„Liebe

Astrid Lindgren …!“

Tierärztin Tanja Warter

Wie eine schwedische Tierärztin zusammen mit einer der größten Autorinnen der Welt das Tierschutzgesetz neu aufstellte.

Innerhalb Europas hat Schweden bei der Tierhaltung einige Alleinstellungsmerkmale. Es gibt kein Schwein, dessen Schwanz kupiert wurde. Jedes von ihnen hat Stroh. Die Kastration erfolgt nur unter lokaler Betäubung. Kühe haben ein geschriebenes Recht darauf, grasen zu dürfen. Die schwedische Tierhaltung hat den niedrigsten Verbrauch an Antibiotika in der gesamten EU, pro Kilogramm ­Lebendgewicht werden in Schweden zwölf Milligramm Antibiotika eingesetzt, im EU-Durchschnitt sind es 152.

Das sind nur einige Beispiele für die außergewöhnlichen ­Errungenschaften im Land im hohen Norden. Aber so war es längst nicht immer. Den Tierschutz vorangebracht haben Mitte der 1980er-Jahre zwei Frauen: die Tierärztin Kristina Forslund und die berühmte Kinderbuchautorin Astrid Lindgren. Ein Gespräch mit Kristina Forslund, heute 71 Jahre alt, in der schwedischen Universitätsstadt Uppsala.   

Sie haben 1974 mit Ihrer praktischen tierärztlichen Tätigkeit begonnen. Warum waren Sie Mitte der 1980er-Jahre so verzweifelt, dass Sie einen Hilferuf an Astrid Lindgren abschickten?
Ich war schon länger unglücklich in diesem System, in dem alle über Produktionseinheiten sprachen und nicht über Tiere. Es war in Schweden der Beginn der indus­trialisierten Tierhaltung, der mir Bauchschmerzen bereitete. Dann gab es eine ausschlaggebende Situation, die ich damals als unerträglich empfunden habe: Ich arbeitete im Schlachthof und machte Kontrollen, als ich einen entsetzlichen Schrei hörte. Entsetzlich. Ein Schrei, wie ich nie zuvor einen gehört hatte. Was ich sah, war ein kleines Schlachtferkel, das im heißen Brühwasser schwamm. Es schrie. Und ich sah in seine weit aufgerissenen Augen.

(In diesem Augenblick kämpft Kristina Forslund mit den ­Tränen. Vorübergehend muss sie die Erzählung stoppen, fängt sich aber bald darauf wieder.)

Ich rief um Hilfe. Aber was sollten wir in dieser Situation machen? Ein Arbeiter kam mit einem Besen und drückte das Ferkel unter Wasser. Wir haben es im Endeffekt ertränkt, um es von seinem Leid zu erlösen. Das war grauen­haft. Überhaupt hatten wir damals riesige Probleme im Schlachthof mit den Betäubungen, mit dem Halsschnitt und dem Entbluten. Immer wieder sind Schweine sogar noch hängend aufgewacht.

Und dann kam Ihnen Astrid Lindgren in den Sinn?
Ja, denn ich hatte einmal einen einfühlsamen Text von ihr über schwedische Kühe gelesen und hoffte deshalb auf ihre Unterstützung. Sie erhob ja immer die Stimme für die Schwächsten. Vielleicht würde sie es auch für die ­Tiere tun, dachte ich. Ich fand es einfach unverantwortlich, dass niemand über die Zustände Bescheid wusste. Darum schrieb ich 1985 einen langen, langen Brief an Astrid Lindgren. Über den Schlachthof, aber auch über meine Erfahrungen in der Rinderpraxis. Ich musste an all die Kälber denken, die an Lungenentzündungen gestorben waren, weil die Besatzdichten so hoch und das Stallklima so schlecht waren. Ich konnte das alles nicht mehr länger ertragen. Also schrieb ich ihr über meine tagtäglichen Erfahrungen. Bis heute ist es für mich ein Wunder, dass sie gleich geantwortet und sich des Themas angenommen hat. Sie war ja eine Art Superstar hier bei uns in Schweden. Wir wurden echte Freunde.

Wie sind Sie beide vorgegangen, um die Öffentlichkeit zu informieren?
Astrid Lindgren hat in Schwedens größter Zeitung, dem „Expressen“, Texte und Kolumnen über die Zustände veröffentlicht. Das schlug ein wie eine Bombe. Daraus wurde eine herrliche Kooperation. Ich schrieb ihr ganz viel über das, was ich erlebt hatte und wusste, und sie schrieb alles um und verfasste es im Namen der Hühner, Schweine oder Kühe. Dann bekam ich die Texte abermals zur Prüfung zurück, denn es war uns klar, dass nicht ein einziger kleiner Fehler enthalten sein dürfte. Die veterinärmedizinische und pharmakologische Korrektheit war oberstes Gebot. So arbeiteten wir zusammen.

Das muss heftige Reaktionen ausgelöst haben …
Oh ja! Es gab eine Welle der Entrüstung in der Bevölkerung, und es kam eine beeindruckende Debatte in Gang. Die Landwirtschaftsorganisationen wurden ganz verrückt wegen der Veröffentlichungen. Aber sie hatten nichts gegen uns in der Hand. Es war einfach alles richtig, was da geschrieben stand. Einige haben mit beschämenden Methoden versucht, unsere Arbeit zu bekämpfen. Es hieß von Gegnern, dass da nur eine Märchenoma berichtet, die viel Blödsinn erzählt. Astrid Lindgren konnte damit locker umgehen. Auf Beschimpfungen reagierte sie in öffentlichen Briefen. Sie wurde einmal als Nationalheilige betitelt und einmal als „klug wie ein Pferd“. Aber im Endeffekt hatten wir die Argumente auf unserer Seite.

Sie als Fachfrau im Hintergrund hielten ja zuerst Ihre Identität versteckt.
Ich war einfach verunsichert. Bevor ich an Astrid Lindgren geschrieben hatte, versuchte ich schon, das Gespräch mit Menschen zu suchen, die beispielsweise Verbraucher informieren sollten. Aber da war kein Durchkommen. Schweden ist klein, jeder kennt jeden. Teilweise wurde ich ausgelacht, und es wurde behauptet, dass niemand bereit wäre, für Fleisch aus humaner Tierhaltung mehr zu bezahlen. Am Anfang nannte ich mich jedenfalls aus Unsicherheit Lena, aber kurze Zeit später stand ich mit vollem Namen zu dem, was wir schrieben.

Was konnten Sie als Team erreichen?
Unser Glück war, dass auch viele der Bauern auf unserer Seite standen. Sie wollten den Tieren in dieser Zeit, in der alles auf Leistung abzielte, längst wieder ein anständiges Leben bieten und gute Produkte liefern. Sie hatten genug davon, Antibiotika an ganze Bestände zu verabreichen, weil ein Tier krank war. In der Landwirtschaft gab es eine regelrechte Spaltung. Astrid und ich waren im März 1986 sogar beim damaligen Ministerpräsidenten Olof Palme zum Gespräch über Tierschutz eingeladen. Dazu kam es aber nicht, weil er Ende Februar 1986 erschossen wurde.

Aber Ihr Anliegen erreichte höchste politische Kreise …
Auf jeden Fall. Ganz Schweden hat vorübergehend nur noch über Tierhaltung gesprochen. Die Debatte war gewaltig. Aber politisch blieb sie vorerst ohne Konsequenzen, vielleicht auch wegen Palmes Ermordung und dem Reaktorunfall in Tschernobyl. 1986 gab es anderes zu tun. Doch wir ließen nicht locker. Ende 1986 sagte ich zu ­Astrid Lindgren: „Du musst wieder mehr schreiben.“ Das tat sie, und es kam Bewegung in die Sache.

Es entstand das neue Tierschutzgesetz …
Zunächst der Entwurf dazu. Er wurde genau zu Astrid Lindgrens 80. Geburtstag am 14. November 1987 vorgelegt. Die Politiker nannten es damals „Lex Lindgren“. Manche sagten auch spöttisch „das Tantengesetz“.

Aber Sie hatten Ihr Ziel erreicht.
Astrid war nicht stolz auf die Bezeichnung, denn wir wollten nicht nur Weiderecht für Kühe, sondern auch für Jungvieh und Mastbullen. Das ist nur ein Beispiel. Manches verwässert inzwischen, über 30 Jahre danach, und wird so großzügig wie nur möglich ausgelegt: So stehen sich das Weiderecht und das Konzept Laufstall gegnerisch gegenüber, und die Strohpflicht für Schweine wird manchmal mit einer Handvoll Halme abgetan. Aber ja, es hat sich auch viel verbessert. Vor allem berichten Tierärztinnen und Tierärzte sofort, wenn etwas falsch läuft. Sie sind viel mutiger geworden, Missstände aufzuzeigen. Ein wunderbarer Erfolg!