Kolibris

Fehlendes Gen ermöglicht einzigartigen Schwebeflug

Mag. Silvia Stefan-Gromen

Ein Team von Wissenschaftler*innen unter der Leitung von Michael Hiller, Professor für Vergleichende Genomik am LOEWE-Zentrum TBG und der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt, untersuchte in einer im Fachjournal „Science“ veröffentlichten genomischen Studie, welche evolutionären Anpassungen des Stoffwechsels die besonderen Flugkünste der Kolibris ermöglicht haben könnten. Während ihres einzigartigen Schwebeflugs schlagen die Flügel der winzigen Vögel bis zu achtzig Mal pro Sekunde – kein anderes Tier verbraucht bei der Fortbewegung derartig viel Energie, entsprechend läuft ihr Stoffwechsel auf Hochtouren und ist aktiver als bei jedem anderen Wirbeltier. Ihren hohen Energiebedarf decken Kolibris mit dem Zucker aus Blütennektar. Diesen nehmen sie besonders schnell auf; sie besitzen hochaktive Enzyme und können Fruktose ebenso effizient verstoffwechseln wie Glukose – anders als zum Beispiel Menschen.

Dem Zusammenhang, wie dies den Zellen der Flug­muskulatur zugutekommt, die den Schwebeflug der Koli­bris ermöglichen, sind die Forscher*innen nun auf die Spur gekommen. Für ihre Studie sequenzierten sie das Genom des Östlichen Langschwanz-Schattenkolibris (Phaethornis superciliosus) und verglichen dieses sowie die Genome weiterer Kolibriarten mit dem Erbgut von 45 anderen ­Vogelarten, darunter Hühnern, Tauben und Adlern. Dabei entdeckten sie, dass das Gen für das Muskel­enzym Fructose-­Bisphosphatase 2 – kurz: FBP2 – bei allen untersuchten Kolibris fehlte. Interessanterweise zeigten weiter­gehende Untersuchungen, dass es bereits im gemeinsamen Vorfahren aller Kolibris verloren ging, und zwar während eines Zeitraums, in dem sich der typische Schwebe­flug entwickelte und die vorrangige Ernährung der Kolibris mit Blütennektar begann – vor rund 48 bis 30 Millionen Jahren.

„Wir konnten mithilfe von Experimenten in Muskelzellen zeigen, dass das gezielte Ausschalten des FBP2-Gens den Zuckerstoffwechsel steigert. Weiterhin ergaben unsere Analysen, dass parallel dazu auch die Anzahl und die Aktivität der für die Energieproduktion wichtigen Mitochondrien steigen. All dies wurde bereits in Flugmuskeln von Kolibris beobachtet“, erläutert die Erstautorin der Studie, Dr. Ekaterina Osipova, derzeit Postdoktorandin an der amerikanischen Harvard University und zuvor Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut in Dresden sowie am LOEWE-Zentrum TBG in Frankfurt. „Da das Gen für FBP2 ausschließlich in Muskelzellen vorkommt, deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass der Verlust dieses Gens in den Vorfahren der Kolibris vermutlich einen wichtigen Schritt für Anpassungen des Muskelstoffwechsels darstellt, der für den Schwebeflug erforderlich ist“, ergänzt Studienleiter Michael Hiller.

Quelle: „Science“, 2023; doi: 10.1126/science.abn7050