Warum gerade Diabetes?

Dr. Astrid Nagl

Ethische Fragestellungen in der Behandlung der betroffenen Katze

Wird bei einer Katze Diabetes mellitus festgestellt, ist ein gutes Erstgespräch für die Prognose entscheidend. „Das schaffe ich nicht!“, lautet häufig die erste Reaktion von Tierbesitzer*innen, wenn sie von der Diagnose erfahren. „Ich kann meiner Katze keine Spritzen geben! Wir müssen sie einschläfern lassen!“ Als die behandelnden Tierärzt*innen wissen wir, dass die Einstellung auf Insulin mit entsprechendem Diätfutter vielen – doch nicht allen – Katzen ein Weiterleben bei guter Lebensqualität ermöglicht. Wir können im Rahmen der Befundbesprechung versuchen, die Besitzer*innen von einem Therapieversuch zu überzeugen. 

Ein entscheidendes Gespräch

Die Verantwortung, in einem einzigen Gespräch Worte zu finden, die für das weitere Leben dieser Katze entscheidend sein können, setzt uns nicht nur subjektiv unter Druck. Bei der Veterinary Ethics Conference 2023 in Wien präsentierten Prof. Helena Röcklinsberg und Doktorandin Ninni Rothlin-Zachrisson eine noch unpublizierte Studie zu diesem Thema. 
 „Wir arbeiten an einem Projekt, das verschiedene Aspekte zum Thema Diabetes bei Katzen beleuchten soll. In einer Vorstudie fiel uns auf, wie stark ethische Fragestellungen bei den Tierärzt*innen auftauchten, und wir haben beschlossen, dieses Thema zu vertiefen und uns das genauer anzusehen“, sagt Prof. Röcklinsberg. „Wir vertreten in unserem Projekt keine therapeutische Strategie – wir untersuchen, was die Kolleg*innen darüber denken.“ In den Interviews für die Studie berichteten die Tierärzt*innen von Frustration und Traurigkeit sowie dem Gefühl, Fälle „mit nach Hause zu nehmen“ und viel über die Patienten nachzudenken. 
„Warum betrifft das gerade Diabetes mellitus in einem solchen Ausmaß?“, fragte einer der Teilnehmenden bei der Konferenz. Würde zum Beispiel eine Krebsdiagnose nicht schwerwiegendere ethische Fragestellungen aufwerfen? Es müsste doch für uns schlimmer sein, eine solche Diagnose kommunizieren zu müssen, die mit einer oft viel schlechteren Prognose einhergeht

Viel persönlicher Einsatz ist gefragt

Diabetes mellitus ist eine einzigartige Erkrankung, in dem Sinne, dass es behandelbar ist und die Katzen eine gute Prognose haben – aber es verlangt auch großen persönlichen Einsatz von den Besitzer*innen“, erklärt Tierärztin Rothlin-Zachrisson. „Das ist eine Diskrepanz, die bei anderen Erkrankungen nicht in diesem Ausmaß gesehen wird. Schließlich wird von ihnen verlangt, für eine lange Zeit eine tägliche Verpflichtung zu übernehmen.“
Die Besitzer*innen sorgen sich, ob sie es überhaupt schaffen werden, die Behandlung durchzuführen, also Insulin zu injizieren und gegebenenfalls den Glucose­spiegel zu messen. Es wird von ihnen erwartet, morgens und abends verlässlich zu Hause zu sein, um ihrer Katze das Insulin verabreichen zu können – das bedeutet eine Einschränkung ihrer Zeit und Lebensqualität. Auch die aus ihrer Sicht beeinträchtigte Lebensqualität ihrer Katze und die Kosten der Behandlung verursachen Bedenken. 

Eine Gewöhnungsphase ermöglichen

Ob die Erkrankung bei einer Katze gut behandelbar ist, stellt sich meist bald heraus. Doch etwa 15 Prozent der Katzen werden innerhalb der ersten vier Wochen nach der Diagnosestellung euthanasiert“, stellt Tierärztin Rothlin-Zachrisson fest. „Wenn sich die Besitzer*innen aber auf die Therapie einlassen und ihre Katze darauf gut anspricht, merken sie, dass ihre Katze sich deutlich besser fühlt. Beide können sich an die Insulinverabreichung gewöhnen. Auf lange Sicht sind die monatlichen Kosten auf einem Level, das für viele Personen leistbar ist. Nach vier bis sechs Wochen beurteilen die Besitzer*innen die Lage oft ganz anders als am Anfang.“ 
Prof. Röcklinsberg rät: „Es ist wichtig, zu erkennen, ob ein/e Besitzer*in möglicherweise bereit ist, diese Behandlung zu ermöglichen und sie dann auch konsequent durchzuführen. Darum sollten wir versuchen, sie gut aufzuklären und einen Raum zu schaffen, in dem diese Menschen überlegen können: Bin ich bereit, das zu tun? ­Da­rum sind die Kommunikation und das Vertrauensverhältnis zwischen Tierärzt*in und Besitzer*in so wesentlich.“
Wie können wir am besten mit den Reaktionen der Besitzer*innen auf die Diagnose umgehen, die meist von großer Emotionalität geprägt sind? „Leider gibt es keine Strategie, die immer funktioniert“, meint Tierärztin Rothlin-Zachrisson. „Die Persönlichkeit der Besitzer*innen spielt eine große Rolle. Es ist wichtig, darauf individuell einzugehen.“ Die Wahrnehmung von Diabetes mellitus ändert sich auch, wenn die Menschen selbst Erfahrungen mit dieser Erkrankung haben, zum Beispiel im familiären Umfeld oder im Freundeskreis. 

Schritt für Schritt

Ein sanfter Start in die Behandlung ist oft eine gute Strategie. „Bieten Sie den Besitzer*innen einen langsamen Einstieg an. Zum Beispiel können Sie mit der Futter­umstellung beginnen und einen Kontrolltermin nach fünf Tagen vereinbaren“, schlägt Tierärztin Rothlin-Zachrisson vor. Bis dahin werden die Besitzer*innen bemerkt haben, dass sich ihre Katze bereits besser fühlt. Dann sind sie möglicherweise eher dazu bereit, über die Insulinverabreichung nachzudenken. 
„Außerdem empfinden viele Besitzer*innen beim ersten Gespräch einen Informations-Overload. Es ist wichtig, ihnen zuzuhören, ihre Gedanken und Sorgen wahrzunehmen und sie dort abzuholen“, betont Prof. Röcklinsberg. Sie können ihnen schriftliche Informationen zur Verfügung stellen, zum Beispiel einen Handzettel mitgeben und auf Online-Ressourcen aufmerksam machen. Vorsicht auch vor zu viel Optimismus: „Wenn Sie zum Beispiel die Möglichkeit einer Remission zu sehr betonen, kann es für die Besitzer*innen sehr enttäuschend sein, wenn es zu keiner Remission kommt“, warnt Tierärztin Rothlin-Zachrisson.

Behandeln oder nicht behandeln?

Dass es eine behandelbare Erkrankung ist, bringt uns zu einer weiteren ethischen Fragestellung, an die man ­vielleicht nicht im ersten Augenblick denkt“, ergänzt Prof. Röcklinsberg: Sollten wir alles tun, was möglich ist? „Schließlich manipulieren wir die Besitzer*innen im Gespräch und bringen unsere Erwartungen bezüglich ihrer Entscheidung mit ein. Wir sagen ihnen damit auch, welche Entscheidung wir von ihnen erwarten, und setzen dabei voraus, dass unser eigener ethischer Standpunkt der richtige ist – sei es pro oder kontra Behandlung.“
„Müssen wir also Kompromisse eingehen, um die Compliance der Besitzer*innen zu verbessern? In vielen Fällen kann das vor allem in der Anfangsphase hilfreich sein“, meint Tierärztin Rothlin-Zachrisson. „Ein Kompromiss, den Kolleg*innen häufig eingehen, wäre zum Beispiel, nicht jeden Tag den Blutzuckerspiegel zu messen, sondern nur, wenn es der Katze schlecht geht.“
Mit der Zeit verändert sich die Einstellung der Besitzer*innen, wenn es ihrer Katze stabil gut geht. Auch in diese Richtung forscht das Team weiter. „Wir möchten ergründen, wie die Beziehung der Besitzer*innen zu ihren Katzen durch die Diagnose beeinflusst wird. Viele Besitzer*innen berichten, dass sich durch die Behandlung eine noch engere Beziehung zu ihrem Tier entwickelt hat – eine sehr spezielle Symbiose!“

Zum Weiterlesen:

Rothlin‐Zachrisson, N., Öhlund, M., Röcklinsberg, H., Ström Holst, B. (2023): Survival, remission, and quality of life in diabetic cats. Journal of Veterinary Internal Medicine, 37(1), 58-69.
Christiansen, S. B., Kristensen, A. T., Lassen, J., Sandøe, P. (2015): Veterinarians’ role in clients’ decision-making regarding seriously ill companion animal patients. Acta Veterinaria Scandinavica, 58(1), 1-14.