Leserbrief

„Die Coronakrise hat die immer noch bestehende Ungleichheit der Geschlechter sichtbar gemacht“

(Ausgabe 7/8-2020, erschienen in der Rubrik AAS, von Dipl. Tzt. Eva Müller)

Sehr geehrte Redaktion,
sehr geehrte Frau Dipl. Tzt. Müller,

Frauen als Menschen zu denken hat schon zur Zeit der Aufklärung selbige an die Guillotine gebracht.

Wen wundert’s, wenn viele von ihnen nach wie vor nicht den Mut aufbringen, ihre gesellschaftliche Situation offen anzusprechen.

Ihrem Artikel mangelt es nicht an sprachlichen Beschwichtigungssignalen in Richtung Männerwelt: Sexis­tische Äußerungen während Ihres Studiums hat es vonseiten des Lehrkörpers gegeben, aber Ihnen ist das damals gar nicht weiter aufgefallen, und später wurden Sie selbstverständlich überall gleich behandelt.

Matrikelnummer 82. Ich habe ein Jahr später mein Studium begonnen und abwertende Äußerungen der Professoren und vielmehr noch benachteiligende Handlungen gegen Frauen durchaus wahrgenommen. Viele der Lehrenden wollten uns wieder loswerden.

Unvergessen der Übungsnachmittag mitten im Semester auf der Buiatrik, an dem uns der Institutsvorstand mit den Worten nach Hause entließ: „Für Sie, meine Damen, ist das Studium hier und jetzt beendet. Wir haben keine Umkleideräume für Frauen und es ist nicht zumutbar, dass Frauen im BH auf den Gängen des Instituts herumlaufen. Auch die rektale Untersuchung durch Frauen, bei der im Unterleiberl gearbeitet werden muss, wird von mir nicht mehr länger toleriert.“

Als Universitätsassistentin tatsächlich keine Un­gleichbehandlung erfahren zu haben, wie Sie schreiben, kann ich mir nur durch eine Art Stockholm-Syndrom erklären, bei dem das Opfer positive emotionale Beziehungen zu seinem Peiniger aufbaut, um damit, wie in diesem Falle, zumindest die eigene Deprimiertheit über das ­ewige Abgehaltensein nicht erleben zu müssen.

Ich erinnere an die erste weibliche Assistentin am Institut für Orthopädie, die gegen massiven universitären Widerstand noch in den 80er-Jahren mit einem Gang ins Ministerium dafür Sorge tragen musste, ihre Interessen bei der Postenvergabe gleichwertig berücksichtigt zu sehen. Viel Phantasie braucht es nicht, sich vorzustellen, wie die weitere (gleiche?) Behandlung der Assistentinnen bei ihrer Ausbildung an diesem Institut in der Folge noch viele Jahre lang ausgesehen haben dürfte. Nur allzu gerne vergessen wir, verstärkt noch durch die Betonung der Indi­vidualisierung in der heutigen Zeit (jede ist für ihr eigenes Glück selbst verantwortlich), dass wir uns die Rechte, die wir genießen, nicht selbst erstritten haben.

Es ist bequem, aber trügerisch, zu glauben, wenn wir Frauen es uns irgendwie selbst richten, entgehen wir der Gefahr. Wir ersparen uns – in den Kategorien des männlichen Denkens erzogen – die Mühe, aus diesen patri­archalen Denksystemen auszusteigen, und richten uns ein be­hagliches Leben ein, in dem wir nicht weiter auffallen.

„Wenn wir Tierärztinnen für die Standespolitik interessieren wollen … ist die Rücksichtnahme auf ihre familiären Verpflichtungen unumgänglich …

Sind es tatsächlich „ihre“ familiären Verpflichtungen? Ist nicht das das Biedermeier, vor dem Sie gleichzeitig warnen? Beim konservativen Modell der intakten Kleinfamilie, in der die Frau die gute Mutti ist und für den Ehemann da sein soll, wird in unsicheren Zeiten gegen die Bedrohungen des vermeintlichen Idylls von außen Rücksichtnahme eingefordert? Nach Übernahme von Verantwortung und Fällen von Machtentscheidungen sieht das nicht aus.

Frauen werden nicht umhinkommen, ein Selbstverständnis (= fundamental) als gleichwertiger Mensch (= feministisch) zu entwickeln. Das bedeutet in diesem Bereich (Handicap durch familiäre Pflichten), gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die es in weiterer Folge verunmöglichen, zu wissen, ob und in welchem Ausmaß jemand wegen Kinderbetreuung oder anderer familiärer Pflichten ausfallen wird.

Dafür gibt es Instrumente und die Politik – und jede, die ein bisschen darüber nachdenkt, weiß, wie das um­zusetzen wäre.

Dr. Monika Triebl