Der Supervet

Das Multitalent Noel ­Fitzpatrick im Porträt

Tierärztin Tanja Warter

Ein Tierarzt ist der Liebling der Massen in Großbritannien. Noel Fitzpatrick hat nicht nur eine Überweisungsklinik südwestlich von London, sondern auch eine Fernseh- und neuerdings eine Bühnenshow. 

 

Ob in der inneren Medizin oder der Chirurgie, der Neurologie, der Kardiologie oder der Onkologie – in den meisten Disziplinen arbeitet die Tiermedizin längst auf human­medizinischem Niveau. Nach Ansicht der renommierten Medizinischen Kleintierklinik der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München gab es in Deutschland auf dem Gebiet der Physiotherapie wie auch der Rehabilitationsmedizin praktischen wie auch wissenschaftlichen Aufholbedarf. Mit der auch stetig wachsenden Nachfrage hat man sich nun entschlossen, die physikalische Therapie auf professionellere Füße zu stellen: Die LMU München eröffnete im Jänner 2019, unterstützt von Vetoquinol und in enger Zusammenarbeit mit der benachbarten Chirurgischen und Gynäkologischen Kleintierklinik der LMU, das erste interdisziplinäre Zentrum für Tiermobilität für Hunde und Katzen in Deutschland. 

Das Besondere an dem ambitionierten Vorhaben, das neben einem neuen klinischen Angebot auch Forschung und Lehre umfasst, ist sein integrierter, ganzheitlicher Ansatz. Denn außer Verletzungen und Gelenkserkrankungen, die für Laien wohl die bekanntesten Tätigkeitsfelder der Physiotherapie sind, können sich auch neurologische und internistische Erkrankungen oder einfach das Alter negativ auf Mobilität und Fitness von Hunden und Katzen auswirken und ihre Lebensqualität empfindlich beeinträchtigen. „Die Potenziale der physikalischen Therapie für die Patienten lassen sich dort am wirkungsvollsten entfalten, wo sie interdisziplinär eingebunden ist“, bestätigt Prof. Dr. Katrin Hartmann, Vorstand der Medizinischen Kleintierklinik. Die Voraussetzungen dafür hat man an der LMU geschaffen: Erfahrene klinische Spezialisten und Wissenschaftler der Fachbereiche Neurologie, Rehabilitationsmedizin, Onkologie, Kardiologie, Orthopädie, innere Medizin, Dermatologie, Gesundheitsvorsorge und Ernährung arbeiten hier in engem Austausch miteinander und können dabei auf eine hochmoderne technische Ausstattung zugreifen. Gleichzeitig macht die langjährige Expertise im Bereich der Gelenkgesundheit und Schmerztherapie Vetoquinol zu einem guten Partner für das neue Tiermobilitätszentrum. Das Unternehmen setzt ebenfalls auf einen multimodalen Therapieansatz und unterstützt das Projekt.

Das Zentrum für Tiermobilität soll Hunden und Katzen, die an Schmerzen, Muskelverspannungen und -abbau sowie Lähmungen leiden, eine weitere Therapieoption bieten. Gleichzeitig soll es dazu beitragen, Wissenslücken zu schließen und die tiermedizinische Physiotherapie auf eine umfassende wissenschaftliche Grundlage zu stellen. „Mit dem Zentrum haben wir die Möglichkeit geschaffen, über die Fachbereiche hinweg evidenzbasiert die wirkungsvollsten Behandlungsmethoden zu identifizieren und Qualitätsstandards zu schaffen, die den Tierbesitzern

Orientierung bieten“, erläutert Prof. Dr. Susanne Lauer, Spezialistin für Sportmedizin und Rehabilitation an der Gynäkologischen und Chirurgischen Kleintierklinik. Lauer arbeitet eng mit der Neurologiespezialistin und Leiterin des Fachbereichs Neurologie an der Medizinischen Kleintierklinik, Prof. Dr. Andrea Fischer, zusammen, die das Zentrum für Tiermobilität maßgeblich mit auf den Weg gebracht hat. Gemeinsam mit Dr. Barbara Esteve, akademischer Expertin für veterinärmedizinische physikalische Medizin und Rehabilitation, bilden Fischer und Lauer das tierärztliche Kernteam des Zentrums. 

Von der neuen Einrichtung profitieren neurologische, orthopädische, kardiologische, geriatrische, adipöse sowie Tumor- und Intensivpatienten und akute oder chronische Schmerzpatienten, aber auch der Sport- und Arbeitshund. Ein besonderes Augenmerk gilt alten Tieren. „Rund 65 Prozent der Hunde, die in den letzten fünf Jahren in der Medizinischen Kleintierklinik behandelt wurden, waren älter als acht Jahre“, weiß Dr. Barbara Esteve. Aber auch junge Tiere sind eine wichtige Zielgruppe: „Bei Welpen und Junghunden mit neurologischen Bewegungsstörungen kann eine intensive physikalische Therapie Spätfolgen entscheidend minimieren“, erklärt Prof. Andrea Fischer. Die professionelle Physiotherapie dient aber nicht nur der Rehabilitation und Heilung, sondern auch der Erhaltung der Gesundheit. „Der Prophylaxe, also den vorbeugenden Maßnahmen, wird oft zu wenig Beachtung geschenkt“, so Prof. Dr. Katrin Hartmann.

 

Kurz vor 19 Uhr. In der schottischen Hauptstadt Edinburgh hat sich vor dem Playhouse, einem historischen Theater, eine Menschenschlange gebildet. Frauen sind signifikant in der Überzahl. Auf ihren Smartphones zeigen sie sich gegenseitig Fotos von Hunden und Katzen. Über dem Playhouse prangt in leuchtenden roten Buchstaben: The Supervet! Tonight!

Ein Tierarzt, der eine Bühnenshow liefert? In einem ­Theater, das 3.000 Zuschauer fasst? Das ist selbst im viecher­narrischen Großbritannien neu. Der Mann, der etwa eine Stunde später auf die Bühne tritt – Slimfit-­Jeans, dunkle Locken, grau melierter Dreitagesbart – heißt Noel Fitzpatrick. Er bringt Tierfreunde in ganz Großbritannien zum Schwärmen und lässt die Anmeldezahlen an den Vet-Schools explodieren. Die Fans empfangen ihn mit stürmischem Applaus. 

„Welcome to my world“ – so der Titel des Programms. Diese Welt ist die der meisten Tierärzte: Menschen kommen mit schwer kranken Tieren in die Praxis oder Klinik, sie sind verzweifelt, aber oft voller Hoffnung, dass ihrem geliebten Vierbeiner geholfen werden kann. Je spezialisierter das Fachgebiet, desto größer die dramaturgische Fallhöhe zwischen unendlicher Freude und tiefer Traurigkeit, zwischen Leben und Sterben. Auf diesem Drahtseil balanciert auch Fitzpatrick. Sein Fach ist die orthopädische Chirurgie, seine Leidenschaft die Erfindung von Implantaten und Prothesen, und sein Talent ist es, diese beiden Themen vor der Kamera und auf der Bühne eindrucksvoll zu präsentieren. Über die Großleinwand im ­Playhouse fliegen computeranimierte Platten und Schrauben in 3-D. Wie von Geisterhand fügen sich Splitter ineinander, werden Knochen ganz. Aufschlussreich einerseits, optisch ansprechend andererseits.   

Auch Oscar kommt in der Bühnenshow vor. Er ist die zentrale Figur am Beginn von Fitzpatricks Karriere. Dem schwarzen Kater Oscar, zweieinhalb Jahre alt und wohnhaft auf der Kanalinsel Jersey, waren beide Hinterpfoten von einer Mähmaschine abgetrennt worden. Ein Szenario, das auch österreichische Tierärzte leider nur zu gut kennen. Oscars Besitzer waren schon darauf vorbereitet, ihren Liebling euthanasieren zu lassen, als Fitzpatrick ihnen eine Idee unterbreitete: Man könnte es doch mit zwei eigens angefertigten Prothesen versuchen, die in den Knochen eingearbeitet werden! 

Der Tierarzt hatte sich zeitlebens gefragt, warum Prothesen nicht direkt mit dem Körper verbunden sein könnten. Seit er in seiner Kindheit den Stumpf und das abschnall­bare Bein seines Onkels gesehen hatte, so berichtet er auf der Bühne, habe er immer wieder darüber nachgedacht, warum man diese Prothese nicht auf einem fest im Knochen verankerten Implantat befestigen könne. Oscar schien ihm der ideale Kandidat zu sein, diese neue ­Methode auszuprobieren. Dessen Besitzer willigten ein. 

Am University College in London ließ Fitzpatrick schon vorher nach seinen Vorstellungen Implantate und Prothesen bauen. Die Kunst lag darin, die Oberfläche des aus dem Knochen herausragenden Implantats so zu gestalten, dass Haut darüber wachsen und die Austrittsstelle abdichten und schützen konnte – ähnlich dem Übergang vom Zahnfleisch zum Zahn. Das schafften die Konstrukteure.

 
Personalisierte Prothese

Nun konnte rasch für Oscar ein personalisiertes Modell angefertigt werden. Die OP wurde ein voller Erfolg und Oscar bald wieder ganz mobil. Es war die Geburtsstunde der ITAPs, der Intraosseus Transcutaneous Amputation Prothetics, in der Veterinärmedizin. In Kombination mit der Exoprothese nannte Fitzpatrick das System PerFits (Percutaneous Fixation To Skeleton). Eigenen Angaben zufolge ist er der einzige Tierarzt weltweit, der dieses -System anbietet.   

Das ist neun Jahre her. Oscars Besitzer sagen, ihr Kater lebe ein ganz normales Katzenleben, er würde rennen und springen. Zweimal musste in der Zwischenzeit nach-behandelt werden: einmal wegen einer Infektion und einmal, weil ein Teil der Prothese gebrochen war. Beides hat der Kater gut verkraftet. Oscar steht im Guinnessbuch der Rekorde – als erstes Tier mit zwei Fußprothesen. Die BBC drehte damals eine Dokumentation, „The bionic vet“.

Diese Geschichte ging den Zusehern zu Herzen, und Fitzpatrick wendete die Methode immer öfter erfolgreich an, wenn Amputationen von Gliedmaßen unvermeidbar waren. Das brachte den Fernsehsender Channel 4 auf den Plan – eine Dokuserie gewährt bis heute faszinierende Einblicke in die Arbeit in der Klinik in Eashing, südwestlich von London. Es geht um Therapien bei Knochen-tumoren, um schwere Unfälle, um beeindruckende Formen von Implantaten und Prothesen, es geht um medizinische Ideenfindung und das Beschreiten neuer Wege. 

Vor allem aber geht es um Emotionen. In diesem Fach brilliert Fitzpatrick. Er spricht Patientenbesitzern Mut zu, wenn sie verzweifelt sind. Er holt sie auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn sie sich falschen Hoffnungen hingeben, er tröstet sie, wenn es keinen Ausweg mehr gibt. Er lacht und er weint mit ihnen. Er ringt mit sich selbst, wenn er unsicher ist. Er ist traurig und verärgert, wenn er ein Leben nicht retten kann. Alles passiert vor laufenden Kameras. 80 Folgen wurden bereits ausgestrahlt. Der Sender taufte die Sendung „The Supervet“. 

Die Klinik, das „Field of Dreams“, wie Fitzpatrick sie nennt, wächst und wächst. Über 100 Mitarbeiter sind mittlerweile bei „Fitzpatrick Referrals“ unter Vertrag, neben Orthopädie und Neurologie gibt es seit Kurzem auch eine eigene Klinik für Onkologie und Weichteilchirurgie.     

Auf der Bühne in Edinburgh zeigt der Startierarzt auch allerlei Privates. Aufgewachsen auf einem Betrieb mit vielen Schafen in -Irland, wusste der kleine Noel angeblich schon früh, dass aus ihm einmal ein Tierarzt werden würde. Das einschneidende Erlebnis: Der Bub musste als Zehnjähriger während der Lammzeit Nachtwache auf der Weide schieben und aufpassen, dass mit den Geburten alles klappte. Einem Lamm konnte der kleine Noel mit seinen kindlichen Mitteln nicht helfen. Der Augenblick, als es starb, sei die Schlüsselsekunde gewesen, erzählt Fitzpatrick oft und gern. Von diesem Tag an wollte er Tierarzt werden. 

Was ihn neben seinem medizinischen Einsatz bei den Menschen so beliebt macht, ist wohl sein Einsatz für die Schwächsten der Gesellschaft. In der Schule sei er schlecht gewesen, Legastheniker mit echten Problemen beim Lesen und Schreiben und ein Mobbingopfer. Begegnet er einem Kind, das gesellschaftlich im Abseits steht und ein Tier zu seinem besten Freund auserkoren hat, wird aus der abendlichen Fernsehdoku großes Gefühlskino. 

Eitelkeit? Ja. Ein Showmensch? Gewiss. Fitzpatrick hat aber auch ein anderes Argument für seine Präsenz in der Öffentlichkeit parat: „Von den etwa 70 wissenschaftlichen Publikationen, die ich veröffentlicht habe, hatte nichts einen so starken Einfluss auf die Zukunft der Medizin wie die Fernsehserie“, erzählt er bei seiner Show im Playhouse Edinburgh. 

Fernsehen pushte medizinischen Fortschritt

Dass Techniken und von ihm entwickelte Implantate inzwischen auch in der Humanmedizin zum Einsatz kommen, wäre seiner Meinung nach ohne die TV-Sendung niemals möglich gewesen. An die Zukunft von einer einzigen Medizin, bei der Tiere nicht für Versuchszwecke herhalten müssen, sondern bei der alle Lebewesen von Fortschritten profitieren können, glaubt er fest. Darum hat er den „Humanimal Trust“ gegründet, eine Stiftung für Forschungen, die Menschen und Tieren gleicher-maßen dienen. 

Der schwarze Kater Oscar war für ihn der erste Beweis, dass dieser Weg möglich ist. Schon seit mehreren Jahren tragen mindestens 20 beinamputierte Menschen in Großbritannien als Teilnehmer einer Studie Prothesen, die nach demselben Prinzip implantiert wurden. Einer von ihnen sagte in einem Interview mit dem renommierten Guardian: „Es ist, als hätte man mir mein Bein zurückgegeben.“

Die Ideen gehen Fitzpatrick lange nicht aus. Sein jüngster Wurf ist ein zylinderförmiges Implantat mit Wabenstruktur auf der Oberfläche, das ganze Knochenabschnitte ersetzt, die wegen eines Osteosarkoms entfernt werden müssen. Superman war früher – heute ist Supervet. 

Mehr Infos unter: 

www.fitzpatrickreferrals.co.uk 
www.noelfitzpatrick.vet