Tierärztin Tanja Warter
Ausgabe 11/2019
Wer denkt, dass Singvögel ihre Lieder in die Wiege gelegt bekommen, irrt: Sie müssen das Singen lernen – genauso wie Menschen die Sprache.
Früh übt sich, wer ein Meister werden will – dieses altbewährte Sprichwort gilt auch unter Singvögeln: Vogelmütter beginnen bereits vor dem Schlüpfen ihres Nachwuchses damit, die Kleinen musikalisch zu schulen. Ein Gespräch über Vogelsprache mit Sonia Kleindorfer, Leiterin der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle im österreichischen Grünau im Almtal.
Frau Kleindorfer, kann ein Vogelmännchen, das mit seinem Gesang Weibchen erobern oder sein Revier verteidigen will, wirklich nicht von Natur aus singen?
Man könnte versucht sein, zu denken, Gesänge seien genetisch veranlagt, denn jede Singvogelart trällert ja ihren arteigenen Gesang. Aber dieser ist, wie wir heute wissen, nicht vererbt, sondern erlernt: So, wie wir Menschen unsere Muttersprache lernen, erlernt auch jede Singvogelgeneration ihren Gesang aufs Neue. Die Konsequenzen sind vielfältig, zum Beispiel entstehen dadurch die schon länger bekannten Dialekte der Singvögel. Eine Blaumeise in Vorarlberg klingt anders als eine in Wien. Was vererbt ist, ist die Fähigkeit, zu singen, nicht aber der Gesang selbst.
Wie sind Sie darauf gekommen, dass dem so sein könnte?
Vor etwa fünf Jahren stellte sich heraus, dass die Information in allen Lehrbüchern, nur Vogelmännchen würden singen, gar nicht stimmt. Bei 71 Prozent aller Arten singen auch die Weibchen, und zwar genauso komplex wie die Männchen. Da fragt man sich natürlich, wozu das gut sein soll.
Und, wozu ist es gut?
Die Weibchen sind Lehrmeisterinnen. Sie singen schon vor dem Schlüpfen zu den Eiern. Das haben wir mit Mikrofonen aufgezeichnet. Nach dem Schlüpfen stellte sich heraus, dass die Küken in jedem Nest einen anderen Bettellaut von sich gaben. In einem Nest war es, vereinfacht gesagt, „bababa“, in einem anderen Nest „bububu“ und in einem dritten Nest „bibibi“. Das war merkwürdig.
Konnten Sie das Rätsel lösen?
Wir haben uns die Gesänge der Weibchen zu den Eiern genauer angeschaut. Sie bestanden aus zwei Elementen: A-a-a und einem zweiten Laut, den wir B-Laut nennen und der bei jeder Mutter anders klingt. Singt sie vor dem Ei „bububu“, plappert der Nestling das später nach und bettelt „bububu“. Bettelte er aber „bibibi“, dann war der B-Laut der Mutter auch „bibibi“. Wir haben zum Beweis die Eier zu Beginn der Brutzeit ausgetauscht. Es kam heraus, dass die Nestlinge dann den Ruf ihrer Ziehmutter riefen und nicht den ihrer genetischen Mutter. Also lernen schon Embryos im Ei Vokalisation.
Aber was bringt das den Vögeln?
Sehr viel. Es stellte sich heraus, dass Jungvögel mehr Neuronen im Gehirn und eine andere Gehirnstruktur haben, wenn sie den Lauten der Mutter zuhören konnten. Daraus folgte in ihrem weiteren Leben, dass sie neugieriger waren und mehr ausprobierten. Sie nahmen auch mehr neue Elemente in ihre Gesänge auf, und Männchen waren dadurch attraktiver für die Weibchen. Im Endeffekt hatten sie mehr Paarungserfolg.
Haben also gesprächigere Vogelmütter die klügeren Kinder?
Noch wissen wir nicht, ob die erhöhte Zahl von Neuronen in der Hörregion des embryonalen Gehirns eine -bessere kognitive Problemlösungskompetenz zur Folge hat. Was wir aber wissen, ist, dass der Gesang der Mutter ein Geräusch darstellt und damit auch für andere Arten hörbar ist – für Fressfeinde beispielsweise. Eine Vielrednerin bringt sich und ihren Nachwuchs mit hoher Wahrscheinlichkeit um, weil der Räuberdruck so hoch wird. Sie muss den Mittelweg finden – und das könnte einen Selektionsdruck in Richtung einer erhöhten kognitiven Leistung der Mutter darstellen. Es ist in der Evolution eben nicht so, dass man immer mehr Vorteile bekommt, wenn man immer mehr von einer positiven Sache macht; diese muss immer an die ökologischen und sozialen Bedingungen angepasst sein.
Sind dann im Gegensatz jene Vogelkinder, die isoliert aufwachsen, stumm?
Nein, aber ihre Gehirne sind asymmetrisch und kleiner. Wenn man sich vorstellt, wie viele Zoos und wie viele Artenschutzprogramme die Eier zwar bei optimaler Temperatur, aber ohne Geräusche bebrüten, kann man sich inzwischen vorstellen, dass man damit nicht die gescheitesten Vögel für die freie Wildbahn und den Erhalt einer Population bekommt.
Das gibt zu denken. Weiß man, ob das auch für Hühner gilt? Deren Eier werden ja meist in Apparaten ausgebrütet …
Hühner gehören nicht zu den Singvögeln und müssen ihre Sprache nicht lernen. Sehr viele Tiere können von Natur aus Laute von sich geben, wie wir Menschen auch, aber nur ganz wenige müssen dann – wie wir Menschen – eine Sprache lernen, um sich umfassend zu verständigen. Wenn ein Mensch isoliert im Wald aufwächst, kann er Laute von sich geben, aber nicht reden. Genauso ist es bei den Singvögeln, bei Walen, Robben, Fledermäusen oder Papageien, sie sind Vocal-Learners – aber so ist es nicht bei Hühnern oder Gänsen. Die lernen keine zusätzliche Sprache, sind also Vocal-Non-Learners.
Warum haben Sie diese Forschungsarbeit eigentlich in Australien gemacht?
Australien ist das Ursprungsland aller Singvögel dieser Welt. Nach dem Aussterben der Dinosaurier haben sie sich über den ganzen Planeten ausgebreitet. Vor den Singvögeln gab es noch gar keinen Gesang. Sie waren es, die das Singen vor 50 bis 60 Millionen Jahren in die Welt brachten. Ich wollte dort forschen, woher die Singvögel evolutionär betrachtet stammen. Dass wir Menschen so wie die Singvögel unsere Sprache lernen müssen, verbindet uns bis heute mit ihnen.