Mittendrin im Massensterben

Tierärztin Tanja Warter

Jeden Tag sterben 150 Tier- oder Pflanzenarten für immer aus – viele, bevor wir sie überhaupt entdeckt haben. Im Vergleich zu Nutztieren gibt es nur noch verschwindend wenige Wildtiere.

Die Bestände wild lebender Wirbeltiere sind in den vergangenen 50 Jahren um durchschnittlich 69 Prozent geschrumpft – mit dieser Meldung schockierte Ende 2022 der „Living Planet Report“ des WWF und der Zoologischen Gesellschaft London nach einer Untersuchung von 5230 Arten. In Bezug auf die Individuenzahl sind wild lebende Tiere sowieso längst eine Minderheit: 450 Milliarden Landtiere werden aktuell weltweit zur Ernährung gehalten; bei den Säugetieren heißt das: Es gibt 15-mal mehr Nutztiere auf der Welt als wilde Tiere. Und von allen Vögeln auf der Erde sind 70 Prozent Nutzgeflügel.

Besonders hart trifft der Rückgang wilder Tiere West­liche Flachlandgorillas und Koalas, und auch mit Pandas, ­Tigern, Eisbären und Elefanten könnte es schon in 30 Jahren vorbei sein. Mit solchen Nachrichten wird versucht, über manche besonders beliebte Tiere die allgemeine Aufmerksamkeit stärker auf das Artensterben zu lenken. Der Nachteil daran: Bei manchen Menschen entsteht so der Eindruck, Artensterben passiere nur bei auffälligen Großtieren in fernen Ländern. Nach heutigem Wissensstand ist aber auch ein Drittel der 55.000 in Österreich beheimateten Tier­arten gefährdet.

Will man wissen, wie viele Arten es insgesamt auf der Erde gibt, sind wir mit einem Problem konfrontiert. Wir wissen es nicht. Derzeit geht ein Großteil der Forschenden davon aus, dass es 10 bis 15 Millionen sein dürften; ein vager Schätzwert. Beschrieben sind bis heute etwa zwei Millionen Arten, pro Jahr kommen rund 15.000 dazu. Bleibt es dabei, wären wir in etwa 800 Jahren damit fertig, unsere Mitbewohner auf der Erde vollständig zu kennen. Allein die Laufkäfer in Österreich zu bestimmen ist für Forscherinnen und Forscher nach eigener Einschätzung schon eine Herkulesaufgabe. Für einen immer besser werdenden Überblick gibt es die Initiative „Austrian Barcode of Life“, die es sich zum langfristigen Ziel gesetzt hat, die DNA aller in Österreich lebenden Pflanzen, Tiere und Pilze zu entschlüsseln und in einer Datenbank zu sammeln. Diese Forschungsarbeit hält Überraschungen parat: So wurde erst vor sechs Jahren eine neue Fischart entdeckt, die ausschließlich in der oberen Mur vorkommt: der Smaragdgressling.

Fünf Faktoren können für den Rückgang der Arten verantwortlich gemacht werden:

  • Umnutzung von Land: Drei Viertel der eisfreien Landflächen auf der Erde werden von Menschen fürs Wohnen oder für die Landwirtschaft genutzt. Sie stehen als Lebensräume für viele Tierarten nicht mehr zur Verfügung. Geschützt sind aktuell 17 Prozent der Landflächen. Beim Weltnaturgipfel im Dezember 2022 einigten sich die 200 teilnehmenden Staaten darauf, bis zum Jahr 2030 30 Prozent der Flächen unter Schutz zu stellen.
  • Übernutzung: Ob abgeholzt, abgemäht, überfischt oder überjagt: Übernutzung treibt das Arten­sterben wesentlich voran. Beim Kabeljau sind die einst ­großen Bestände zusammengebrochen oder ganz verschwunden. Für Palmölplantagen vernichten wir Regenwälder – und mit ihnen ihre Bewohner wie den Orang-Utan oder den Tukan.
  • Verschmutzung: Fluss- und Meeresbewohner sowie fischende Vögel sterben an Plastikmüll oder bei Ölkatastrophen, auf Feldern werden großflächig Spritzmittel gegen Insekten ausgebracht und in Gärten kommen Unkrautvernichter oder Schneckenkorn zum Einsatz.
  • Klimawandel: Mit steigenden Temperaturen dringen wärmeliebende Pflanzen und Tiere in neue Gefilde vor und verdrängen andere Arten. Pflanzen, die Kälte mögen, können aber irgendwann nicht mehr weiter in die Höhe oder weiter in den Norden; sie sind besonders gefährdet. Durch die Erderwärmung kommen ganze Systeme ins Wanken: Blüht eine Pflanze schon früher und der passende Bestäuber hat sich nicht im gleichen Rhythmus angepasst, finden die beiden nicht mehr zusammen.
  • Invasive Arten: Tiere oder Pflanzen, die aus anderen Regionen der Erde stammen, breiten sich in Gegenden aus, in denen sie eigentlich nicht heimisch sind. So ist der nordamerikanische Marmorkrebs, der sich durch Jungfernzeugung rasend schnell vermehrt, auch am Karlsbader Weiher in Salzburg aufgetaucht. Dieser Krebs ist Überträger der Krebspest, die für heimische Arten tödlich ist. Der Asiatische Marienkäfer, der in Gewächshäusern als biologischer Schädlingsbekämpfer eingesetzt wurde, entkam in die Freiheit und wurde nach seiner Erstbeobachtung in Österreich im Jahr 2006 rasend schnell zu einem der häufigsten Käfer überhaupt – zulasten heimischer Zwei- und Siebenpunkt-Marienkäfer.

Aber wen soll man schützen? Wie anfangen? Der EDGE-Index der Zoologischen Gesellschaft London vergibt dafür Punkte: Je einzigartiger ein Tier ist und je weniger noch lebende Artgenossen es hat, desto höher sein Schutz­status. Ganz oben stehen etwa der australische Bergbilch­beutler, den man bereits für ausgestorben hielt, der Westliche Langschnabeligel, ein Eier legendes Säuge­tier in Neuguinea, und auch der seit Corona bekannte chinesische Pangolin, ein Schuppentier, das sich im Bedrohungsfall zur Kugel einrollt. Im EDGE-Index gibt es für jede Wirbeltierklasse eine eigene Rangliste; zusätzlich wurde untersucht, für wen bereits gute Schutzmaßnahmen im Gang sind und wer auf wenig Interesse stößt. Um den Seychellen-Palmfrosch schert sich im Gegensatz zum Chinesischen Riesensalamander etwa kaum jemand, der Kubanische Schlitzrüssler findet auch keine Beachtung. In Sachen Aufmerksamkeit (und der damit verbundenen Maßnahmen) geht es etwa dem Panda, dem Kalifornischen Kondor oder dem neuseeländischen Kakapo deutlich besser.

Unmittelbar spürbar ist es für die meisten Menschen nicht, wenn es keine Pandas, keine Elefanten oder keine Koalas mehr gibt – aber auch sie leisten Beiträge zum Ökosystem, und fehlen sie, fehlt ein kleines Rädchen im Kreislauf der Natur mit Auswirkungen, die nicht immer gleich absehbar sind. Beispielsweise verteilen sie mit ihren Ausscheidungen Pflanzensamen; diese Pflanzen dienen anderen Tieren wiederum als Lebensraum oder Nahrungsquelle.
Außerdem ist die Gefährdung einer Art nicht nur der drohende Verlust einer einzigartigen Spezies, sondern auch ein Indikator dafür, dass im Ökosystem etwas schiefläuft. Wo einst Bambus für die Pandas wuchs, gibt es heute Ackerflächen – darunter leidet nicht nur der Panda allein, sondern mit ihm viele andere Lebewesen des Systems.
Auch umgekehrt sind die Auswirkungen verheerend: Wo eine Art aus dem System gerissen wird, kommt es zu dramatischen Folgewirkungen. So werden in Indonesien, Bangladesch, der Türkei oder Albanien systematisch Frösche gesammelt, deren Schenkel nach wie vor massenhaft in der EU verzehrt werden. Ohne Frösche steigt aber die Zahl der Insekten stark an – auch jener, die Schädlinge für Nutzpflanzen sind. In der Folge wird noch mehr gespritzt. Fazit: Keine Frösche bedeutet mehr Pestizide, mehr Pestizide bedeuten noch mehr Insektensterben.
Weil es eine unlösbare Aufgabe ist, sich um alle bedrohten Arten einzeln und gleichzeitig zu kümmern, favorisieren Forschende den Schutz von Lebensräumen mitsamt seinen Bewohnern. So auch der frühere Leiter des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Radolfzell, Peter Berthold, der mit dem Biotopverbund Bodensee ein Netzwerk von über 120 Lebensräumen erschuf – „Wohnzimmer für Tiere und Pflanzen“, wie Berthold es nennt, die möglichst nah beieinander sind, sodass auch kleine Tiere wandern und wechseln können. Berthold sagt: „Wenn man jetzt hört, dass 80 Prozent unserer Insekten weg sind, die unsere Nutzpflanzen bestäuben, und man bald auf die Bäume steigen und das mit dem Pinsel machen muss, da kommen Grundängste auf – Grundängste, dass es uns an den Kragen geht.“

Wie das Leben in den neu angelegten Biotopen zurückkehrte, ließ Berthold wissenschaftlich begleiten. Schon beim ersten Weiher hat sich die Zahl der Singvogelarten in 15 Jahren von 101 auf 216 mehr als verdoppelt. Zu den neuen Singvögeln – unter ihnen bedrohte Arten wie der Kiebitz – gesellten sich auch 25 verschiedene Tagfalter-, 17 Heuschreckenarten, 27 Schneckenarten, 33 Arten von Libellen und viele andere mehr.

Biodiversität besteht nicht nur aus einer Vielzahl an Arten allein, denn wenn von einer Art nur einige wenige Exemplare existieren, hilft das wenig. Empirische Berechnungen kommen zu dem Schluss, dass die überlebensfähige Populationsgröße für die meisten Arten im Bereich von 5000 bis 10.000 Individuen liegen dürfte. Kleinere Populationen sind zu fragil – sie können beispielsweise bereits von einem einzigen lokalen Unwetter ausgelöscht werden. Die Größe einer Population und der Austausch mit anderen beeinflusst die zweite Säule der Biodiversität, die sogenannte genetische Vielfalt. Sie ist notwendig für Anpassungen und evolutionäre Selektion.

Wissenschaftliche Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache – aber nicht alle Menschen sind dafür empfänglich. Wissen und Handeln sind zwei Paar Schuhe. Einen neuen Impuls für den Artenschutz bringt Rainer Hagencord ins Spiel: Als Zoologe und katholischer Priester gründete er 2009 im deutschen Münster das Institut für theologische Zoologie, das er bis heute leitet. In seiner Arbeit hinterfragt er den Status des Menschen als „Krone der Schöpfung“ aus religiöser Sicht. „Mensch und Tier wurden gemeinsam am sechsten Tag erschaffen“, sagt er, „Höhepunkt und Krone des Schöpfungsakts ist der Ruhetag, nicht der Mensch.“ Zudem seien die Tiere nicht aus dem Paradies vertrieben worden – „aber aus unserer Welt verschwinden sie. Millionen von Arten werden gerade vernichtet. Wir nähern uns einer Zeit vor 65 Millionen Jahren. Damals ist ein Meteor eingeschlagen. Der neue Meteor heißt Mensch.“ Eine anthropozentrische Theologie habe die gesamte natürliche Mitwelt des Menschen unterschätzt und wesentlich zu ihrer Entwertung und Ausbeutung beigetragen.