Gehegewild in guter, naturnaher Haltung und mit optimaler Fütterung zeichnet sich in der Regel durch eine hohe Setzrate (90–95 % bei adulten, 70 % bei Schmaltieren) aus. Die mittlere Aufzuchtrate liegt erfahrungsgemäß bei ca. 85 %. Unter Umständen können die Jungtierverluste in den ersten sechs Lebensmonaten deutlich höher sein, wie in anderen Nutztierhaltungen auch. Die Gründe für die Verluste in Gehegen unterscheiden sich jedoch wesentlich zu den Abgängen von im Stall gehaltenen Nutztieren. In Hirschgehegen können verschiedene Ursachen, begünstigt durch mehrere Faktoren, zu erhöhter Kälbersterblichkeit führen. Parasiten sind auch eine wichtige Abgangsursache bei jungen Hirschen, betreffen aber meist Tiere, die älter als sechs Monate sind, weshalb sie im Rahmen dieses Artikels nicht besprochen werden.
Neugeborenenverluste
Normalerweise steht das Neugeborene kurze Zeit nach der Geburt und beginnt, das Euter der Mutter zu suchen. Diese leckt das Kalb trocken, was die Muttertier-Jungtier-Bindung fördert. Mit der ersten Milchaufnahme kann das Kalb seine knappen Energiereserven auftanken und lebenswichtige Abwehrstoffe aufnehmen. Je länger die Zeitspanne bis zu dieser Kolostralmilchaufnahme dauert, desto größer ist die Gefahr, dass die Energiereserven nicht mehr zum Aufstehen und Eutersuchen ausreichen. Schon am zweiten Lebenstag können praktisch keine Abwehrstoffe mehr aus der Milch aufgenommen werden. Ungenügende Kolostrumaufnahme und mangelhafte hygienische Bedingungen bei Überbelegung und in Schlechtwetterperioden bewirken eine erhöhte Anfälligkeit der Kälber für Infektionen mit Umweltkeimen wie z. B. Colibakterien oder Clostridien. Mildere Formen der Colibazillose äußern sich in Durchfall und können nach sofortiger Behandlung unter Umständen abheilen. Meist verlaufen diese Infektionen in den ersten Lebenstagen aber fulminant, die Kälber erscheinen gesund und sind plötzlich tot. Geschwächte Jungtiere stellen zudem eine leichte Beute für Fuchs, Marder und Krähen dar. Dauerregen und Wind, wie sie in der Setzzeit oftmals auftreten, führen dazu, dass die Neugeborenen rasch auskühlen und ihre Energiereserven komplett aufbrauchen. Bei Hitzewellen können ins kurze Gras gesetzte, an der prallen Sonne verharrende Kälber austrocknen. Je geringer die Geburtsgewichte sind, desto größer ist das Risiko für Neugeborene. Mit einem guten Witterungsschutz (sauberer Unterstand, Schattenbäume, Hecken, hohes Gras, Brennnesselhorste) kann der Hirschhalter viel dazu beitragen, dass die Kälber einen angemessenen Schutz vorfinden. Gute Kondition der Muttertiere während der Spätträchtigkeit und zu Beginn der Laktation ist entscheidend, um zu tiefem Geburtsgewicht und Schwäche durch Milchmangel vorzubeugen.
Schwergeburten treten vermehrt in Gehegen auf, wo die Muttertiere in der Trächtigkeit zu gut gefüttert worden sind und Fett angesetzt haben. Dies führt zu erhöhten Geburtsgewichten der Kälber. Die Schwergeburt setzt nicht nur den Muttertieren zu, auch die Kälber sind in der Vitalität reduziert und nehmen deshalb möglicherweise zu spät oder gar keine Kolostralmilch auf.
Overmothering-Syndrom
In Hirschgehegen kommt es hie und da zu Fällen von Überbemutterung. Dabei ist der normale Pflegetrieb der Mutter derart übersteigert, dass das Jungtier durch das Lecken und Knabbern verletzt wird. Betroffene Körperstellen sind häufig der Rücken im Lendenbereich, die Analregion und die Ohrmuscheln. Nicht selten infizieren sich die Leckwunden, was den Pflegetrieb noch mehr fördert und so einen Teufelskreis auslöst. Milde Formen können abheilen und eine lebenslang sichtbare Fellverfärbung hinterlassen. In schweren Fällen wird das Lecken und Knabbern fortgesetzt, durch Haut und Muskulatur, bis die inneren Organe sichtbar werden. Da die Kälber in der Regel erst eingefangen werden können, wenn sie bereits stark geschwächt sind, kommt eine Behandlung meist zu spät. Die Ursachen der Überbemutterung sind noch weitgehend unklar, sie wird als Verhaltensstörung angesehen. Ungenügende Mineralstoffversorgung und Stress aufgrund einer zu hohen Tierdichte im Gehege können in der Entstehung eine Rolle spielen.