Mag. Dietmar Gerstner
1. Vizepräsident der Österreichischen Tierärztekammer
Ausgabe 04/2020
Besondere Umstände machen erfinderisch, lassen Improvisationstalente erwachen und fördern ungeahnte Energien zutage. Vielleicht ergeben sich auch Erkenntnisse für die Zeit nach der Krise.
Unserem Status als anerkannter Gesundheitsberuf geschuldet sehe ich uns Tierärztinnen und Tierärzte – unabhängig von allfälligen wirtschaftlichen Fragen – jedenfalls in der ethischen Pflicht, im Sinne des Tierschutzes und der Lebensmittelsicherheit zumindest eine veterinärmedizinische Grund- und Akutversorgung aufrechtzuerhalten. Für manche/n von uns, die/der die Praxis lieber gleich zusperren würde (z.B. wegen familiärer Betreuungspflichten oder auch um ihre/seine unmittelbare Umgebung und sich selbst zu schützen) mag das die einzig verbliebene Motivation sein, in dieser schwierigen Situation trotz geringer, eigentlich unrentabler Umsätze weiterzumachen.
Inwieweit es Aufgabe der öffentlichen Hand wäre, diese Mindestversorgung in einem Bereich der „kritischen Infrastruktur“ mit all ihren Herausforderungen und Risiken zu unterstützen bzw. überhaupt zu finanzieren, möchte ich hier nicht weiter diskutieren – wohl wissend, dass der Ruf danach von vielen Seiten immer lauter ertönt, nicht zuletzt aus den Reihen der humanmedizinischen Kollegen; etwa, dass Kassenpraxen in diesen Zeiten des verminderten Umsatzes eine Pauschalabgeltung von 90 Prozent des „normalen“ Durchschnittshonorars erhalten sollten. Wie auch immer, Tatsache ist, dass derartige Regelungen, so sie überhaupt realistisch sind, in der Kürze der Zeit niemals sofort ausverhandelbar sind und daher zunächst einmal angepackt werden muss – alles Weitere findet sich im besten Fall irgendwann später.
Zum aktuellen Zeitpunkt (27. 3. 2020) sieht es jedenfalls so aus, dass unser Berufsstand – nach Anfrage bzw. Intervention im für uns zuständigen Gesundheitsministerium – seitens der Behörden nicht einmal bei der Zuteilung allfällig vorhandener Schutzausrüstung (z. B. Atemschutzmasken) Berücksichtigung findet. Wir sind da einfach nicht vorgesehen, auch nicht für die Arbeit in der Schlachttier- und Fleischuntersuchung! Und das in einer Zeit, in der die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln aus heimischer Produktion in aller Munde ist! Verstehe das, wer will.
Im Kleintierbereich haben wir in unserer Praxis schon am Freitag vor Beginn der drastischen Maßnahmen der Bundesregierung die Besitzerinnen und Besitzer ersucht, nach Anmeldung an der Rezeption im Freien oder im Auto zu warten, um dann einzeln hereingebeten zu werden. Seit Montag, 16. 3. 2020, übernehmen wir, wenn irgendwie möglich, Kleintierpatienten – insbesondere Katzen und kleine Heimtiere – beim Praxiseingang; die Besitzerinnen und Besitzer werden gebeten, draußen zu warten, und bekommen das behandelte/operierte Tier dann wieder ausgehändigt. Anamnestische Vorgespräche bzw. Besprechungen von Diagnose und/oder Therapie erfolgen weitgehend telefonisch. Und das funktioniert, die Mitarbeit einer geschulten Hilfsperson vorausgesetzt, erstaunlich gut – undenkbar noch vor einigen Wochen!
Die Abgabe von Medikamenten/Futtermitteln aus der Hausapotheke erfolgt seither ebenfalls weitestgehend kontaktlos: Zumindest bei Schönwetter steht ein kleiner Tisch vor der Tür, auf dem die nach telefonischer Beratung bzw. Besprechung abzugebenden Produkte unmittelbar vor Abholung deponiert werden. Allfällige persönliche Beratung kann auch durch ein neben dem Praxiseingang befindliches Fenster in gebotenem Abstand erfolgen –auch das stößt nach bisherigen Erfahrungen auf breiteste Akzeptanz!
Im Großtierbereich melde ich mich bei den Landwirten/Pferdebesitzern telefonisch an, aber – im Gegensatz zu bisher – nicht, um sie aufzufordern, sich in den Stall zu begeben, sondern ganz im Gegenteil, um sie des Stalles zu „verweisen“. Die Tiere müssen entsprechend fixiert sein, um die jeweilige Tätigkeit alleine ausführen zu können.
Und wiederum stößt diese Vorgangsweise auf breiteste Akzeptanz, großes Verständnis, teilweise auf merkbar erfreute Zustimmung! Es kann ja auch durchaus launig sein, jahrzehntelangen Kunden und Partnern, Bauern wie Pferdebesitzern, in geeigneter Form mitzuteilen, dass ich sie jetzt einmal im Stall eigentlich nicht sehen will, und wenn, dann nur aus gebotener Distanz.
Nicht eine/r hat das bisher verweigert! Die Argumentation ist offenbar einsichtig, dass Tierärztinnen und Tierärzte in der Großtierpraxis ja doch viel herumkommen und ich die Tierbesitzer bzw. ihre Familien nicht gefährden will – und umgekehrt, dass ich meine Arbeitsfähigkeit/-berechtigung unbedingt so lange wie möglich erhalten will/muss, um ihnen weiterhin bei Notfällen behilflich sein zu können. Spätestens das zieht!
Darüber hinaus habe ich unseren „Kindern“ (20 bzw. 17 Jahre alt) schon am zweiten Tag der rigiden Maßnahmen vorgeschlagen, mich wechselweise als „Hilfspersonen“ auf den Visitenfahrten zu begleiten. Und, kaum zu glauben, dieser Vorschlag stieß angesichts des bestehenden Kontakt- und Partyverbots (und wohl auch wegen des drohenden Lagerkollers und beginnender Fadesse trotz E-Learnings) sofort auf begeisterte Zustimmung! Auch das wiederum war vor wenigen Wochen noch undenkbar. Und so absolvieren wir die Visiten fast durchgehend zu zweit, der früher gängige Begriff des „Familienbetriebs Tierarztpraxis“ bekommt so eine ganz neue – erfreuliche! – Dimension. Sogar eine schwierige Zwillingsgeburt bei einer Kuh haben wir, in diesem Fall zu dritt, schon ohne Mitwirkung des Landwirts erfolgreich gemeistert.
Die derzeitige Situation ist für uns Freiberufler und natürlich auch für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter alles andere als lustig, trotzdem gilt es, das Beste daraus zu machen und mit vereinten (ungeahnten) Kräften über die Runden zu kommen. Wir können nur hoffen, dass unser Berufsstand – wie viele, viele andere auch – möglichst bald wieder zu normalen Verhältnissen zurückkehren und wieder die notwendigen Umsätze erarbeiten kann, um die so bewährte, vielfach klein strukturierte flächendeckende tierärztliche Versorgung weiterhin sicherstellen zu können. Letztendlich ist das die einzige Möglichkeit, die Existenz unserer Praxen wirtschaftlich abzusichern. Staatliche Hilfen und die kleinen Maßnahmen, die wir als Tierärztekammer beisteuern, können nur eine Überbrückung sein – helfen müssen wir uns selbst, sobald wir wieder die Möglichkeit dazu haben.
Persönlich hoffe ich, dass auch nach Beendigung der Krise etwas von dem merkbaren Ruck in der Gesellschaft – der Reform- und Innovationsfreudigkeit, die plötzlich möglich macht, was vorher unmöglich schien, dem Erfindungsreichtum, der Kreativität und dem Zusammenhalt – übrig bleibt. Vielleicht auch, dass wir bisher einzementierte Verhaltensweisen im beruflichen wie im privaten Leben möglicherweise dauerhaft überdenken …
Eine Umfrage (CM Research, publiziert am 18. 3. 2020, Erhebung 13.–17. 3.) im Auftrag der FVE (Federation of Veterinarians of Europe) unter (leider nur) Kleintierpraxen in fünf europäischen Staaten, Australien und den USA (Teilnehmer: minimal 125, maximal 193 Praxen pro Land) hat – grob vereinfacht – folgendes Bild zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie erbracht: Umsatzrückgänge in 33 % der Praxen (USA), 24 % (Australien) und 35–41 % in Deutschland, Frankreich und Großbritannien; erwartbar katastrophale 93 % in Italien und 72 % in Spanien. Von den befragten Praxen erwarteten je nach Land 53–69 % eine signifikante Verschlechterung der Lage in den kommenden zwei Wochen.
Zwischen 43 % (Deutschland) und 75 % (Italien) der Praxen zeigten sich hinsichtlich der persönlichen Gesundheitsgefährdung durch Covid-19 sehr oder ziemlich besorgt. Zur Lage in den Nutztier- und Pferdepraxen sind mir leider derzeit noch keine Daten bekannt.