Tierärztin Tanja Warter
Ausgabe 04/2020
Aber was für einen! Graupapagei Alex revolutionierte die Wissenschaft mit seinem Können. Von ihm profitiert die gesamte Sprach- und Kognitionsforschung bis heute.
„Wie schön wäre es, wenn die Tiere Ihnen sagen könnten, was ihnen wehtut!“ Fast täglich bekommt man in der tierärztlichen Praxis diesen Satz zu hören. Der Traum davon, mit Tieren sprechen zu können, ist uralt. Irene Pepperberg, Professorin an der Universität Harvard (USA), träumte diesen Traum ebenfalls – und erfüllte ihn sich mit ihrem berühmt gewordenen Vogel Alex.
Als junge Harvard-Absolventin kauften Sie sich 1977 den Graupapagei Alex in einer Zoohandlung in Chicago. Was hatten Sie damals im Sinn?
Damals faszinierten mich die geistigen Fähigkeiten von Schimpansen und Delfinen, aber mir war klar, dass die Kommunikation mit diesen Tieren niemals auf ein Level kommen würde, das ich mir wünsche. Ich wollte definitiv mit einem Tier arbeiten, dass tatsächlich mit mir sprechen kann und dabei auch weiß, was es sagt. Dass Papageien sprechen lernen können, war bekannt – also wollte ich es mit einem Papagei ausprobieren. Ich dachte mir damals: Einen Versuch ist es wert, schlimmstenfalls klappt es eben nicht! Das war der Impetus. Ich muss aber zugeben, dass mich meine Unikollegen anfangs fragten, was ich geraucht habe …
30 Jahre lang war Alex gewissermaßen Ihr Arbeitskollege. Er beherrschte bald rund 100 Wörter, die er für die Kommunikation mit Ihnen einsetzte. Warum hat dieser Vogel die Wissenschaft so gravierend verändert?
Als ich anfing, mit Alex zu arbeiten, war die allgemeine Überzeugung, dass Tiere nicht denken können, sondern reine Reiz-Reaktions-Maschinen sind. Nur den Affen traute man zu, etwas cleverer zu sein. Ich dachte mir, wenn sich Papageien unter demselben evolutionären Druck entwickelt haben wie Affen, weil sie ebenfalls langlebig sind und in einem komplexen ökologischen und sozialen Umfeld leben, müssen sie mehr können. Meine Resultate aus dem Verhaltensbereich brachten die Neurowissenschaftler erst auf Trab. Seit 2005 wissen wir nun, dass Vögel tatsächlich große Gehirnareale haben, die wie die Großhirnrinde funktionieren und dem Denken dienen. Alex hat mit seinem Können einen Grundstein dafür gelegt.
Mit seinem Marshmallow-Test erforschte Walter Mischel Anfang der 1970er-Jahre die Selbstkontrolle von Kindern: Vor ihnen stand eine Süßigkeit, doch wer sich mehrere Minuten lang allein in einem Raum nicht darüber hermachte, bekam später zwei Leckereien. Das haben Sie auch mit Ihren Graupapageien gemacht.
Ja, dieser Test der Impulskontrolle und des Belohnungsaufschubs ist wichtig, um kognitive Leistungen abzufragen. Kinder schaffen ihn ab etwa vier Jahren. Wir waren verblüfft, wie ähnlich die Reaktionen der Papageien vor einer Traube jenen der Kinder vor dem Marshmallow waren: Sie drehten sich auf der Stange um, um nicht hinsehen zu müssen, wie die Kinder auf ihren Sesseln; sie zupften an ihrem Federkleid – wie die Kinder an ihrer Kleidung –, um sich abzulenken. Manchmal schleckten sie auch kurz an der ihnen vorgesetzten Nascherei – genauso wie die Vierjährigen.
Aber schlussendlich konnten sich auch die Papageien zurückhalten, um später mehr zu bekommen?
Sie konnten warten – allerdings nicht, um später mehr von einer Leckerei zu bekommen. Die Menge war ihnen egal, sie warteten nur, wenn es als verspätete Belohnung etwas gab, was sie lieber mochten; wenn auf die Traube zum Beispiel eine Nuss folgte. Wegen einer zweiten Traube machten sie sich die Mühe nicht.
Welche Erklärung haben Sie dafür?
Wir wissen es nicht und können nur spekulieren. Es könnte an den Lebensumständen in der Natur liegen: Weiß ein Papagei, dass es in zwei Kilometern Entfernung ein geliebtes, reifes Obst gibt, wird er nicht die in Mengen vorhandenen langweiligen Beeren vor seinem Schnabel fressen. Es gibt starke Präferenzen.
Und warum ist Ihrer Ansicht nach die Klugheit eines Graupapageis sogar mit der eines fünfjährigen Kindes vergleichbar?
Weil wir abseits der Versuche mit der Impulskontrolle zig andere Fähigkeiten getestet haben. Zeigte ich Alex einen grünen Schlüssel und einen grünen Würfel, antwortete er auf Englisch auf die Frage, was gleich sei, „colour“ (Farbe, Anm.) – nach dem Unterschied befragt, sagte er „shape“ (Form, Anm.). All diese Tests brachten uns zu dem Ergebnis, dass die Hirnleistung von Papageien mit der eines Fünfjährigen vergleichbar ist.
Alex plapperte also nicht einfach etwas nach, sondern antwortete Ihnen tatsächlich. Wann hat er Sie am meisten verblüfft?
Da gibt es viele Momente. Einmal wollte er eine Nuss, aber ich hatte keine in der Nähe, also gab ich ihm eine Traube. Die schmiss er wütend weg und sagte mit Nachdruck in Englisch: „Want a nut!“ Und dann: „N – U – T“. Ich konnte es kaum fassen – Buchstabieren hatten wir niemals mit ihm geübt. Spannend war auch, wie er andere Papageien bei ihren Aufgaben belehrte: „Sprich deutlich! „Sag es genauer!“ – so kommentierte er aus dem Hintergrund, wenn wir mit seinem Artgenossen Griffin arbeiteten.
Alex starb 2007. War er unter den Papageien eine Ausnahmeerscheinung?
Alex war 15 Jahre lang ein Einzelvogel. Er hatte eine kleine Gruppe von Menschen, die zwölf Stunden am Tag mit ihm gearbeitet haben. Wenn er gegessen hat und es war eine Traube, dann haben wir ihm gesagt: „Eine Traube! Du isst eine Traube! Eine grüne Traube!“ Wie man mit einem Kleinkind spricht. Unsere anderen Papageien hatten das nicht. Es könnte sein, dass es unterschiedliche IQs bei den Vögeln gibt, aber wir wissen das nicht. Vielleicht finden meine Studenten noch heraus, dass die Papageien sogar mit sieben oder acht Jahre alten Kindern zu vergleichen sind. Möglich wäre das.
Irene Pepperberg, geboren 1949, ist eine US-amerikanische Professorin an der Universität Harvard, früher war sie auch am MIT. Ihre Erkenntnisse über die Gehirnleistungen von Graupapageien revolutionierten die Wissenschaft. 2009 erschien ihr Buch „Alex und ich. Die einzigartige Freundschaft zwischen einer Harvard-Forscherin und dem schlausten Vogel der Welt“. Alex, der Name des Papageis, steht für „Avian Learning Experiment“ (vogelbezogenes Lernexperiment).