Schattenseiten

eines Booms

Tierärztin Tanja Warter

Reiten wird als Hobby immer beliebter. Gleich­zeitig fällt Tierärzten jedoch immer öfter auf, dass sich die Halter schlecht auskennen. Noch dazu sind die wiehernden Vierbeiner von der Natur nicht wirklich dazu geschaffen worden, Menschen zu transportieren.

Es ist allgemein bekannt: Das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde! Ob die Vierbeiner selbst dieses Sprichwort auch unterschreiben würden, ist allerdings fraglich. Fest steht, dass immer mehr Menschen Gefallen an der Reiterei finden. Die Entwicklung der ­vergangenen 70 Jahre ist spannend: 1950 gab es in Österreich über 283.000 Pferde, dann ging es steil bergab – 20 Jahre später waren es nur noch 47.000. Es war das geschehen, wovor sich auch berufstätige Menschen fürchten: Die Tiere wurden konsequent durch Maschinen ersetzt. 1980 war mit nur 40.000 Pferden in ganz Österreich der absolute Tiefpunkt erreicht. Es sah so aus, als würde der Traktor das Ross ausrotten.

Doch dieses Schicksal blieb den Pferden erspart. In den 1990er-Jahren begann sogar ein regelrechter Boom. Hugo Simon und sein Superpferd E. T. feierten Sieg um Sieg im Springreiten, und die Pferdeliebe breitete sich aus wie ein Buschfeuer. Stand 1995: 73.000 Pferde in Österreich. Bald schon wurden Reitställe knapp und ebenso die Gnadenhöfe, auf denen alte oder lahme Tiere ihren Lebensabend verbringen dürfen – vorausgesetzt, sie haben zahlungskräftige Besitzer. Die steigende Nachfrage ließ die Preise explodieren. Heute sind 500 bis 600 Euro Stallmiete pro Monat rund um die Ballungszentren an der Tagesordnung. Und das Pferdegeschäft galoppiert weiter. Das Ross ist in Österreich ein milliardenschwerer Wirtschaftsfaktor. Zählt man von der Stallmiete über Turniere, Trainer und Ausrüstung alles zusammen, wird der gesamtwirtschaftliche Effekt mit 2,1 Milliarden Euro beziffert, verursacht durch etwa 120.000 Pferde, die aktuell in Österreich leben. Sie sorgen für rund 23.000 Arbeitsplätze. 

Der Boom hat aber seine Schattenseiten, denn Pferde in Menschenhand befinden sich mitunter in einer heiklen Situation. Probleme mit der Verdauung kommen am häufigsten vor. Der natürliche Pferdebauplan ist für ein Leben in der Steppe konzipiert und ziemlich raffiniert. Um auch in den kargen Regionen genug Futter zu finden, entwickelte das Pferd ein spezielles Verdauungssystem. Anders als ein Wiederkäuer hat es keinen Pansen, sondern nutzt den Blinddarm als Gärkammer, in der Energie gewonnen wird. Weil es nicht wiederkäuen muss, braucht es keine Fresspausen einzulegen. Auf dürren Weiden mit langen, ausgewachsenen Gräsern ist es bestens bedient. Doch im Reitstall bekommen viele Pferde große Portionen Silage serviert – Verdauungsprobleme bis hin zu schweren Koliken drohen.

An zweiter Stelle folgen Lungenkrankheiten. Jedes ­Husten sollte Pferdebesitzer in Alarmbereitschaft versetzen. Die Liste der möglichen haltungsbedingten Erkrankungen ist lang: Verletzungen, Lahmheiten, Allergien, Hufkrankheiten, all das macht Ross und Reiter zu schaffen. Von Rossnatur kann da keine Rede sein. Häufige Konsequenz des Tierbesitzers: Das Pferd wird in seine Box gestellt und zu seinem eigenen Schutz nicht mehr ins Freie gelassen. Viele Reitställe haben nicht einmal Wiesen für den Freilauf. Motto: Wer in der Box bleibt, kann sich nicht erkälten und auch nicht verletzen. Besitzer glauben: Das spart Ärger und medizinische Kosten. Ein Trugschluss.

„Ganz langsam bessern sich die Umstände“, urteilt Josef Troxler. Er leitete bis voriges Jahr das Institut für Tierhaltung und Tierschutz an der Veterinärmedizinischen Uni Wien. „Endlich entdecken Reiter, dass sich ihr Tier in der Natur bis zu 16 Stunden am Tag entspannt fortbewegen würde.“ 

Davon können Pferde in Menschenhand meist nur träumen. Sie stehen in Einzelhaltung in der Box, die nur im Idealfall ein Fenster hat, und warten, bis der Besitzer Zeit und Lust aufbringt, sich mit ihnen zu befassen. Wenn es gut geht, kommen sie eine Stunde am Tag hinaus und werden geritten. 23 Stunden stehen sie gelangweilt auf wenigen Quadratmetern herum. Dann fangen sie an, sich auf ihre Art die Zeit zu vertreiben. Boxenläufer gehen stundenlang im Kreis. Kopper haben gelernt, die Halsmuskulatur so anzuspannen, dass sich der Schlundkopf öffnet. Sie schlucken Luft und produzieren dabei einen dumpfen Ton. Luftschlucken wiederum erhöht das Kolikrisiko. 

Manche Pferde pressen zum Koppen den Oberkiefer gegen den Futtertrog. Sie haben bald bis auf den Stummel abgewetzte Schneidezähne. Aber es gibt Hilfe: ­Kopper können operiert werden. Der Pferdebesitzer gibt viel Geld dafür aus, dass jener Nerv, der das Luftschlucken ermöglicht, durchtrennt wird. Danach kommt der vierbeinige Patient zurück – in seine langweilige Box.

Verhaltensauffälligkeiten sind nicht selten
Ein Pferd, das webt, wiegt ständig den Vorderkörper hin und her. Immer von rechts nach links und links nach rechts, so lange, bis es müde ist und ein Stündchen dösen kann. Headshaker schütteln so heftig mit dem Kopf, dass sie oft sogar unreitbar werden. Ständiges Zungenspiel, Holzkauen oder Scharren mit den Hufen gehören auch zum großen Kapitel der Verhaltensstörungen. Troxler: „Pferde brauchen Licht, Luft, soziale Kontakte und freie Bewegungsmöglichkeiten.“ Mit „freien Bewegungsmöglichkeiten“ meint er nicht, dass ein Pferd in eine Maschine gestellt und eine Stunde lang im Kreis geführt wird.
Oder dass es mit dem Reiter auf dem Rücken durch die Halle trabt. Jeden Tag ein paar Stunden Freiheit auf der Wiese, das ist laut dem Verhaltensexperten unerlässlich.  

Wie selbstverständlich gebrauchen Menschen Pferde als Reittiere. Das schafft weitere Probleme. Von Natur aus ist die Wirbelsäule des Pferdes so angelegt, dass sie das Eigengewicht samt Kopf und Rumpf tragen kann. 

Zusätzliches Gewicht zu transportieren bedeutet für ein untrainiertes Pferd, die Rückenmuskeln anzuspannen. Lang hält es das aber nicht aus. Die Wirbelsäule sackt durch wie eine Hängebrücke. Das Tier wuchtet das gesamte Gewicht des Reiters nun mit den Knochen. Pferde, die auf diese Art kaputtgeritten werden, sind schon in jungen Jahren ein Fall für den Gnadenhof, die Eutha-nasiespritze oder den Metzger. 

Tägliche Bewegung ist unabdingbar

Beim Reiten sind die Belastungen für das Tier erheblich. Messungen des Satteldrucks haben ergeben, dass sich das Gewicht des Reiters schon im Trab verdoppelt, im Galopp sogar verdreifacht. Doch es gibt einen Weg zum echten Teamwork: Feinfühliges, tägliches Training ist der Schlüssel zum Erfolg. Ein Reitpferd kann eben nicht bei schlechtem Wetter in seiner Box stehen wie ein Mountainbike in der Garage. Oder über den Sommer weggeräumt werden wie ein Paar Skier. Nur mit einem starken Gerüst aus kräftigen Muskeln und Bändern wird Reiten für das Pferd machbar. Einige anatomische Voraussetzungen dafür bringt es mit. So verläuft ein kräftiger Nackenstrang vom Hinterkopf den Hals entlang bis zum Widerrist. Dort folgt das Rückenband, das sich bis zum Becken zieht. Streckt das Pferd seinen Kopf nach vorn und die Nase in Richtung Boden, hebt sich der Rücken und das System wird stabil. Das Pferd läuft entspannt und schwungvoll vorwärts. So sollte es auch sein, wenn ein Mensch auf dem Rücken sitzt. Aber das hat mit hoher Reitkunst zu tun. In der Realität plumpsen massenweise unerfahrene Reiter mit dem Vielfachen ihres Gewichts in den Sattel. 

Christian Peham, Leiter der klinischen Arbeitsgruppe für Bewegungsanalytik an der Veterinärmedizinischen Uni Wien, hat Messungen gemacht und festgestellt: „Die Kraft, die auf ein Pferd einwirkt, ist bei einem schlechten Reiter dreimal höher als bei einem guten. Wir konnten im besseren Fall 600 Newton messen, im schlechteren 1.800.“ Oder anders formuliert: „Ein schlechter Reiter dürfte dreimal so schwer sein wie ein guter.“ Klare Ergebnisse, zu denen ein weiterer Faktor erschwerend hinzukommt: Bei einem schlechten Reiter verspannt sich der lange Rückenmuskel. Der Aufprall wird dadurch zusätzlich härter. 

Aber gutes Reiten ist keine einfache Sache. Es so zu -können, dass es dem Pferd nicht schadet, kann bei einem erwachsenen Anfänger Jahre dauern. Leider gilt vielfach ein Satz, den Peham halb scherzhaft, halb ernsthaft meint: „Die häufigste Erkrankung des Pferdes ist der Reiter.“