Moralisch schwierige Situationen bewältigen

Wie können wir das Bewusstsein für ethische Fragestellungen in der Veterinärmedizin fördern?

Dr. Astrid Nagl

In der tierärztlichen Arbeit müssen wir uns immer wieder mit komplexen ethischen Fragestellungen auseinandersetzen. Dr. Anne Quain, PhD, ist praktizierende Tierärztin in der Kleintiermedizin und hat auch einen Abschluss in Philosophie. Als Dozentin an der Universität Sydney hat sie die Veterinärethik zu ihrem Forschungsthema gemacht und neue Strategien entwickelt, die Tierärzt*innen helfen können, mit ethisch schwierigen Situationen umzugehen. Sie erklärt, wie wir diese Herausforderungen in der Praxis angehen und wie wir Tierärzt*innen und andere Teammitglieder unterstützen können, wenn sie moralische Konflikte erleben.

Warum ist es so wichtig, ethische Frage­stellungen in der tierärztlichen Praxis zu berücksichtigen?

Es geht dabei tatsächlich um die Gesundheit und das Wohlbefinden von Mensch und Tier. Derzeit herrscht ein weltweiter Mangel an qualifizierten Tierärzt*innen und Veterinärfachpersonal. Die ethische und moralische Belastung ist oft der entscheidende Grund, den Beruf aufzugeben. Wir brauchen Strategien, um mit diesem vermeidbaren Verlust an tierärztlicher Kompetenz und Versorgung umzugehen. Es muss anerkannt werden, dass wir schwierige Arbeit leisten, die sehr verstörend sein kann. In vielen Fällen war es nicht nur ein einzelnes Ereignis, das die Entscheidung auslöste – wenn Sie diese Kolleg*innen fragen, warum sie nicht mehr in der Veterinärmedizin tätig sein wollten, beginnen die Leute mit dem Satz: „Ich habe es satt …“

Mit welchen ethischen Herausforderungen sind Tierärzt*innen in der Kleintierpraxis am häufigsten konfrontiert?

Die häufigste moralisch herausfordernde Situation ist ein Behandlungskompromiss aufgrund finanzieller Einschränkungen der Kunden – Fortschritte in der tierärztlichen Versorgung und steigende Kosten haben dieses Problem verschärft. Konflikte zwischen Team­mitgliedern drehen sich jedoch selten um finanzielle Einschränkungen; diese sind so häufig, dass die Menschen diesbezüglich abgestumpft sind. Der Entscheidungsprozess rund um die Euthanasie verursacht viel mehr Stress und Diskussionen. Andere häufige Probleme sind Tierquälerei oder die Behandlungsmöglichkeiten für Streuner. Auch grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten aus ethischen Gründen über einen Behandlungsplan kommen unter Kolleg*innen oft vor. 

Spiegelt der aktuelle Lehrplan in der tier­ärztlichen Ausbildung diese Realität wider?

Studien zeigen, dass Studierende im ersten Semester sehr empathisch und idealistisch sind, dass die Empathie im dritten Semester jedoch nachlässt. Das gilt sowohl für das Medizinstudium als auch für das Studium der Veterinärmedizin. Bei diesen Studiengängen geht es darum, Teil eines Berufs, aber auch Teil einer Kultur zu werden: Wir lernen, entschlossen und richtig zu handeln, in Stresssituationen schnelle und oft schwierige Entscheidungen zu treffen, wir konzentrieren uns da­rauf, die richtige Diagnose zu stellen – und wir lernen, andere Faktoren zu ignorieren. Moralisch heraus­fordernde Situationen werden als Ausnahmen, als ungewöhnliche Ereignisse behandelt. Die Gefühle der Tiere und der Klient*innen werden dabei oft ausgeblendet. Nicht „sensibel“ zu sein wird als Vorteil angesehen.

Sie unterrichten selbst das Fach Ethik an der veterinärmedizinischen Universität in Sydney. Versuchen Sie in Ihrer Lehre, diesen Ansatz infrage zu stellen?

In meinem Kurs geht es darum, das Bewusstsein für ethische Fragestellungen zu fördern und zu normalisieren, dass es moralische Unsicherheiten gibt. Hier an der Universität Sydney wird Ethik im ersten Studienjahr unterrichtet. Der Lehrplan ist aber sehr umfangreich und auf klinische Fähigkeiten fokussiert. Diese Prüfungen sind auch schwieriger, also konzentrieren sich die Studierenden darauf. Die Absolvent*innen sagen mir später oft: „Ich wünschte, ich hätte in den Ethikvorlesungen besser aufgepasst!“ Wenn sie mit der Arbeit beginnen, erkennen sie, dass moralische Herausforderungen ihnen in ihrer täglichen Praxis am meisten Stress bereiten.

Wie können wir praktizierende Tierärzt*innen unterstützen? In meiner tierärztlichen Arbeit habe ich festgestellt, dass ich im Lauf der Jahre noch mehr über ethische Aspekte unserer Tätigkeit nachdenke …

Mit zunehmender Erfahrung in unserer Arbeit entwickeln wir höhere Erwartungen an unsere Entscheidungsfindung, sodass wir uns selbst höhere Standards setzen. Die Unterstützung, die es gibt, ist meist für junge Absolvent*innen gedacht, aber wir brauchen auch Strukturen für Fachleute auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Mentor*innen und erfahrene Kolleg*innen können in diesem speziellen Kontext sehr hilfreich und wichtig sein. Supervision bedeutet auch, sich einzugestehen, dass diese Arbeit schwierig ist und Stress auslösen kann: Die Erfahrung immunisiert uns nicht gegen moralisch herausfordernde Situationen.

Im Rahmen Ihrer Forschung haben Sie sogenannte „Ethik-Runden“ entwickelt – speziell ausgebildete Moderator*innen leiten dabei Menschen, die in der Veterinärmedizin arbeiten, dazu an, verschiedene moralisch herausfordernde Situationen zu ­diskutieren und zu reflektieren, denen sie in ihrer ­täglichen Arbeit begegnet sind. Wie können wir von diesem neuen Ansatz profitieren?

In den Jahren, in denen ich Ethik-Runden online und in der Praxis angeboten habe, konnte ich die Erfahrung machen, dass die Menschen den Raum und die Möglichkeit schätzen, über moralisch herausfordernde Situationen zu sprechen. In unserem Beruf haben wir sehr wenig Zeit zum Nachdenken – wir arbeiten so viel! Der Fokus liegt auf „abrechenbarer Zeit“. Meine Kolleg*innen erzählen mir oft, dass sie während der Arbeitszeit Patienten behandeln müssen und ihre Zeit nicht für etwas anderes aufwenden können. Aber das Nachdenken über diese Situationen ist es wert, sich dafür Zeit und geistigen Raum zu nehmen. Außerdem ist es eine Bereicherung, zu erfahren, dass man gemeinsame Werte mit anderen Menschen teilt.

Können alle Teammitglieder an den ­Ethik-Runden teilnehmen?

Ja, und das ist so wichtig! Die Veterinärmedizin sollte ein integrativer Berufsstand sein. Moralische Belastung wurde erstmals bei Krankenschwestern beschrieben: Sie mussten den Anweisungen der Ärzt*innen folgen und stimmten diesen aus ethischen Gründen nicht immer zu. Medizinische oder tierärztliche Assistent*innen leiden oft stärker unter ethischen Fragestellungen, weil sie eben kein Teil des Entscheidungsprozesses sind.

Teammitglieder sprechen während der Ethik-Runden meist offener, wenn sie diese nicht im Rahmen ihrer ­Arbeit besuchen. Die besten Ethik-Runden sind die­jenigen, bei denen Menschen zusammenkommen, die nicht in derselben Klinik arbeiten, weil keine Machtstrukturen im Spiel sind.

Die Diskussion moralisch herausfordernder Situationen kann emotional intensiv sein. Wie können Sie als Moderatorin Menschen unterstützen, die sich während der Ethik-Runden dadurch belastet und unwohl ­fühlen?

In den Ethik-Runden möchte ich eine Kultur der Offenheit schaffen, einen sicheren Ort, um über diese Dinge sprechen zu können. Wir müssen uns bewusst sein, dass dieser Ansatz sowohl Risiken als auch Vorteile birgt. Die Menschen sprechen über Dinge, die vor zehn oder 20 Jahren passiert sind und immer noch wehtun. Deshalb ist es notwendig, dass ausgebildete Moderator*innen die Diskussion anleiten – 2025 wird ein Schulungsleitfaden für Moderator*innen veröffentlicht. Die Meetings sollten regelmäßig stattfinden. Die Menschen öffnen sich, wenn sie merken, dass sie dieser Struktur vertrauen können, und sie als hilfreich empfinden.

Was kann einem Team helfen, moralisch herausfordernde Situationen zu bewältigen?

Ich denke, der wichtigste Schritt ist, das Team zusammenzubringen und die Situation ausführlich zu besprechen. Beschreiben Sie, was passiert ist und wer die „Stakeholder“ waren – die Konflikte und unterschied­lichen Interessen zu verstehen kann schon dazu führen, dass sich die Menschen besser fühlen. Es hilft, zu verstehen, was Sie kontrollieren können. Bei moralisch herausfordernden Situationen ist es eine gute Idee, mehr Daten und mehr Informationen zu sammeln; Ver­einfachungen helfen nicht. Je genauer Sie hinschauen, desto wahrscheinlicher ist es, dass Sie zwar deutlicher sehen, wie komplex die Situation ist – aber manchmal können moralische Herausforderungen leichter gelöst werden, wenn Sie mehr Informationen haben. Sie können Teammitgliedern auch dazu raten, psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen, um die emotionalen Aspekte solcher Fälle zu verarbeiten.

Was ist mit den Klient*innen, die diese ethisch herausfordernden Situationen ja mit uns teilen?

Wir haben als tierärztliches Fachpersonal manchmal das Gefühl, ein Monopol auf moralische Belastung zu haben – die moralischen Probleme der Klient*innen werden oft ignoriert. Ich denke jedoch, dass wir etwas verlieren, wenn wir die Perspektive der Klient*innen ­außer Acht lassen. Wir sollten uns daran erinnern, dass sie auch über diese Situationen nachdenken und oft ­leiden, genau wie wir.

Was würden Sie Teammitgliedern raten, die in der Zusammenarbeit besser aufeinander eingehen möchten?

Wir können als Mitglieder eines Teams geduldig und freundlich miteinander umgehen und uns für die Ansichten anderer Teammitglieder interessieren. Veterinär­medizin ist ein wertorientierter Beruf, und wir fühlen uns bei unserer Arbeit besser, wenn wir die Werte der anderen kennen. So können wir eine bedingungslose positive Wertschätzung füreinander entwickeln.

Quellenangaben / weiterführende Literatur: 

Arbe Montoya, A.I., Hazel, S.J., Matthew, S.M., ­McArthur, M.L. (2021): Why do veterinarians leave clinical practice? A qualitative study using thematic analysis. Veterinary Record, 188. https://doi.org/10.1002/vetr.2 
Moses, L., Malowney, M.J., Wesley Boyd, J. (2018): ­Ethical conflict and moral distress in ­veterinary practice: A survey of North American veterinarians. J Vet Intern Med. 32: 2115-122. https://doi.org/10.1111/jvim.15315 
Quain, A., Mullan, S. (Eds.). (2017): Veterinary Ethics: Navigating Tough Cases. 5m Books Ltd.
Quain, A., Mullan, S., Ward, M.P. (2022): “There Was a Sense That Our Load Had Been Lightened”: Evaluating Outcomes of Virtual Ethics Rounds for Veterinary Team Members. Front. Vet. Sci. 9:922049. doi: 10.3389/fvets.2022.922049 
Quain, A., Ward, M. P., Mullan, S. (2022): What Would You Do? Types of Ethical Challenging Situations Depicted in Vignettes Published in the Veterinary Literature from 1990 to 2020. Veterinary Sciences, 9 (1), 2. https://doi.org/10.3390/vetsci9010002 

Dr. Anne Quain, BA (Hons), BScVet (Hons), BVSc (Hons), MVetStud GradCertEduStud (HigherEd), MANZCVS (Animal Welfare), Dip. ECAWBM (AWSEL), PhD, lehrt ­Veterinary Science an der Sydney University und ist praktizierende Tierärztin in Sydney. Sie ist Mitglied des Australian and New Zealand College of Veterinary ­Scientists in Animal Welfare und Diplomate of the European College of Animal Welfare and Behaviour Medi­cine in Animal Welfare Science, Ethics and Law.