Ohne Worte,

doch mit Gefühl?

Dr. med. vet. Sara Hintze, PhD
Universität für Bodenkultur Wien

Tiere können uns nicht sagen, wie es ihnen geht. Aber können wir es trotzdem irgendwie messen?

 

Wir lieben sie bei uns zu Hause, bestaunen sie in Zoos, züchten und halten sie zur Produktion von Nahrungs­mitteln oder in der Hoffnung auf Erkenntnisgewinn in der biomedizinischen Forschung. Wir betrachten sie als ­Wesen mit Bewusstsein – Wesen, die fühlen, Schmerzen empfinden und leiden können. Doch was wissen wir eigentlich über das Gefühlsleben von Tieren? Laut Tierschutzgesetz dürfen wir ohne vernünftigen Grund Tieren keine Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen. Aber wie können wir herausfinden, ob ein Tier Schmerzen empfindet, leidet – oder allgemein: was es fühlt?

Meine Reise durch die Gefühlswelt von Tieren führt mich zum Schweizer Nationalgestüt, und hier zu der komplexen Frage, wie wir die Gefühle von Pferden beurteilen können. Denn die zuverlässige Beurteilung von Freud und Leid der Tiere ist für viele von uns im persönlichen Umgang mit ihnen wichtig. Wir haben keinen direkten Zugang zu den Gefühlen eines anderen Individuums, ­weder zu denen eines Menschen noch zu jenen eines ­Tieres. Aber wir können unsere Mitmenschen fragen, wie es ihnen geht, und von ihnen eine differenzierte Antwort erhalten. Sprache als Kernelement der zwischenmenschlichen Kommunikation steht uns im Umgang mit Tieren nicht zur Verfügung. Aber glücklicherweise gehen Gefühle nicht nur mit einer subjektiven Empfindung einher, sondern drücken sich auch durch Veränderungen in Verhalten, Physiologie und Kognition aus. Stellen Sie sich vor, Sie begegnen bei einer Wanderung durch die Karpaten einem Bären. Sie empfinden vermutlich nicht nur Furcht, sondern versuchen auch, davonzurennen, und Ihr Gesicht ist angstverzerrt (Verhalten, Ausdruck). Ihr Herz pocht und Ihr Körper wird mit Stresshormonen durchflutet (Physiologie). Sie fokussieren sich auf den Fluchtweg, während alle anderen Reize ausgeblendet werden (Kogni­tion). Können wir solche Veränderungen vielleicht nutzen, um auf das Gefühlsleben eines anderen Individuums rückzuschließen? 

Hengst Darius steht auf einer Seite eines eingezäunten Platzes. Ein tiefer Ton ist zu hören. Darius schaut auf, spitzt die Ohren und geht zur anderen Seite des Platzes, wo er mit der Nase den Deckel von einem Kübel stupst und die in dem Kübel liegende Karotte verspeist. Zwei Minuten später steht Darius wieder auf seiner Ausgangsposition. Diesmal ertönt ein hoher Ton. Darius spitzt die Ohren, bleibt aber stehen. Und wartet. Bis der Ton verstummt. Er hat gelernt, dass ein tiefer Ton immer eine Karotte in dem Kübel auf der anderen Seite des Platzes vorhersagt – dort hinzugehen lohnt sich also für ihn. Anders sieht es aus, wenn der hohe Ton erklingt: Darius hat gelernt, dass er beim Ertönen dieses Tons keine Karotte im Kübel vorfinden wird, und bleibt deshalb stehen. Es hat ein paar Monate gedauert, bis er das gelernt hat. 

Jetzt spiele ich einen mittelhohen Ton ab. Wie wird Darius reagieren? Darius bleibt stehen. Er glaubt offensichtlich nicht daran, im Kübel eine Karotte vorzufinden. Menschlich betrachtet ist er ein Pessimist – sein Glas ist halb leer. Hengst Merlin hingegen stürmt später beim Erklingen ­eines mittelhohen Tons zum Kübel – für ihn ist klar, dass er dort eine Karotte ergattern wird. Ein klassischer Optimist, denn für ihn ist das Glas halb voll. Dieser ­kognitive Test ist eines der Hilfsmittel in der methodischen Werkzeugkiste von uns TierschutzwissenschaftlerInnen, mit denen wir dem Gefühlsleben von Tieren auf die Spur gehen. So wurde im ersten Test dieser Art gezeigt, dass Ratten, die unter stressauslösenden Bedingungen gehalten wurden, pessimistischer reagierten als Ratten, die keinen Stress erfuhren. Das war 2004. Seitdem wird rund um die Welt versucht, den Test mit verschiedenen Tierarten durchzuführen, um herauszufinden, wie sich Haltung und/oder Umgang auf die Gefühle von Tieren auswirken. Darius, Merlin und weitere Pferde des Nationalgestüts sind die ersten Pferde, die diesen „Optimismus-Pessimismus-Test“ mit Tönen gelernt haben. 

Darius ist beim Ertönen des mittelhohen Tones stehen geblieben – seine Bewertung ist eindeutig pessimistisch. Wenn wir ihn uns in dieser Situation genau anschauen, können wir seine Stimmung dann vielleicht schon anhand seiner Körpersprache ablesen? Macht Darius einen eher entspannten und gelassenen Eindruck oder wirkt er angestrengt und ungeduldig? „Wenn wir ein Tier anschauen, dann sehen wir mehr als nur Verhalten. Ein Tier steht oder liegt nicht nur, sondern es steht oder liegt auf eine bestimmte Art und Weise. Und diese Art und Weise lässt Rückschlüsse auf sein Gefühlsleben zu“, sagt Françoise Wemelsfelder, Professorin der University of Edinburgh, Schottland. Ihre jahrzehntelange Forschung hat gezeigt, dass die sogenannte qualitative Verhaltensbeurteilung ­viele Kriterien guter wissenschaftlicher Praxis erfüllt. So beschreiben zum Beispiel verschiedene BeobachterInnen die Körpersprache desselben Tieres sehr ähnlich. 

Allerdings kommt immer wieder die kritische Frage auf, ob unsere Beurteilung nicht stark durch äußere ­Einflüsse bestimmt wird. Beurteilen wir die Körpersprache von ­Darius positiver, wenn er auf einer grünen Wiese statt in einer ­engen Box steht? Um das herauszufinden, zeige ich ­Darius, Merlin und einigen weiteren Pferden des Na­tionalgestüts ihr Lieblingsfutter, um positive Gefühle bei ihnen auszulösen. Ich filme sie in diesem Moment und gebe ihnen erst dann die Leckerbissen. Außerdem löse ich auch negative Gefühle aus, indem ich alle Pferde in einer Stallgasse füttere – nur eines nicht, und dieses wird dann in dieser Situation gefilmt. Alle Pferde werden mit jeweils vier Situationen konfrontiert, zwei unterschiedlich positiven und zwei unterschiedlich negativen. Und das jedes Mal in ihrem Stall, also immer vor demselben Hintergrund. 

Laura und 14 weitere Studierende der Universität Bern, die die Videos anschließend anschauen und die Körpersprache der Pferde beschreiben, wissen nichts von den verschiedenen Situationen, denen die Pferde ausgesetzt waren. Trotzdem beurteilen sie die Körpersprache so, wie ich sie aufgrund meines Wissens über die verschiedenen Situationen vorausgesagt habe: als „neugierig“ und „aufmerksam“ während der positiven und als „wütend“ und „ungeduldig“ während der negativen Futtersituation. Ihre Beurteilung ist ein Hinweis darauf, dass wir durchaus in der Lage sind, Darius’ Körpersprache unabhängig von äußeren Einflüssen zu beurteilen. Die Methode erfüllt somit ein weiteres Gütekriterium und bekommt damit ebenfalls einen Platz in unserer methodischen Werkzeugkiste. Aber vielleicht gibt es ja noch weitere, noch subtilere Hinweise auf Darius’ Gefühlslage? 

Sie werden folgende Situation kennen: Sie schauen in das Gesicht Ihres Gegenübers und lesen in ihm, dass etwas nicht stimmt. Zum Beispiel, weil die Augenbraue hochgezogen ist oder die Mundwinkel angestrengt zucken. Das Hochziehen der Augenbraue wird beim Menschen mit Angst und Traurigkeit in Verbindung gebracht. In diesem Zustand verkürzt sich der Muskel oberhalb der Braue, sodass diese hochgezogen wird und Falten oberhalb des Auges entstehen. Einen ähnlichen Ausdruck erkenne ich auch bei Darius. Pferdeliebhaber, Trainer und Tierärzte sprechen hier oft von „Sorgenfalten“. Aber spiegeln diese Falten wirklich Darius’ Gefühle wider? Oder ist dies eine vermenschlichte Deutung dieses Ausdrucks? Auch dieser Frage gehe ich auf dem Nationalgestüt nach. Während ich die Pferde in den für sie positiven und negativen Situationen filme, macht Fotograf Olivier zusätzlich Fotos von den Augen der Tiere. Diese Fotos bewerte ich anschließend anhand einer Skala, die ich zuvor selbst ent­wickelt habe. In ihr werden verschiedene Eigenschaften der Augenpartie beschrieben – zum Beispiel, wie ausgeprägt die einzelnen Falten sind und wie stark sie durch den sich zusammenziehenden Muskel nach oben gezogen werden. Und tatsächlich: Bei vielen der Pferde werden die Falten in einer der negativen Situationen im Vergleich zu einer neutralen Situation stärker hochgezogen und sind dementsprechend steiler, während sie in einer der positiven Situationen flacher sind. Ein erster Hinweis darauf, dass Darius’ Augenfalten tatsächlich etwas über seine Gefühle aussagen könnten. 

„Miss, was messbar ist, und mache messbar, was noch nicht messbar ist“ – kaum ein anderer Spruch bringt so gut auf den Punkt, was uns in der Tierschutzwissenschaft Schwierigkeiten bereitet. Gefühle sind nicht messbar, und wir werden sie vermutlich auch nicht messbar machen ­können. Wir werden nie wissen, wie es sich anfühlt, ein anderes Individuum unserer eigenen oder gar einer anderen Art zu sein. Doch meine Reise durch die Gefühlswelt der Pferde hat mir gezeigt, dass wir durchaus in der Lage sind, methodische Werkzeuge zu entwickeln, um uns dem Gefühlsleben von Tieren aus verschiedenen Richtungen zu nähern – ganz ohne Worte.