Das Hotel

Mensch

Tierärztin Tanja Warter

So wie jedes Tier hat auch jeder Mensch ­Untermieter, ob er will oder nicht. Das Mikrobiom unseres Darms beherbergt die meisten. Der Einfluss dieser Bakterien auf uns und unsere psychische Verfassung ist immens. Ein inter­disziplinärer Ausflug.

Eine Kugel Eis kann das Taxi sein, auch ein zu kurz gegrilltes Stück Geflügelfleisch oder eine Speise mit rohen Eiern: Wenn Salmonellen in das Hotel Mensch einziehen, ist die Hölle los. Sie bringen alle Vorgänge im Darm vollkommen aus dem Lot, bohren sich in die Darmschleimhaut und sorgen für massive Entzündungen. Die dramatischen Folgen sind Bauchschmerzen, Erbrechen, Durchfall und Fieber. Aber längst nicht alle Bakterien im Körper verhalten sich so brutal. Mit vielen Arten leben wir in einer friedlichen Gemeinschaft. Was wir bisher nicht wussten: Sie steuern unser Verhalten auf sehr subtile Weise mit. 

Ein überraschendes Jobangebot flattert ins Haus. Die Aufgabe ist reizvoll, das Unternehmen hat einen exzellenten Ruf, das Geld stimmt. Eigentlich wäre alles perfekt. Die Sache hat nur einen Haken. Der neue Arbeitsplatz ist weit weg. Familie, Freunde, das ganze Leben spielt sich aber hier ab. Das Abwägen beginnt, Plus-Minus-Listen werden erstellt und jeder Aspekt unter die Lupe genommen. Da fragt plötzlich eine Bekannte ganz banal: Was sagt denn der Bauch dazu? 

Der hat tatsächlich einiges mitzureden. Von allerlei Alltagssituationen kennen wir das: Wer Sorgen hat, bekommt Bauchweh, schlechte Nachrichten wollen verdaut werden, Stress und Kummer schlagen auf den Magen, Aufregung auch. Psychosomatische Vorgänge sind lang schon bekannt. Was aber, wenn es auch umgekehrt geht? Wenn der Bauch unsere Psyche beeinflusst? Wenn er sagt: ­Finger weg vom neuen Job! „Beide Organe, Gehirn und Magen-Darm-Trakt, sind eng miteinander verknüpft. Und zwar in beide Richtungen“, erklärt Peter Holzer, Professor für Neurogastroenterologie und Leiter des Instituts für Experimentelle und Klinische Pharmakologie an der Medizinischen Universität Graz. Er untersuchte die Verbindungswege genauer, nahm jene Nervenbahnen und Hormone ins Visier, die zwischen Gehirn und Darm aktiv sind. Dabei stießen seine Forscherkollegen und er auf spannende Verknüpfungen. Winzigste Mitbewohner, nämlich die Bakterien unserer Darmflora, könnten unser Verhalten, Entscheidungen und Gefühle stärker beeinflussen als je gedacht – bis hin zur Depression.

Untersuchung mit Mäusen

Bei der Entscheidung für oder gegen den neuen Job wären es vermutlich die Milchsäurebakterien, die uns eher zu einem „Ja“ oder zu einem „Nein“ leiten würden. Erste Hinweise darauf lieferten Tests mit Mäusen. In einem Versuch gab es einerseits Mäuse, die normales Futter bekamen, und auf der anderen Seite solche, denen regelmäßig zusätzliche Rationen an Milchsäurebakterien (auch Lactobazillen genannt) verabreicht wurden. Diese Bakterien siedelten sich daraufhin im Darm an. Nun wurde jede Maus allein in ein speziell vorbereitetes Labyrinth gesetzt. Die normal gefütterten Mäuse verhielten sich durchwegs vorsichtig und verkrochen sich meist in schützende dunkle Ecken. Sie zeigten also gewöhnliches Mäuseverhalten. Bei jenen Mäusen aber, die zuvor Milchsäurebakterien erhalten hatten, war das anders. Sie erwiesen sich als neugieriger und untersuchten mutig die hell beleuchteten, ungeschützten Zonen. Die Forscher staunten und fanden zusätzlich heraus, dass es im Gehirn, wo erregende und hemmende Botenstoffe aktiv sind, zu neurochemischen Änderungen gekommen war. GABA, einer der hemmenden Botenstoffe, war davon betroffen. Welche Prozesse im Detail im Mäusekörper abliefen, ist noch offen. 

Dieses Experiment jedenfalls stellt Wissenschaftler wie Peter Holzer vor die Frage, ob auch bei uns Menschen viele Milchsäurebakterien im Darm für größeren Mut sorgen und uns bei schwierigen Entscheidungen schneller ein „Ja“ entlocken könnten. Noch steckt die Forschung in den Kinderschuhen. Joghurt und andere Milchprodukte werben zwar längst mit dem Zusatz von Milchsäurebakterien, aber sie versprechen dabei keinen Mut, sondern ein besseres allgemeines Wohlbefinden. Auch das ist laut Holzer nicht hinreichend nachgewiesen, es seien bislang zu wenige aussagekräftige Studien abgeschlossen.

 
 
Ursprung von Psychischen Störungen?  

Das Thema der Milchsäurebakterien ist nur ein winziges Beispiel für das, was unsere Darmbakterien alles mitbestimmen könnten. Forscher vermuten sogar einen Zusammenhang mit Depressionen. Holzer: „Eine krankhaft veränderte Kommunikation zwischen Magen-Darm-Trakt und Gehirn kann für psychische Störungen verantwortlich sein und ist besonders bei funktionellen Magen- und Darmerkrankungen offensichtlich.“ Hier wird die Sache wesentlich komplexer. Man weiß: Bakterien sind in der Lage, Botenstoffe an das Gehirn zu verschicken und wichtige Hormone wie das Glückshormon Serotonin zu beeinflussen. Weitere Hinweise auf den Zusammenhang von Darmbakterien und Stimmung reihen sich ein: 

 
 

Welche Arten von Bakterien in uns leben, ist auch von unserem Essen abhängig. „Wir wissen, dass unsere Ernährung in engem Zusammenhang mit psychiatrischen Störungen steht“, so Peter Holzer. Kurzfristig steigere fettes oder süßes Essen zwar das Wohlbefinden, weil es unmittel­bar auf das Belohnungssystem wirke, längerfristig sei aber das Gegenteil der Fall. Eine aktuelle Studie, die das Essverhalten von mehr als 3.000 Jugendlichen in Australien über zwei Jahre untersuchte, untermauert das: Jene Teenager, die viele stark verarbeitete Lebensmittel, Süßigkeiten oder Frittiertes aßen, litten häufiger an depressiven Verstimmungen als jene, die frisch gekochte Produkte, Obst und Gemüse zu sich nahmen. Ähnliche Studienergebnisse liegen auch von Erwachsenen vor. 

 
 
 
Darmbakterien wiegen fast zwei Kilogramm

„Wenn wir genau wissen, wie die Ordnungsverteilung der Darmbakterien bei psychischer Gesundheit sein sollte, sind wir einen großen Schritt weiter“, erläutert Holzer. Dann bekommen Menschen mit Depressionen in Zukunft statt Serotonin vielleicht einen speziellen Ernährungsplan verschrieben. 

Noch bleiben viele Zusammenhänge im Verborgenen, denn rund 800 verschiedene Bakterienarten besiedeln den Darm. Über die meisten ist kaum etwas bekannt – früher befasste man sich mehr mit jenen Bakterien, die Krankheiten auslösen, als mit jenen, die tagtäglich Schwerstarbeit für uns leisten. Dabei ist das eine ganze Armee! Rund 100 Billionen Bakterien leben auf, in und mit uns, obwohl der menschliche Körper selbst nur aus etwa zehn Billionen Zellen besteht. Die Bakterien sind kleiner, aber in Summe kommt eine messbare Größe zustande: Im Darm beträgt das Gewicht der Bakterien fast zwei Kilogramm. 

Die grundlegende Zusammensetzung der ­körpereigenen Bakterienpopulation erfolgt in der Kindheit. Mit der Muttermilch gelangen die Bakterien in den Körper. Dort treffen sie auf unbesiedelte Schleimhaut und vermehren sich prächtig. Im Laufe der ersten Lebensjahre gesellt sich Art um Art dazu, bis jeder Mensch seine individuelle Mischung hat. Spannend: Innerhalb von Familienverbänden gibt es größere Übereinstimmungen. Das hat Mediziner dazu bewogen, bei Patienten mit dramatisch geschwächtem Immunsystem Darmbakterien von Verwandten zu transplantieren. „Mit großem Erfolg“, sagt Holzer, „der Zustand der Patienten besserte sich rasant.“ 

Nicht nur auf unsere Stimmung nehmen die kleinen Darmbewohner Einfluss, sondern auch auf unser Gewicht. Erste Hinweise darauf stammten ebenfalls aus einem Experiment mit Mäusen. Darmbakterien einer fettleibigen Maus wurden einer keimfrei gehaltenen, schlanken Maus übertragen. Ergebnis: Die dünne Maus nahm bei gleichbleibender Fütterung immer mehr zu und wurde schließlich übergewichtig. Durch die neuen Bakterien wurde sie zu einem besseren Futterverwerter. Beim Menschen ist es wahrscheinlich ähnlich: Dicke haben mehr Bakterien, die bei der Verdauung mithelfen, und ziehen deshalb mehr Energie als Dünne aus derselben Menge Nahrung. Dass sich die Darmflora beider Gruppen wesentlich unterscheidet, ist bereits nachgewiesen. Aber es handelt sich nicht um eine statische Angelegenheit. Nach Gewichtsabnahme haben auch dicke Menschen wieder die für Dünne typischen Bakterien.