Schmerzerkennung

in der Veterinärmedizin

Priv.-Doz. Dr. Ulrike Auer
Vetmeduni Vienna, Anästhesiologie und Intensivmedizin

Schmerz wurde von der International Association for the Study of Pain als eine unangenehme Empfindung und ein emotionales Erlebnis, das mit potenziellem oder aktuellem Gewebeschaden einhergeht, definiert.

Die Tatsache, dass Tiere sich nicht verbal artikulieren können, stellt keine Einschränkung dar: Schmerz bedeutet für Tiere eine subjektive und komplexe multidimensionale Erfahrung, die im Gehirn stattfindet, nachdem das Signal eines schmerzhaften Stimulus über komplexe neuronale Mechanismen von peripheren Nocizeptoren über das Rückenmark entlang von Nervenbahnen ins Gehirn übertragen wird. 

Schmerz als physiologisches Phänomen warnt das Individuum, erzwingt eine Reaktion auf den schmerzhaften Stimulus und schützt so vor weiterem Schaden. Gewebeschaden, der zu einer Entzündung führt, verursacht in der Intensität unterschiedlich starke akute Schmerzen. Auch dieser Schmerz „erzwingt“ eine Reaktion des Individuums, z. B. durch Verhaltensänderungen mit dem Ziel, die Körperintegrität zu bewahren, weiteren Schaden abzuwenden und die Heilung zu fördern. Verliert der Schmerz den Bezug zum ursprünglichen Stimulus (z. B. Hufschlag) oder dem Heilungsprozess, sondern ist vielmehr eine sensorische Entwicklung, bedingt durch die den Gewebeschaden begleitenden Entzündung (entzündlicher Schmerz) und/oder Veränderungen im Nervensystem (neuropathischer Schmerz), spricht man von chronischem Schmerz. Chronischer Schmerz durch z. B. Osteoarthrosen oder Rückenmuskelprobleme muss sich nicht mit einer akuten und gut sichtbaren Phase ankündigen, sondern beginnt häufig schleichend und unerkannt. Diese Schmerzform führt bei langer Dauer zu Leiden und einer Reduktion der Lebensqualität.

 

Schmerzassoziiertes Verhalten

Schmerz – welcher Art auch immer – führt zu einer Reaktion des Tieres mit Veränderungen in Verhalten und emotionalem Status. Deutliche Zeichen sind speziesabhängig Flucht- und Rückzugsverhalten und dort, wo dies nicht möglich ist, Abwehrverhalten und Aggression. Schonhaltung und Ausgleichsbewegung dienen der Verhinderung von weiterem Schaden und der Förderung der Heilung. 

Speziesspezifische allgemeine Schmerzanzeichen lassen keinen Rückschluss auf Art, Ursache und Intensität zu. Zu diesen allgemeinen Schmerzanzeichen zählen Rastlosigkeit ebenso wie Abgeschlagenheit mit verminderter Aktivität, verminderter Appetit und reduziertes Interesse an der Umwelt. 

Pferde, die sich vorwiegend im hinteren Teil der Box mit abgesenktem Kopf zur Seitenwand oder Rückwand aufhalten und verzögert bis gar nicht auf ihre Umwelt reagieren, sind etwa hochverdächtig, unter Schmerzen zu leiden. Schmerzspezifische Anzeichen wie z. B. Scharren und Wälzen bei der Kolik des Pferdes oder veränderte Gewichtsbelastung einer Extremität bei orthopädischen Ursachen deuten eindeutiger auf die Ursache bzw. Lokalisation hin.

Wann immer Tiere Verhaltensänderungen und/oder Leistungsveränderungen anzeigen, muss an das Vorliegen von schmerzhaften Veränderungen gedacht und die Ursache gesucht werden. Veränderte Reiteigenschaften des Pferdes, die plötzlich oder auch schleichend auftreten, finden ihre Ursache in entzündlichen Veränderungen in der Rückenmuskulatur und Wirbelsäule (Jeffcott et al 1982). Rückgang der Milchleistung, Gewichtsverluste und geringere Gewichtszunahme bei landwirtschaftlichen Nutztieren sind ebenfalls Indikatoren. Verändertes und ungewöhnliches Gruppenverhalten, plötzliche Aggression gegenüber Artgenossen: All das sind häufig emotionale Reaktionen auf eine unangenehme Empfindung, sprich Schmerz, unabhängig von Intensität und Ursache. 

Die Liste von Verhaltensänderungen bei Hund und Katze, die immer mehr in Bezug zu schmerzhaften Erkrankungen gesetzt werden, ist lang. Eine Katze, die nicht mehr auf den Tisch springt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit unter Osteoarthrose leiden, ohne dass eine deutliche Lahmheit sichtbar sein muss. Gerade bei diesen subklinischen bzw. chronischen Schmerzen ist der Tierarzt bzw. die Tierärztin aufgefordert, diese scheinbar unauffälligen Anzeichen ernst zu nehmen und als Reaktion des Organismus auf etwas Unangenehmes bzw. Schmerzhaftes wahrzunehmen. Die Fähigkeit, Schmerzen zu erkennen, ist bei vielen Tierärzten intuitiv vorhanden. 

Wir müssen uns aber von dem Gedanken verabschieden, dass immer eine eindeutige Diagnose bzw. erkennbare Erkrankung hinter diesen Anzeichen/Veränderungen stecken muss und diese als alleiniger Beweis für das Vorliegen von Schmerzen gelten. Das Tier/der Patient sagt uns, dass etwas nicht stimmt, auch wenn wir die Ursache dafür nicht finden können.

Die zuverlässige Beurteilung von Schmerzzuständen ist eine Grundvoraussetzung für die Einleitung einer adäquaten Schmerztherapie und die Anpassung der Dosierung bzw. Medikation im Verlauf der Therapie. Die Einschätzung der sich verändernden Schmerzintensität im Verlauf einer Erkrankung ist – ohne objektive Kriterien – schwierig. Auch eine nachvollziehbare Dokumentation der Schmerzintensität erfordert die Anwendung objektiver und möglichst standardisierter Methoden zur Schmerzbestimmung.

 
 

 

Das Schmerzgesicht 

Der Mensch drückt Schmerz unbewusst über sein Gesicht aus. Dieses Schmerzgesicht lässt sich auch nur schwer bewusst unterdrücken. Die mimische Veränderung des Gesichts hängt von der Anzahl der anatomischen Muskel/Nerveneinheiten (Facial Action Units, FACS) ab. Der Mensch hat 27 FACS, die Katze 23, das Pferd 17, Hunde 16 und Schimpansen im Vergleich 13 FACS, die den Gesichtsausdruck des Individuums prägen. Bei sehr vielen Tierarten wie Mäusen, Ratten, Kaninchen, Schafen, Katzen, Schweinen, Rindern und Pferden wurden bereits Schmerzgesichter definiert. Die Erkenntnisse aus diesen Studien sind vielversprechend, um in Verbindung mit subtilen Verhaltensänderungen Schmerz besser dingfest zu machen und mit Zahlen zu hinterlegen. 

Beim Pferd zum Beispiel konnten sechs verschiedene Regionen im Gesicht definiert werden, die sich unter schmerzhaften Stimulationen sowohl experimentell als auch in klinischen Studien nach Kastrationen gut erkennbar und reproduzierbar verändern (Gleerup et al. 2014, Dalla Costa et al. 2014). Bei Katzen verändert sich der Gesichtsausdruck ebenfalls unter Schmerzen in ganz eindeutiger Weise: Die Ohrstellung und die Gesichtspartie um Maul und Nase lassen eindeutig die Unterscheidung zwischen einer an Schmerzen leidenden und einer nicht an Schmerzen leidenden Katze zu (Holden et al. 2014). Ferkel zeigen nach der Kastration eine typische gekräuselte Nase, angespannte Kaumuskulatur und aufgezogene Oberlider (Lonardi et al. 2013). Ähnliche Anzeichen finden sich in Schmerzgesichtern von Rindern (Gleerup et al. 2015).

 

Schmerzbeurteilung mittels zusammengesetzter Skalen

Bis heute ist es nicht möglich, Schmerz aufgrund einzelner eindeutiger Symptome bzw. Verhaltensmerkmale eindeutig zu bestimmen. Die Anzeichen dafür sind vielfältig, zu unspezifisch und spiegeln auch nicht immer die Schwere des Schmerzes wider. Für chronische Schmerzen gibt es bis dato nur wenig gesicherte Erkenntnisse für Hund und Katze, wie dieser objektiv beurteilbar ist. „Composite pain scales“ sind Schmerzskalen, die sich aus verschiedenen ethologischen und physiologischen Parametern zusammensetzen. Jeder dieser Parameter wird mit einer Punktzahl bewertet und die Addition der Einzelbewertungen ergibt den Gesamtwert. Die Erfassung dauert einige Minuten und schließt neben der direkten Beobachtung des Tiers auch interaktive Tests und eine kurze klinische Untersuchung ein. Composite Pain Scales wurden in den vergangenen Jahren für Hunde, Katzen und Pferde und unterschiedliche Schmerzarten validiert. Im Anschluss finden Sie eine Auswahl von z. T. validierten CPS, die meisten davon sind im Internet frei zugänglich.

 
 
 

Referenzliste ist bei der Autorin zu erfragen.