Jungtierverluste

im Hirschgehege

Dr. med. vet. Sara Murer
Leiterin Sektion Hirsche, Beratungs- und Gesundheitsdienst für Kleinwiederkäuer,
Herzogenbuchsee, Schweiz, http://bgk.caprovis.ch

In Hirschgehegen können verschiedene Ursachen und Faktoren eine erhöhte Kälbersterblichkeit begünstigen. Bei der Abklärung der Ursache ist neben einer Diagnosestellung in der Pathologie immer auch ein Betriebsbesuch und die Kontrolle des Herdenmanagements ratsam.

 

Gehegewild in guter, naturnaher Haltung und mit optimaler Fütterung zeichnet sich in der Regel durch eine hohe Setzrate (90–95 % bei adulten, 70 % bei Schmaltieren) aus. Die mittlere Aufzuchtrate liegt erfahrungsgemäß bei ca. 85 %. Unter Umständen können die Jungtierverluste in den ersten sechs Lebensmonaten deutlich höher sein, wie in anderen Nutztierhaltungen auch. Die Gründe für die Verluste in Gehegen unterscheiden sich jedoch wesentlich zu den Abgängen von im Stall gehaltenen Nutztieren. In Hirschgehegen können verschiedene Ursachen, begünstigt durch mehrere Faktoren, zu erhöhter Kälbersterblichkeit führen. Parasiten sind auch eine wichtige Abgangsursache bei jungen Hirschen, betreffen aber meist Tiere, die älter als sechs Monate sind, weshalb sie im Rahmen dieses Artikels nicht besprochen werden.

Neugeborenenverluste

Normalerweise steht das Neugeborene kurze Zeit nach der Geburt und beginnt, das Euter der Mutter zu suchen. Diese leckt das Kalb trocken, was die Muttertier-Jungtier-Bindung fördert. Mit der ersten Milchaufnahme kann das Kalb seine knappen Energiereserven auftanken und lebenswichtige Abwehrstoffe aufnehmen. Je länger die Zeitspanne bis zu dieser Kolostralmilchaufnahme dauert, desto größer ist die Gefahr, dass die Energie­reserven nicht mehr zum Aufstehen und Eutersuchen ausreichen. Schon am zweiten Lebenstag können praktisch keine Abwehrstoffe mehr aus der Milch aufgenommen werden. Ungenügende Kolostrumaufnahme und mangelhafte hygienische Bedingungen bei Überbelegung und in Schlechtwetterperioden bewirken eine erhöhte Anfälligkeit der Kälber für Infektionen mit Umweltkeimen wie z. B. Colibakterien oder Clostridien. Mildere Formen der Colibazillose äußern sich in Durchfall und können nach sofortiger Behandlung unter Umständen abheilen. Meist verlaufen diese Infektionen in den ersten Lebenstagen aber fulminant, die Kälber erscheinen gesund und sind plötzlich tot. Geschwächte Jungtiere stellen zudem eine leichte Beute für Fuchs, Marder und Krähen dar. Dauerregen und Wind, wie sie in der Setzzeit oftmals auftreten, führen dazu, dass die Neugeborenen rasch auskühlen und ihre Energie­reserven komplett aufbrauchen. Bei Hitzewellen können ins kurze Gras gesetzte, an der prallen Sonne verharrende Kälber austrocknen. Je geringer die Geburtsgewichte sind, desto größer ist das Risiko für Neugeborene. Mit einem guten Witterungsschutz (sauberer Unterstand, Schattenbäume, Hecken, hohes Gras, Brennnesselhorste) kann der Hirschhalter viel dazu beitragen, dass die Kälber einen angemessenen Schutz vorfinden. Gute Kondition der Muttertiere während der Spätträchtigkeit und zu Beginn der Laktation ist entscheidend, um zu tiefem Geburtsgewicht und Schwäche durch Milchmangel vorzubeugen. 

Schwergeburten treten vermehrt in Gehegen auf, wo die Muttertiere in der Trächtigkeit zu gut gefüttert worden sind und Fett angesetzt haben. Dies führt zu erhöhten Geburtsgewichten der Kälber. Die Schwergeburt setzt nicht nur den Muttertieren zu, auch die Kälber sind in der Vitalität reduziert und nehmen deshalb möglicherweise zu spät oder gar keine Kolostralmilch auf. 

Overmothering-Syndrom

In Hirschgehegen kommt es hie und da zu Fällen von Überbemutterung. Dabei ist der normale Pflegetrieb der Mutter derart übersteigert, dass das Jungtier durch das Lecken und Knabbern verletzt wird. Betroffene Körperstellen sind häufig der Rücken im Lendenbereich, die Analregion und die Ohrmuscheln. Nicht selten infizieren sich die Leckwunden, was den Pflegetrieb noch mehr fördert und so einen Teufelskreis auslöst. Milde Formen können abheilen und eine lebenslang sichtbare Fellverfärbung hinterlassen. In schweren Fällen wird das Lecken und Knabbern fortgesetzt, durch Haut und Muskulatur, bis die inneren Organe sichtbar werden. Da die Kälber in der Regel erst eingefangen werden können, wenn sie bereits stark geschwächt sind, kommt eine Behandlung meist zu spät. Die Ursachen der Überbemutterung sind noch weitgehend unklar, sie wird als Verhaltensstörung angesehen. Ungenügende Mineralstoffversorgung und Stress aufgrund einer zu hohen Tierdichte im Gehege können in der Entstehung eine Rolle spielen. 

 
Ohrinfektionen

Neben Ohrinfektionen durch Überbemutterung beobachten wir auch Ohrinfektionen aufgrund falsch platzierter oder nicht passender Ohrmarken. Werden die Ohrmarken zu nahe am Ohrgrund gesetzt – dort, wo die Ohrmuschel dicker ist –, findet kaum Luftzirkulation zwischen Marke und Haut statt, was die Entstehung von Infektionen fördert. Durch den Geruch und das schmierig-feuchte Milieu angelockt, legen Fliegen ihre Eier gerne dort ab und begünstigen so eine Myiasis. Es kommt vor, dass das Muttertier die Ohrmarke herausbeißt und der Prozess gestoppt wird. In der Regel ist das Geschehen jedoch nicht mehr aufzuhalten, und ist das Innenohr einmal betroffen, so verendet das Kalb. Bei falsch platzierten Ohrmarken ist oft ein Großteil der Jungtiere einer Herde betroffen. Weil die Jungtiere in den meisten Gehegen nicht eingefangen werden können, kann auch keine Therapie durchgeführt werden (Entfernung der Marke, Desinfektion, allenfalls Antibiose). Die Prophylaxe besteht in der korrekten Anbringung der Ohrmarken mittig am Ohr, zwischen den Knorpelleisten.

Nekrobazillose 

Auch die Nekrobazillose ist eine Faktorenerkrankung. In der Schweiz ist sie bisher nur bei Dam- und Sika-hirschen beobachtet worden. Erreger der Nekrobazillose ist Fusobacterium necrophorum, ein ubiquitärer, fakultativ pathogener Keim. Die Krankheit tritt meist bei Jungtieren im Alter von vier bis zehn Wochen auf. Am häufigsten führt Nekrobazillose zu einem geschwürig veränderten Zungenwulst. Betroffene Tiere nehmen vermehrt Wasser auf, zeigen eine Schwellung am Unterkiefer, magern ab, speicheln und sondern sich von der Herde ab. Eine andere Form der Nekrobazillose manifestiert sich mit Abszessen an inneren Organen, hauptsächlich an Leber und Lunge. Begünstigend für das Auftreten der Erkrankung sind sämtliche Faktoren, welche die Immunität der Jungtiere beeinträchtigen, insbesondere Stress, Überbelegung, Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen (speziell die Vitamine A, E und Selen). Auch Verletzungen im Maul (z. B. durch Disteln, alte, splitternde Holzkrippen, Zahnwechsel etc.) sowie vorbestehende andere Erkrankungen sind Wegbereiter für einen Ausbruch. Die Krankheitsentstehung ist noch nicht restlos geklärt. In einer Herde können einzelne Jungtiere erkranken oder die Krankheit kann einen seuchenhaften Verlauf nehmen, bei welchem mehr als 50 % der Jungtiere sterben. Sobald Anzeichen von Nekrobazillose erkennbar werden, ist die Krankheit bereits so fortgeschritten, dass jede Behandlung zu spät kommt. Offensichtlich erkrankte Jungtiere sind unverzüglich zu erlösen, weil diese massiv Keime ausscheiden. Das Wichtigste ist also die Prophylaxe, die Stärkung der Immunität der Jungtiere (in der nächsten Saison!). Von zentraler Bedeutung ist dabei die optimale Fütterung der Muttertiere gegen Ende der Trächtigkeit und zu Beginn der Laktation sowie eine gute Versorgung der Herde mit Vitaminen und Spurenelementen in loser Form: Pro Muttertier und Tag 30’000 IE Vitamin A, 30 mg Vitamin E und 0,4 mg Selen (mindestens von Mai bis August). Ein Teil des Selens soll in der Mineralstoffmischung in organischer Form vorliegen, weil nur dieses über die Muttermilch ausgeschieden und dem Neugeborenen zur Verfügung steht. 

Bei der Abklärung der Ursache von Jungtierverlusten ist neben einer Diagnosestellung in der Pathologie immer auch ein Betriebsbesuch und die Kontrolle des Herdenmanagements indiziert. Das Augenmerk ist dabei auf Bestandsdichte, Hygiene, optimale Fütterung, gute Gehegestruktur (natürlicher Witterungsschutz!) und regelmäßige Kontrolle während der Setzzeit zu legen.