„Ist Lebensmittelbetrug

salonfähig geworden?“

Mag. Eva Kaiserseder

Dagmar Schoder ist vielen als Präsidentin der österreichischen „Tierärzte ohne Grenzen“ ein Begriff. Seit Jahren forscht sie zum Thema globale Lebensmittelsicherheit und wurde für ihre Arbeit rund um einen der bisher ­schlimmsten bekannt gewordenen Betrugsfälle im Lebensmittel­bereich, den chinesischen Melaminskandal, ausgezeichnet.

Frau Dr. Schoder, welche Lebensmittelskandale der letzten Jahre waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten und bedenklichsten?

Grundsätzlich gilt: Das, was wir medial mitbekommen, ist nur die Spitze des Eisbergs. Lebensmittelskandale basieren einfach ausgedrückt auf zwei Dingen: Vorsatz oder Versehen. Entweder passiert das mit einer Betrugsabsicht, um einen finanziellen oder wirtschaftlichen Vorteil zu erlangen, oder es steckt ein Versehen dahinter, wo Lebensmittelproduzenten Risiken und Situationen falsch einschätzen und zumeist grob fahrlässig handeln. 

Zu den bedeutendsten Skandalen gehört etwa der Dioxin-skandal aus dem Jahr 2011, wo Zigtausende Tonnen dioxinverseuchtes Fett als Futtermittel vertrieben und verwendet wurden. Für Legehennenbetriebe und Schweine-mäster bedeutete das einen enormen Schaden, für die Tiere selbst viel Leid und für den menschlichen Konsumenten eine direkte Bedrohung. Auch der EHEC-Ausbruch war 2011 erschreckend: Damals sind in Deutschland rund 4.000 Menschen erkrankt und 53 gestorben. Dieser Lebensmittelausbruch hat auch aufgezeigt, wie schwierig und langwierig eine Aufklärung sein kann. Mit dem listerienverseuchten Quargel von 2009 gab es außerdem einen Lebensmittelskandal „made in Austria“; mit betroffen waren auch unsere Nachbarn Deutschland und Tschechien. Dieser Ausbruch forderte insgesamt acht Tote. 

Alles überschattend ist allerdings der chinesische Melaminskandal, der zu Erkrankungen von 300.000 Säuglingen und zu elf Todesfällen führte. Dessen Dreistigkeit ist bis heute unerreicht. Der chinesische Melaminskandal hat uns eines ganz deutlich vor Augen geführt: Alle moralischen Schranken sind gefallen – nicht einmal Babynahrung ist vor den betrügerischen Absichten so mancher Produzenten sicher. 

Sie haben umfassend zum Melaminskandal geforscht und sind dafür auch mit einem wichtigen Wissenschaftspreis, dem Stockmeyer-Preis, ausgezeichnet worden. Was kennzeichnet diesen Skandal? 

Der Melaminskandal weist Kennzeichen auf, die man auch bei vielen anderen Lebensmittelskandalen erkennen kann: Es dauert zumeist sehr lange, bis ein Skandal öffentlich bekannt wird. Im Falle des Melaminskandals gab es die ersten Berichte im September 2008, aber in Insiderkreisen wusste man über die Problematik längst Bescheid, mindestens ein Dreivierteljahr zuvor. Auch die chinesischen Behörden sollen schon seit dem Frühjahr über die kriminellen Machenschaften informiert gewesen sein. Aufgrund der Olympischen Spiele 2008 – sie fanden erstmals in China statt – wollte man jedoch negative Berichterstattung vermeiden und blieb untätig. Politischer Gegendruck kam letztendlich von der neuseeländischen Regierung, die den Chinesen ein Ultimatum stellte, quasi nach dem Motto: Wenn ihr den Skandal jetzt nicht publik macht, machen wir es. Detail am Rande: Es war der neuseeländische Milchpulverhersteller Fonterra, der mit 43 Prozent Beteiligungsanteil am größten chinesischen Milchkonzern Sanlu letztendlich alles ins Rollen brachte. Es gab dann eine medial sehr gut aufbereitete, große Rückhol- und Vernichtungs-aktion. -Melaminhaltiges Milchpulver wurde vor den -Kameras verbrannt und somit suggeriert, dass man alles im Griff habe und der Konsument sich in Sicherheit wiegen dürfe. Allerdings stimmt das so nicht: Unsere Recherchen ergaben, dass 38 Prozent der chinesischen Milchpulverhersteller zum Zeitpunkt der Rückholaktionen einfach die Produktion eingestellt haben und von den Behörden einfach nicht kontrolliert wurden. Später haben dieselben Unternehmen den Betrieb unbehelligt wieder aufgenommen. 

Außerdem hat man versucht, die kontaminierte Ware anderswo auf dem Weltmarkt unterzubringen, wie zum -Beispiel in Afrika. 


Wie sieht es etwa in Afrika beim Thema Lebensmittelsicherheit aus? Sie haben heuer eine interessante Studie zum Thema Bleikontaminationen von Babynahrung veröffentlicht. 

Ja, das stimmt, in Afrika sind erhöhte Bleiwerte ein großes Thema. Das überraschende Ergebnis dieser Studie war, dass alle Proben vom Schwarzmarkt schadstoff und somit „bleifrei“ waren, die Markenprodukte dagegen nicht. Eine dieser Proben überschritt den international fest-gesetzten Grenzwert nicht nur minimal, sondern gleich um 200  Prozent. Allerdings geht es hier nicht in erster Linie um Lebensmittelbetrug, sondern um eine Verschleppungsproblematik, die weitreichende gesundheitliche Konsequenzen für Säuglinge nach sich zieht. Blei ist mit einem Neurotoxin gleichzusetzen, das die Entwicklung des Gehirns im Kindesalter schädigt. Regelmäßiger Konsum von Blei geht bei Säuglingen und Kleinkindern mit einer signifikant verzögerten geistigen Entwicklung einher. Allein im Jahr 2016 forderte Blei laut einem WHO-Bericht 540.000 Tote weltweit.

Sie leiten seit Jahren die Forschungsgruppe Globale Lebensmittelsicherheit an der Vetmeduni; ein komplexes Thema. Was ist eigentlich das Wesen
des Lebensmittelbetrugs?

Vorab, um das Grundgerüst zu skizzieren: Betrug ist definitiv nichts Neues. Aus dem Munde von Experten hört man oft, Lebensmittelbetrug sei so alt wie die Menschheit. Ich würde das gerne präzisieren: Lebensmittelbetrug ist so alt wie der Handel; wobei der Tauschhandel unsere Vorfahren sicher nicht zu großen kriminellen Energien beflügelt hat, es war meist ein einfaches Geschäft zwischen A und B. Dann kam das Geld ins Spiel, und mit ihm die Gier, der Treibstoff für betrügerisches Handeln. Wie anfällig der moderne Handel mit Lebensmitteln für Betrug ist, hängt im Wesentlichen von drei Parametern ab: Gibt es noch einen direkten Kontakt zwischen Produzent und Konsument? Ergo: Funktioniert die Feedbackschleife? Verfügen der Produzent und der Händler, das Unternehmen über ein angemessenes Wertesystem und Qualitätsbewusstsein, also einen Ehrenkodex? Und: Wie gut ist die Überwachung? Heute ist der Handel längst global. Hier ist die entscheidende zusätzliche Frage: Verfügen wir heute überhaupt über ein Kontrollsystem, das auf globaler Ebene funktioniert? 

Unsere Produktionsstätten haben sich signifikant verschoben: Immer mehr Rohstoffe, die früher in Europa produziert wurden, kommen heute aus Südostasien oder Afrika, aus Ländern also, wo die Lebensmittelüberwachung großteils noch ineffizient ist. Bei Zusatzstoffen ist die Situation noch gravierender: 90 Prozent der in Europa eingesetzten und verarbeiteten Vitamine kommen aus China. Konkret heißt das, ein Lebensmittelproduzent ist selbst nicht davor gefeit, einem Betrüger aus der eigenen Branche ausgeliefert zu sein. Hinzu kommt, dass Betrüger heute günstigere Bedingungen vorfinden: Die Warenströme sind enorm komplex, deren Rückverfolgbarkeit am Papier aber oftmals nicht in der Realität nachvollziehbar – die Chance, erwischt zu werden, ist gering. Produktionstonnagen werden immer größer, und damit auch Gewinnspannen und der Reiz, zu betrügen. Man könnte ketzerisch die Frage stellen: Ist Lebensmittelbetrug salonfähig geworden?

Gibt es schon eine Conclusio, die Sie in Ihrer Funktion ziehen können?

Ja. Die lautet wenig überraschend: Das Leben ist unfair. Es gibt gewaltige Unterschiede, ob man ein Konsument in der Ersten oder der sogenannten Dritten oder Vierten Welt ist. Letztere befinden sich in einer Pattsituation: Ohnehin schon mangel- oder unterernährt, sind Konsumenten dort anfälliger für Krankheiten wie TBC oder HIV. Geschwächt durch diese Krankheiten, sind sie dann auch anfälliger für lebensmittelbedingte Infektionskrankheiten wie etwa Cholera. Das heißt, Konsumenten etwa in Schwarzafrika sind in einer doppelt geschwächten Position. Hinzu kommt eine zynische Grundregel des globalen Handels: Minderwertige, gar gesundheitsschädigende Ware wird eher auf dem afrikanischen als auf dem europäischen Kontinent verkauft.

Ein anderes Beispiel, das die Ungerechtigkeit illustriert: In Tansania gäbe es genügend Trinkwasser, aber die Rechte für die Wasserquellen am Kilimandscharo hat Coca-Cola gekauft. Das heißt, ein profitorientierter Konzern verkauft in einem armen Land um viel Geld Bottled Water, das sich nur wenige leisten können. Der Rest trinkt minderwertiges, belastetes Wasser, und das oft ein Leben lang! Was das für die Gesamtbevölkerung in Bezug auf die Lebenserwartung bedeutet, mag man sich kaum vorstellen. 

Was ist ein Learning, das man daraus ziehen könnte? 

Die gute Nachricht ist: Lebensmittelbetrug ist meist sehr primitiv, das heißt, er wäre auch relativ einfach zu detektieren. In Afrika steht man allerdings vor dem Problem, dass es keine wirklich funktionierende Lebensmittelkontrolle gibt. Plakativ ausgedrückt habe ich im Rahmen meiner Arbeit in Afrika – von wenigen Ausnahmen abgesehen – eigentlich nur zwei Arten von Labors kennengelernt: Labors, die notdürftig mit altem, kaputtem Equipment eingerichtet waren, und absolute Toplabors mit modernster, teuerster State-of-the-Art-Technik. Oftmals waren die modernen Geräte jedoch noch originalverpackt, denn es fehlte an geschultem Fachpersonal. 

Wo müssten ganz allgemein gesehen Verbesserungen passieren? Was sind Ihre Wünsche als Forscherin? 

Wir brauchen heute eine schlagkräftige, effiziente Lebensmittelüberwachung auf globaler Ebene. Ganz ausmerzen wird sich der Betrug aber wohl nie lassen, da wären wir wieder bei der menschlichen Gier. Es würde aber eine global agierende Task-Force brauchen, die weltweit Proben zieht, um Lebensmittelbetrügereien aufzuspüren und die Lebensmittelproduzenten und -händler zur Verantwortung zu ziehen. Allein, wenn wir die Situation in Europa betrachten, besteht dringender Handlungsbedarf: Derzeit gibt es keine europarechtliche Regelung des Lebensmittelbetrugs. Das hängt damit zusammen, dass sanktionsrechtliche Regelungen wie Strafgesetze grundsätzlich in die Kompetenz der Mitgliedsstaaten fallen. Es wurde zwar von der EU-Kommission eine Arbeitsgruppe „Lebensmittelbetrug“ eingesetzt, aber wir müssen noch sehr viel mehr umsetzen.