Ungewöhnliche Frühgeburt beim Rind –

Eine Fallbeschreibung

em. O. Univ.-Prof. Dr. med. vet. Dr. h. c. mult. Horst Erich König
Institut für Anatomie, Histologie und Embryologie der Veterinärmedizinischen Universität Wien

Dr. med. vet. Wolfgang Schramel
Tierklinik Quehenberger, 2380 Perchtoldsdorf

Nach Grunert 1993 sind 95 Prozent aller vor dem 270. Trächtigkeitstag geborenen Kälber pathologisch. In Niederösterreich überlebte ein Kalb nach einer Trächtigkeitsdauer von nur 246 Tagen (ohne Körperbehaarung) und entwickelt sich seither gut.

Einleitung

Die mittlere Trächtigkeit einer Kuh beträgt nach derzeitigem Lehrbuchwissen 285 Tage. Nach -allgemeingültigen veterinärmedizinischen Erkenntnissen ist ein Kalb, das vor dem 270. Tag geboren wurde, nicht überlebens-fähig -(Grunert 1993). Vor allem Rinderfeten, deren -Körper noch nicht behaart sind, scheinen das Reifestadium zum Überleben nach einer Geburt noch nicht erreicht zu haben (Rüsse und Sinowatz 1991; Schnorr und Kressin, 2011). Dieses zeigt auch eine Studie in Deutschland (Steinhöfel et al., 2012), in der 20.000 Rindergeburten untersucht wurden. Mit dem 270. Tag hat anscheinend ein Rinderfetus eine Reife erlangt, die das Kalb außerhalb der Gebärmutter zum Überleben befähigt. Es gibt nicht wissenschaftliche Berichte von Landwirten im Internet, die von zu früh geborenen Kälbern erzählen, die mehrere Wochen vor dem Geburtstermin geboren wurden und großgezogen werden konnten. Die meisten dieser Kälber verendeten allerdings trotz intensiver Pflege. Andere wieder berichten von drei bis vier Wochen zu früh geborenen Kälbern, die problemlos aufgezogen wurden (Mit Frühgeburt Problem, agrar heute am 20.03.2017).

Fallbeschreibung

In einem Bio-Milchhof in Niederösterreich in der Nähe von Wien wurde eine vier Jahre alte Färse einer Holstein--Fleckvieh-Mischung mit der Ohrmarke 5977122, die schon einmal abortiert hatte, am 6. Juni 2016 mit dem Samen eines Fleckviehbullen (Polarbär für Kalbinnen, Ohrmarke 1501192, Besamungsstation Wieselburg) besamt. Der Besitzer der Kuh erwartete die Geburt am 14. März 2017. Alles schien sich normal zu entwickeln. Bei einem Routinegang durch den Stall in der Früh des 6. Februar 2017 bemerkte der Landwirt, dass die Kuh frühzeitig, ohne vorher irgendwelche Anzeichen einer bevorstehenden Geburt zu zeigen, gekalbt hatte. Das weibliche Kalb wog 14 Kilo. Es war 37 Tage vor dem errechneten Geburtstermin, also nach einer Trächtigkeit von 246 Tagen, auf die Welt gekommen, atmete und schrie. Der Besitzer ging davon aus, das Kalb würde nicht überleben, legte es in einen gepolsterten Hundekorb und deckte es  mit einer Decke ab. Das Neugeborene war im Körperbereich haarlos, die Haut mit dunklen Flecken pigmentiert, die Hautoberfläche am Körper fühlte sich kalt und die Gliedmaßen eiskalt an. Vorsichtshalber legten die Besitzer des Bauerhofes einige Plastikflaschen, gefüllt mit warmem Wasser, neben das Tier in den Hundekorb und deckten es ab. Als das Kalb nach dem Melken einige Stunden später immer noch lebte, wurde der Hoftierarzt verständigt, der dem zu früh Geborenen Gammaserin, Selen, Serovit und Vanasulf verabreichte, um damit auch den Saugreflex anzuregen. Die Besitzer des Tieres ernährten das Kalb in den ersten Tagen mithilfe eines Kälberdrenchers und gaben ihm kleine Portionen Kolostrum von der Mutterkuh, die sich problemlos mit der Hand melken ließ. Nach einigen Tagen erkrankte das Kalb an einer Bronchopneumonie und wurde antiphlogistisch und antibiotisch versorgt. Dann kam ein blutiger Durchfall dazu, der peroral mit einem Styptikum und parenteral mit Ringer-Laktat behandelt wurde. Zudem wurde eine Antibiose angeschlossen. Nach einigen Tagen hatte sich der Saugreflex eingestellt und das Kalb konnte mit dem Eimer und dem anhängenden Sauger ernährt werden. Am 25. Februar, im Alter von zwei Wochen, aber immer noch gute zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin, wog das Kalb bereits 21 Kilo und entwickelte sich gut. Inzwischen hatte sich am Körper das Haarkleid gebildet. In den ersten Tagen wurde das Frühchen in der Wohnung gehalten, wo auch mehrere Katzen zu Hause waren. Das Kalb beobachtete diese Mitbewohner und begann, sich am ganzen Körper bis an die Schwanzspitze mit der Zunge zu säubern. Es versuchte, mit den Beinen auch an den Rücken zu gelangen, um sich wie die Katzen auch dort zu reinigen. Das Kälbchen legte sich am 25. Februar sogar auf das Bett des Hofbesitzers, weil es bemerkt hatte, dass dieser sich jeden Tag um die Mittagszeit für eine kurze Zeit dorthin legte, um sich auszuruhen. 

Ab dem 1. März wurde das Kalb dann in den Hof an die Sonne gebracht, wo es die ersten Sprünge ausprobierte. 

Am gleichen Tag kam ein weiblicher Schäferhundwelpe auf den Hof. Sofort fühlte sich das junge Kalb auch für diesen verantwortlich und leckte den neuen Hausbewohner am ganzen Körper, um ihn zu putzen. Der Welpe suchte ebenfalls die Nähe des Kalbes. Beide ruhten bei engem Körperkontakt auf der gemeinsamen Decke. Beide Tiere meldeten sich in der Früh gleichzeitig, um in den Hof zu gelangen und dort Kot und Harn abzusetzen. Langsam wurde das Kälbchen auch in den Kälberstall geführt, um sich auch an die anderen Neugeborenen zu gewöhnen. Vorerst blieb es allerdings beim Beschnuppern, ohne in die Boxen der anderen gelassen zu werden. Das zu früh Geborene war anderen Kälbern gegenüber vom Gewicht und der Größe her immer noch weit unterlegen. Eventuelle Rangordnungskämpfe hätten möglicherweise zu Verletzungen geführt. Seit dem 6. März begann das Kalb, sich für Heu und Gras zu interessieren, und es setzte das Wiederkauen ein. Es wurde auch nicht mehr mit dem am Eimer anhängenden Sauger ernährt, sondern durfte direkt aus dem Eimer trinken, wobei pro Mahlzeit jeweils ein Liter Milch verbreicht wurde. Es hatte sich herausgestellt, dass sich nach dem Trinken mit dem Sauger ein Hustenreflex einstellte, der nach dem Trinken aus dem Eimer nicht mehr auftrat.  

Diskussion

Nach der eingangs erwähnten rezenten sächsischen Studie von über 20.000 Rindergeburten (Steinhöfel et al., 2012) betrug die mittlere Trächtigkeitsdauer 278 Tage. Damit weicht diese Erkenntnis von der allgemeinen in Lehrbüchern zu findenden Periode von 285 Trächtigkeitstagen ab (Grunert 1993). Nach diesen Untersuchungen im Bundesland Sachsen in Deutschland konnte dokumentiert werden, dass Kälber, die vor dem 270. Trächtigkeitstag auf die Welt kamen, deutlich schlechtere Überlebenschancen hatten. Die Kälberverluste bei Kühen mit einer Trächtig-keitsdauer von 265 bis 269 Tagen lagen bei 24 Prozent, die bei einer Trächtigkeitsdauer von 270 bis 274 Tagen betrugen nur noch sechs Prozent.

Nach Grunert 1993 sind 95 Prozent aller vor dem 270. Trächtigkeitstag geborenen Kälber pathologisch. Uns ist nicht bekannt, dass ein Kalb nach einer Trächtigkeitsdauer von nur 246 Tagen und ohne Körperbehaarung überlebt und sich dann gut entwickelt hätte.

 
Literatur:  

Grunert E. Die normale Geburt. In Richter I., Götze R. Tiergeburtshilfe.
Von Grunert E. und Arbeiter K. (Hrsg.). 4. Aufl. Paul Parey 1993.

Mit Frühgeburt Problem

agrarheute.landlive.de/boards/thread/29097/page/1/

Rüsse I., Sinowatz F. Lehrbuch der Embryologie der Haustiere.


1991 Parey Verlag Berlin und Hamburg

Schnorr B., Kressin M. Embryologie der Haustiere. 6. Aufl.
2011 Enke Verlag Stuttgart.

Steinhöfel I., Nestler N., Kießling A., Klunker M. Sächsisches Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie, Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden, Interessengemeinschaft der Erzeugerzusammenschlüsse in Sachsen e. V. (2012): Vor dem 270. Tag kaum überlebensfähig, www.elite-magazin.de/gesundheit/Vor-dem-270-Tag-kaum-ueberlebensfaehig-675534.html