rolle des peripheren und zentralen Nervensystems für Koordination und Dyskoordination ist der zentrale Inhalt der manuellen Diagnostik. Diverse Testsysteme, vom ­globalen Screening/Scanning des gesamten Organismus bis hin zur regionalen Detailanalyse in Bewegungsapparat, Nerven-, Kreislauf- und Organsystemen, fördern die sogenannten osteopathischen Dysfunktionen (DF) zutage. Diese sind gekennzeichnet durch Anomalien der Gewebsstruktur und -spannung, Asymmetrie der jeweiligen Strukturen sowie qualitative und quantitative Beeinträchtigung des Bewegungsumfangs. 

Fokus der Therapie ist die Normalisierung der Gewebestruktur, der Gewebespannung, der Bewegungsamplitude und des funktionellen Zusammenspiels der verschiedenen anatomischen Strukturen des gesamten Körpers durch manuelle Techniken. Über die verbesserte Funktion verändern sich die neuronale Steuerung und die vaskuläre Perfusion und umgekehrt. Die Kontinuität des lockeren und straffen Bindegewebes bis in die Zelle hinein (Tensegrity­konstruktion1) ermöglicht es, alle Körpersysteme makro- und mikrodynamisch (Mobilität und Motilität2) so zu beeinflussen, dass die Ressourcen zur Selbstheilung des Körpers mobilisiert werden. 

Das ungestörte Allgemeinbefinden wird wesentlich vom freien Informationsfluss innerhalb aller Gewebe bedingt, weshalb die osteopathische Veterinärmedizin, die diesen freien Informationsfluss maßgeblich zu unterstützen vermag, sich als wichtiger, die klassische Tiermedizin in all ihren Bereichen ergänzender, integrativer Bestandteil von Diagnose und Therapie versteht. Im Folgenden werden klinische Fälle beschrieben, die zeigen, wie der osteo­pathische Ansatz die klinische Praxis bereichert.

Einsatzgebiete der osteopathischen Medizin

1. Ein innerhalb von zwei Tagen zweimal operierter ­Koliker wurde drei Tage nach der zweiten Laparotomie mit Ileussymptomatik vorgestellt. Es lag eine nahezu vollständige Caecumdysfunktion vor. Nach der Behandlung mehrerer Wirbelgelenksdysfunktionen und dem Einsatz von kranio­­sakralen, neurovaskulären und viszeralen Techniken setzte die Peristaltik ein und regulierte sich innerhalb weniger Stunden. Das Pferd überlebte und wird heute wieder ­geritten.

2. Vorgestellt wurde ein fünfjähriger Dackel mit vordia­gnostiziertem Bandscheibenvorfall im Bereich der Lenden­wirbelsäule. „Benny“ zeigte links eine verminderte und rechts eine aufgehobene Propriozeption der Hintergliedmaße. Der Besitzer wollte eine bereits terminierte Operation vermeiden. Der Fokus der Behandlung lag zunächst auf einer Entspannung der gesamten Wirbelsäule auf muskulofaszialer Ebene und einer Behebung der Duraspannung im Bereich L 4/5. Eine Besserung trat sofort nach der ersten Behandlung ein und der Patient war nach drei Behandlungen symptomfrei.

3. Eine 15-jährige Dackelhündin wurde von einem Kollegen mit Atemnot, Herzinsuffizienz und einem Perikarderguss überwiesen. Nach zweimaliger osteopathischer Behandlung war der Perikarderguss vom vorbehandelnden Kollegen nicht mehr feststellbar, die Atemnot und das Allgemeinbefinden waren deutlich verbessert.

4. Ein fünfjähriger Wallach wurde wegen Headshakings und Reiben der Nase an jedem verfügbaren Gegenstand vorgestellt. Nach drei osteopathischen Behandlungen, insbesondere des Schädels und seiner neurovaskulären und myofaszialen Verbindungen, stellte das Pferd die Symptomatik ein.

5. Ein 22-jähriger Wallach wurde wegen lebenslanger Hustensymptomatik am Anfang der Bewegung vorgestellt. Alle Bemühungen, den Husten mittels klassischer Tiermedizin zu behandeln, blieben fast 20 Jahre lang erfolgslos. Nach zwei osteopathischen Behandlungen mit Schwerpunkt rund um Kehlkopf und dessen neurologische Versorgung war kein Husten mehr feststellbar.

6. Ein fünfjähriger Barsoimix wurde wegen eines akuten, seit zwei Tagen bestehenden HWS-Bandscheibenvorfalls mit vordiagnostizierter Operationsindikation vorgestellt. Der Hund war zum Zeitpunkt der Untersuchung tetraplegisch. Die Operation war für den nächsten Tag terminiert. Nach der ersten Osteopathiesitzung konnte der Patient bereits stehen und unsicher gehen, weshalb der Besitzer die anstehende Operation absagte. Nach zwei weiteren Behandlungen lief der Hund bis zu seinem Tod, fünf Jahre später, problemlos.

7. Sehr häufig finden sich sowohl bei Pferden als auch bei Hunden HWS/BWS (C 4/5–Th 3/4)-bedingte Lahm­heiten der Vordergliedmaße. Beispiele:

a. Vorgestellt wurde ein zwölfjähriger Labradorrüde, der wegen Zehengelenksarthrosen mit Goldimplantaten erfolgreich vorbehandelt worden war. Er zeigte jedoch eine intermittierende Lahmheit vorne links. Nach der Diagnose und Behandlung der osteopathischen Dysfunktion im Bereich C 7/T 1 ging der Hund langfristig lahmheitsfrei.

b. Vorgestellt wurde ein zwölfjähriger Wallach mit rezidivierender und wechselnder Lahmheit vorne rechts und links. Von der vorbehandelnden Klinik war dem Wallach nach diagnostischen Anästhesien und entsprechenden bildgebenden Verfahren wegen einer geringgradigen Veränderung am Fesselbein (Leist) sechs Wochen Boxen­ruhe verordnet worden, worauf sich die Symptomatik verschlimmerte. Nach der ersten osteopathischen Behandlung war die Lahmheit unmittelbar verschwunden, rezidivierte aber wieder. Röntgenaufnahmen der unteren HWS zeigten deutliche Veränderungen an den Facettengelenken im Bereich C 5/6. Nach insgesamt drei Behandlungen ging das Pferd dauerhaft lahmheitsfrei.

8. Ein zwölfjähriger kastrierter Hovawartrüde kämpfte trotz tierärztlicher Behandlungsversuche von klein auf mit rezidivierenden Durchfällen. Neben diversen osteopathischen Dysfunktionen der Wirbelsäule fand sich eine Motilitätsstörung von Magen, Leber und Dickdarm. Nach zwei osteopathischen Behandlungen war der Hund langfristig durchfallfrei.

Zusammenfassung

Qualifiziert osteopathisch arbeitende Tierärzte kombinieren die Anwendung der klassischen Veterinärmedizin mit osteopathischen Diagnose- und -Therapieinstrumenten, was eine deutliche Erweiterung des diagnostischen und therapeutischen Spektrums zur Folge hat. Durch die ganzheitliche Betrachtungsweise ist es häufig möglich, zugrunde liegende Störungen für klassisch diagnostizierte Erkrankungen aufzufinden und zu behandeln. Aufgrund einer gekonnten osteopathischen Untersuchung können häufig weiterführende radiologische oder sonografische Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren oder Laboruntersuchungen empfohlen werden, die neue Befunde und eine Veränderung des Therapieplans bewirken können.  

Natürlich ist die Osteopathie kein Allheilmittel, sondern ein zusätzlicher medizinischer Ansatz, der in vielen Bereichen der tiermedizinischen Versorgung eine sinnvolle Ergänzung bietet. Die der osteopathischen Medizin zugrunde liegenden Prinzipien führen zu einer fundamentalen Erweiterung von Diagnose-, Therapie- und Präventionsmöglichkeiten, die in Verbindung mit allen tiermedizinischen Disziplinen integrativ anwendbar ist.

Literaturnachweise

1 Robert Schleip, www.somatics.de, Tensegrity = Wortschöpfung aus den englischen Begriffen „tension“ (Spannung) und „integrity“ (Ganzes, Zusammenhalt). Durch die seit 2005 immer populärer werdende Faszienforschung verwenden Mediziner und Orthopäden, um die statischen Verhältnisse in der Wirbelsäule zu beschreiben, das Bild von einem Segelschiff mit Mast, Wanten und Takelage: Ein solcher Mast trägt keine Last, sondern dient als stabiles Element innerhalb eines Verspannungssystems; viele Seile sind mit ihm verbunden und verleihen ihm so Stabilität. Er trägt kein Gewicht wie eine Säule – ähnlich verhält sich auch die Wirbelsäule. Sie ist biegsam und ständigem Druck und Zug ausgesetzt. Was den Körper in Haltung bringt, sind Faszien und Muskeln in einem dynamischen Spannungsnetzwerk. Die Muskelspannung ist über die Faszien vermittelt. Diese stellen außerdem noch eigenständige Elemente
in diesem Spannungsnetzwerk dar.

2 Motilität = eine fühlbare Mikromobilität, die jedem Gewebstyp in spezifischer Frequenz innewohnt.