Imerslund-Gräsbeck-

Syndrom

Dr. Lena Braun
Mag. Doris Kampner

Anicura Tierklinik Hollabrunn

Das Imerslund-Gräsbeck-­Syndrom ist auch als ­erbliche selektive Malabsorption von ­Vi­tamin B12 (Cobalamin) bekannt. Erkrankte Tiere können Cobalamin nicht über die Nahrung aufnehmen, was zu Entwicklungsverzögerungen, gastrointestinalen Symptomen, Anämie und Neutropenie führen kann.

Einleitung

Wenn Hunde jugendlichen Alters mit akuter gastrointestinaler Symptomatik in der Ambulanz vorgestellt werden, denkt man schnell an einen Fremdkörper oder an gas­trointestinale Parasiten. Es gibt aber auch andere, weitaus seltenere Erkrankungen, die eine Rolle spielen können – wie zum Beispiel das Imerslund-Gräsbeck-Syndrom (IGS). Da wir im letzten Jahr gleich zwei Fälle mit IGS bei uns an der Anicura Tierklinik Hollabrunn diagnostizieren konnten, möchten wir diese seltene genetische Erkrankung genauer besprechen.

Anamnese

Beide Hunde waren seit Welpenalter in privatem Besitz und waren schon immer eher klein und in einem schlechten Ernährungszustand. Die Symptome, die sie zeigten, waren Inappetenz / Anorexie und Vomitus; der Border Collie hatte zusätzlich selbst limitierenden Dünndarmdurchfall. Beide Hunde waren regelmäßig geimpft und entwurmt worden und sind nicht im Ausland gewesen.

Klinische Befunde

Der Border Collie zeigte bei der klinischen Untersuchung ein geringgradig vermindertes Allgemeinverhalten und einen aufgekrümmten Rücken; das Abdomen war durchtastbar und die Vitalparameter waren in der Norm. Bei der Beaglehündin war die klinische Untersuchung bis auf einen verminderten Ernährungszustand unauffällig. Beide Hunde hatten einen Body-Condition-Score von 2/9.

Weitere Diagnostik

Die Routine-Blutchemie war bei beiden Hunden unauffällig. Was die Hämatologie betrifft, hatte ein Hund eine nicht regenerative Anämie mit einem Hämatokritwert von 35,9 % und eine hochgradige Neutropenie; der andere Hund hatte ebenfalls eine nicht regenerative Anämie (Hk 30 %) und eine geringgradige Neutropenie. Im Abdomenultraschall von beiden Hunden war der Magen-Darm-Trakt bis auf eine geringgradig verminderte Peristaltik und dezente entzündliche Veränderungen im Dünndarm unauffällig. Im Zuge der diagnostischen Aufarbeitung wurde Vitamin B12 im Serum untersucht – dieses war beim Beagle mit < 30 pg/ml (234 – 812) und beim Border Collie mit 78 pg/ml hochgradig erniedrigt. Zusammenfassend hatten beide Hunde eine Bizytopenie und eine Hypocobalaminämie. Aufgrund dieser Befunde wurde EDTA-Blut für einen IGS-Gentest in ein renommiertes Labor geschickt – beide Hunde waren reinerbig (homozygot) für die Mutation im Cubilin-Gen.

Therapie und Verlauf

In der Literatur sind verschiedene Supplementierungs­protokolle beschrieben. Beide Hunde erhielten über sechs Wochen einmal wöchentlich 500 µg Cyanocobalamin i.m., anschließend erfolgte eine Reduktion des Injektionsintervalls. Eine lebenslange orale Gabe von 1 mg Cyanocobalamin wurde empfohlen. Beide Hunde haben sehr schnell auf die Therapie angesprochen, die klinische Symptomatik hat sich innerhalb von Tagen gebessert und die Hunde sind mittlerweile symptomfrei. Die Beaglehündin hat innerhalb von zehn Tagen ein Kilogramm Körpergewicht zugenommen, der Border Collie innerhalb eines Monats 2,6 Kilogramm an Körpergewicht zugelegt.

Diskussion

IGS ist eine autosomal-rezessiv vererbte selektive Störung der Cobalaminresorption im Ileum. Cobalamin ist ein wasserlösliches Vitamin und ein essenzieller Co-Faktor für die Umwandlung von Methylmalonyl-Coenzym A (CoA) zu Succinyl-CoA und die Remethylierung von Methionin zu Hämocystein. Sollte zu wenig Cobalamin im Körper vorhanden sein, steigen Methylmalonsäure und Homocystein an. Cobalamin ist vor allem im Muskelfleisch enthalten und wird über die Nahrung aufgenommen, im Magen wird das Muskelprotein gespalten und an ein Transportprotein (Haptocorrin) gebunden; im Dünndarm wird das Haptocorrin durch pankreatische Proteasen verdaut und das freie Cobalamin bindet sich an den intrinsischen Faktor (IF) und wird im Ileum über den Cubam-Rezeptor in die Blutbahn aufgenommen. Zusammenfassend tritt ein Cobalaminmangel durch einen diätetischen Mangel (bisher beim Kleintier nicht nachgewiesen), eine Pankreopathie, eine chronische Dünndarmerkrankung (IBD oder Neoplasie) oder ein Fehlen bzw. einen Defekt im Cubam-Rezeptor auf.
Ein Fehlen oder auch eine gestörte Funktion des Cubam-Rezeptors macht eine intestinale Aufnahme von Cobalamin unmöglich und der entstehende Mangel zeigt sich klinisch meist in einem Alter von wenigen Monaten. Beschrieben wurde das IGS vor allem beim Riesenschnauzer, beim Border Collie und beim Beagle.
Welpen und Junghunde erkranken bereits im Alter von wenigen Monaten; Border Collies scheinen tendenziell eher später zu erkranken (acht bis 24 Monate). Die klinischen Symptome von IGS treten auf, sobald die fetalen hepatischen Cobalaminspeicher aufgebraucht sind, und umfassen Inappetenz, Anorexie, Apathie und Wachstumsstörungen. Etwa 50 % der Patienten werden mit gastrointestinalen Symptomen vorstellig. In seltenen Fällen kann es zu Krämpfen, Glossitis / Stomatitis, Bradykardie, intermittierender Pyrexie und Fellveränderungen kommen.
Typische hämatologische Veränderungen für IGS sind Anämie und / oder Neutropenie in unterschiedlichen Schweregraden, selten kann auch eine Thrombozytopenie auftreten. In der klinischen Chemie können Hypoproteinämie und Hypoglykämie auftreten. Bei chronisch kranken Hunden können die Leberenzyme leicht erhöht sein, ebenfalls kann eine Hyperammonämie auftreten. Um einen portosystemischen Shunt auszuschließen, sollte ein Gallensäurenstimulationstest erfolgen.
Seit 2013 stehen für den Beagle und den Border Collie Gentests zur Verfügung. Bei unklaren Fällen kann zusätzlich noch die Methylmalonsäure gemessen werden.
Sobald Cobalamin supplementiert wird, verschwinden die klinischen Symptome innerhalb von Tagen. Die Therapiekontrolle erfolgt anhand der Klinik.
Die Prognose für Hunde mit IGS, bei denen die Krankheit früh erkannt wird und die eine adäquate Therapie erhalten, ist exzellent mit normaler Lebenserwartung. Hunde, welche spät oder nicht diagnostiziert werden, können chronisch-degenerative Hepatopathien entwickeln. Hunde mit IGS, die nicht behandelt werden, können letztendlich aufgrund des selektiven Cobalaminmangels sterben oder werden auch häufig aufgrund von fehlendem Ansprechen auf symptomatische Therapie euthanasiert.

 

Literatur

Ettinger SJ, Feldman EC. Textbook of veterinary internal medicine.
7th edition, Saunders Elsevier. 792–793.
Kook PH. Cobalaminmangel beim jungen Hund – Was ist dieses canine „IGS“? In: 4. Schweizerische Tierärztetage, Lausanne, 11.–13. Mai 2016.
Kook PH, Hersberger M. Daily oral cyanocobalamin supplementation in Beagles with hereditary cobalamin malabsorption (Imerslund-Gräsbeck syndrom) maintains normal clinical and cellular cobalamin status.
J Vet Intern Med. 2019; 33:751–757.